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»Das Medium der Massen ernst nehmen«

aus DER SPIEGEL 6/1979

SPIEGEL Herr Rohrbach, nach dem Abschluß von »Holocaust« haben Sie erklärt, diese Serie sei nicht nur eine Lektion für das deutsche Volk gewesen, sondern auch für das deutsche Fernsehen. Soll jetzt bei uns en gros trivialisiert werden?

ROHRBACH: Ich glaube, daß Amerika uns mit »Holocaust« vorgemacht hat, was Massenkommunikation wirklich sein kann. Das deutsche Fernsehen bewegt sich doch in einem ähnlichen Umfeld wie Film, Theater, Kunst hierzulande: Es kommunizieren gebildete Bürger untereinander.

SPIEGEL: Über die Massen hinweg?

ROHRBACH: Ja, die meisten Sendungen, sofern sie einen gewissen Anspruch haben, also Inhalte vermitteln wollen, sind konzipiert von Intellektuellen und auf die Rezeptionsbereitschaft und -fähigkeit von Intellektuellen, zumindest aber einer gebildeten Oberschicht ausgerichtet.

SPIEGEL: Wurde das nicht bislang auch als eine Stärke des öffentlichrechtlichen Systems gepriesen?

ROHRBACH: Daß dies dort auch möglich war, ja. Dennoch haben uns die Amerikaner gezeigt, daß eine spezifisch andere Kultur mit einem anderen Stellenwert für die Kunst und einem ganz anderen Verhältnis zur Trivialität auch die Kommunikationsprozesse anders steuert.

SPIEGEL: Demnach hat »Holocaust« den bisherigen Kommunikationsprozeß bei uns auf den Kopf gestellt?

ROHRBACH: In gewisser Weise ja. Wir haben plötzlich gespürt, wie es ist, wenn ein Film, der unter den bei uns üblichen ästhetischen Kategorien kritisch gesehen und dann skandalisiert worden war, auf einmal von unten nach oben Bewegung auslöst, Betroffenheit und Erschütterung erregt und dann auch die Skeptiker und die Kritischen erfaßt.

SPIEGEL: Hat es Sie sehr überrascht, in welchem Ausmaß Ihre fachliche Entscheidung für »Holocaust« plötzlich politische Wirkung erhielt?

ROHRBACH: Wir haben unsere Arbeit im WDR immer unter dem Aspekt gesehen, mit allem möglichst weit in die Gesellschaft vorzudringen. Wir fühlten uns nie in einem Elfenbeinturm, in dem nur Kunstprodukte für Kunstsinnige hergestellt wurden.

SPIEGEL: Aber ein Erfolg wie mit »Holocaust« war Ihnen dennoch nie beschieden.

ROHRBACH: »Holocaust« war kein Erfolg im landläufigen Sinne. Hier trafen mehrere glückliche Momente zusammen: ein traumatisch besetztes Thema, ein optimaler Zeitpunkt -- weil eine neue Generation heranwächst, die unbefangen und neugierig ist -- und eine massensuggestive, von amerikanischer Unbekümmertheit geprägte Darstellungsweise.

SPIEGEL: Also sollte das deutsche Fernsehen jetzt nicht mehr nur amerikanische Produkte importieren, sondern auch amerikanische Unbekümmertheit?

ROHRBRCH: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Kluft zwischen Sendungen, die eine Elite für eine Elite herstellt, und den Programmen, die für die große Masse gemacht werden und die ja meist auch entsprechend lieblos ausfallen, überbrücken können. Wir müssen das Massenmedium Fernsehen als Medium für die Massen endlich ernst nehmen.

SPIEGEL: Nun haben Sie aber selbst zugegeben, daß wir Deutschen »Holocaust« so hätten gar nicht drehen können. Wer soll denn bei uns den Weg zu den Massen platt treten?

ROHRBACH: Zunächst wäre schon etwas gewonnen, wenn man bei uns aufhören würde, triviale Erzähl- und Darstellungsweisen an sich zu kriminalisieren. Wir sollten statt dessen den weitverbreiteten Hochmut gegenüber den amerikanischen Trivialprodukten kritisch reflektieren. Es ist doch ein seltsamer Vorgang, daß europäische Intellektuelle amerikanische Serien wie »Bonanza« oder »Kojak« einerseits mit Spott überschütten, andererseits fleißig konsumieren.

SPIEGEL: Sollen wir die »Shiloh Ranch« jetzt heiligsprechen?

ROHRBACH: Nein, diese Filme behalten ja ihre Fragwürdigkeit. Gleichzeitig sollten wir uns aber vor Augen halten, daß es den Amerikanern immer wieder gelingt, mit ihren Filmen den gesamten Weltmarkt zu erobern und dabei Geschichte, Lebensstil und nicht zuletzt auch die Ideologien ihres Lan-~ des weitaus besser zu verbreiten, als wir dies mit unserem spezifisch anderen Kulturbegriff können.

Unsere Fähigkeit, mit den Trivialformen auf eine vernünftige Weise umzugehen, zu der man auch öffentlich stehen kann, hängt ganz entscheidend davon ab, wie lange wir meinen, diese Formen noch verachten zu können.

SPIEGEL: Nun behandelte »Holocaust« ein Jahrhundert-Thema und traf in Deutschland auf ein Jahrhundert-Tabu. Glauben Sie wirklich, auch etwa Themen wie die Gastarbeiter-Not oder die Jugendarbeitslosigkeit trivialisiert unters Volk bringen zu können?

ROHRBACH: Sicher war »Holocaust« ein Sonderfall. Aber sein Thema ist ja auch schon früher im Fernsehen in durchaus wirksamer Spielform abgehandelt worden, stets ohne eine auch nur vergleichbare Resonanz. Es gibt also eine Koinzidenz von Thema und Behandlung dieses Themas. Deshalb bleibe ich dabei, daß wir für alle gesellschaftspolitisch wichtigen Themen Vermittlungsformen finden sollten, die die Massen erreichen.

SPIEGEL: Könnte es nicht sein, daß in Zukunft diffizile und differenzierte Programme in den Sendern abgeschmettert werden, nur weil sie den Massen-Appeal von »Holocaust« niemals erreichen können?

ROHRBACH: Diese Gefahr sehe ich nicht, weil man ein Kulturverständnis nicht plötzlich und willkürlich auf den Kopf stellen kann. Im übrigen wäre es ein fataler Trugschluß zu glauben, nur eine Elitekultur wäre fähig, differenzierte Kunstwerke hervorzubringen.

SPIEGEL: Dürfte nicht auch das alte Vorurteil, Triviales zu machen sei ein Kinderspiel, recht langlebig sein?

ROHRBACH: Bestimmt. In Deutschland klebt man an der Vorstellung, in den sogenannten avancierten Vermittlungsformen stecke die größere Anstrengung, und das Triviale könne mit der linken Hand gemacht werden. Genau das Gegenteil ist der Fall. Dies zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen, ist der notwendige Lernprozeß der nächsten Jahre.

SPIEGEL: Inwieweit glauben Sie als neuer Geschäftsführer der »Bavaria«, der größten bundesdeutschen Film- und Fernsehproduktion, diesen Prozeß steuern und fördern zu können?

ROHRBACH: Ich hatte von Anfang an bestimmte Vorstellungen von meiner neuen Arbeit, die in diese Richtung zielten. Aber ich gestehe gerne, daß meine Vorstellungen nach »Holocaust« noch einen ganz besonderen Schub erhalten haben.

SPIEGEL: Ist der Schub so kräftig, daß Sie beispielsweise den »Holocaust«-Regisseur Marvin Chomsky für die »Bavaria« verpflichten würden?

ROHRBACH: Das könnte ich mir denken. Aber lieber wäre mir noch ein Schmitz oder Meier, ein deutscher Chomsky also, der, ausgestattet mit einem unbestechlichen Gefühl für professionelle Qualität, aber ohne Hemmungen gegenüber trivialen Formen seine Filme drehen würde. In seinen besten Augenblicken hat Rainer Werner Fassbinder etwas davon. Ich denke, er wird nicht allein bleiben.

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