MARCUS Das Lesben-Nest
Der Stich ins Lesben-Nest war ein Erfolg. Am letzten Dienstag spielte Londons St. Martins Theatre zum 500. Mal »The Killing of Sister George«.
Das Stück, in dem eine Dame Zigarren raucht und Mädchen küßt, lobten Londons Kritiker hoch - zum »besten Stück des Jahres« 1965. Es lief über Bühnen von Stockholm bis Prag, und unterm Titel »Schwester George
muß sterben« wird es das Vielliebchen der kommenden Saison: 18 deutschredende Bühnen haben es Rowohlts Theaterverlag schon abgenommen. Am 5. Oktober ist in Berlin Premiere, am gleichen Tag am Broadway.
Über die englische »Schwester« lernen die Deutschen ein Top-Talent und einen ihrer Emigranten 'kennen: Dramatiker Frank Marcus, 38, kam in Breslau zur Welt und wuchs in Berlin heran. Marcus: »Frank haben mich meine Eltern nach Wedekind genannt.« Denn Vater Marcus, ein Beamter in der Preußag, verehrte bürgerschreckende Stückeschreiber.
Das alte Berlin besitzt Marcus noch im Bild - eine Photographie, die ihn
an »Führers Geburtstag« 1939 mit Mutter und Schwester am beflaggten Kurfürstendamm zeigt. »Wir sehen darauf sehr heiter aus«, sagt der Ex-Berliner, »ich weiß nicht, warum.«
Denn wenig später floh die Marcus -Familie vor Hitlers Judenjägern nach England. Marcus ging - im Quäker-Internat Bunce Court - bei deutschen Emigranten in die Schule. Später bezog er eine Londoner Kunstschule und geriet in die Amateurtheater-Strömung.
Mit achtzehn rekrutierte er eine eigene Truppe ("International Theatre Group") und inszenierte Molière, Kleist, Tennessee Williams und ein »Menuett für ausgestopfte Vögel«. Autor Frank Marcus über seinen Erstling: »Eine Tragikomödie im Stil Tschechows.«
Daneben verkaufte der Künstler Pilsner Bier und schrieb Kritiken für Londoner Blätter - so die erste Analyse des französischen Pantomimen Marcel Marceau. Er entdeckte ihn im kleinen »Théâtre de Poche« auf dem Montparnasse: »Marceau saß selbst an der Kasse und verkaufte Karten.«
1954 setzte sich Marcus, inzwischen mit einer Schauspielerin verheiratet, auch an eine Kasse. In Londons Chancery Lane, nahe der Fleet Street, startete er einen Laden für Silberantiquitäten, aber neben Rechnungen schrieb bund übersetzte er weiter Theaterstücke.
Auf das »Unity Theatre«, eine Bühne der Linken, kam dann 1963 »The Man who Bought a Battlefield« - Marcus: »Ein Epos im Brecht-Stil.« Ein Lumpenhändler kauft ein Weltkrieg -II-Schlachtfeld samt Kriegsgerät und wird zum Millionär, als England wiederaufrüstet. Das Stück hatte 45 Personen, über 20 Bilder und lief nur ein Wochenende lang.
»Cleo«, ein Liebes-Reigen nach Art des Wiener Schnitzler, hielt länger. Die sechzehnjährige Heldin liebt sich durch Londons männlichen Querschnitt; von den Schwächlinger enttäuscht, verfäll sie schließlich den Monster eines Grusel films, das alle Wider stände grunzend bei seite schleudert.
Das jüngste Marcus-Stück war dann ganz unbemannt »The Killing of Sister George« findet unter vier Damen statt, von denen drei lesbisch sind und die vierte hellsieht. Die Komödie spielte im Sommer 1965 zum erstenmal und geriet in eine Saison, in der »praktisch alle neuer Stücke Londons vor sexuellen Abweichungen handelten« ("New York Herald Tribune").
So erschien die »Schwester« zusammen mit den Brüdern
eines Homosexuellen-Stücks - mit Osbornes »A Patriot for Me« (SPIEGEL 28/1965). Aber während Osbornes Herren-Partie dem Zensor mißfiel und nur vor Mitgliedern eines Club-Theaters gespielt werden konnte, passierte das Damen-Drama ungehindert die Kontrolle - weil das Wort »lesbisch« im Text nicht vorkam.
»Schwester George« heißt die Rolle, die eine alte Schauspielerin in einer Familienserie der BBC spricht - die Gemeindeschwester des nordenglischen Dorfes Applehurst. George, im Radio voll wahrer Nächstenliebe, ist privat eine Despotin, die Gin trinkt, Zigarren raucht und Nonnen nötigt. Tisch und Bett teilt sie mit einem blonden Mädchen, das strafweise Zigarrenstummel zu verzehren hat.
Weil das Privatleben das Samariter - Image trübt, muß Schwester George sterben - ein Sechstonner überrollt sie (in der Sendung). Die leitende Dame der BBC offeriert ihr als Ersatz den Part einer sprechenden Kuh und entführt ihr die blonde Bettschwester. George's letztes Wort: »Muh.« Regieanweisung: »herzzerreißend«.
Das grausame Spiel, in den »ersten sieben Achteln sehr spaßig, zum Schluß voll Melancholie« ("Financial Times"), hat Marcus für Deutschland leicht verändert: Schwester George stirbt jetzt fürs Fernsehen, weil der deutsche Hörfunk solche Serien kaum kennt.
Selbst übersetzt hat Marcus sein Stück jedoch nicht: »Es gibt neuerdings im Deutschen Wörter, die je gehört zu haben ich mich nicht entsinne.« Denn im November will er Deutschland, zum erstenmal seit 1939, wiedersehen.
Dramatiker Marcus
Muh gesagt
Marcus, Mutter, Schwester 1939 in Berlin: »Heiter, warum?«
Marcus-Stück »Killing of Sister George": Zigarren gegessen