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Artikel 53 / 70

»DAS PROBLEM DES ERLAUBTEN RISIKOS«

Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 13/1967

Neunhundertzweiundsiebzig Seiten stark ist die Anklageschrift, die von der Staatsanwaltschaft Aachen am Montag vergangener Woche der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Aachen vorgelegt wurde. Sie richtet sich gegen neun Angeschuldigte und bietet 352 Zeugen sowie 29 Sachverständige auf. Sie stützt sich auf 218 Bände Haupt- und 32 Bände Beiakten. Der Walfisch unter den deutschen Strafsachen hat die offene See erreicht.

Neun Männer sind angeklagt wegen

> zunächst fahrlässiger,

> später vorsätzlicher Körperverletzung in bezug auf durch Contergan verursachte Nervenschäden Erwachsener,

> fahrlässiger Körperverletzung in bezug auf Schwangerschafts- und Fruchtschäden,

> fahrlässiger Tötung in bezug auf Kinder, die vor ihrer Geburt durch Contergan-Einnahme ihrer Mütter zum späteren Tode führende Schäden erlitten,

> wegen Vergehens gegen §§ 6. 8, 44 Abs. I und III des Arzneimittelgesetzes.

An die 5000 Fälle von Mißbildungen Neugeborener, für die Contergan verantwortlich sein soll, und mehr als 5000 Fälle von Nervenschäden, die Contergan zur Last gelegt werden, hat die Staatsanwaltschaft Aachen geprüft. Schon jetzt haben sich etwa 400 Nebenkläger, auch aus dem Ausland, für den Prozeß angemeldet.

Die Pressekonferenz, auf der Aachens Leitender Oberstaatsanwalt Gierlich am Dienstag vergangener Woche, mehr als fünf Jahre nach Beginn der Ermittlungen, die Anklageerhebung bekanntgab, war fair. Die Öffentlichkeit wurde unterrichtet, mehr nicht. Vertreter des Contergan-Herstellers, der Chemie Grünenthal, waren in gleicher Weise ausgeschlossen wie Vertreter der Verbände, in denen sich »Contergan-Geschädigte« zusammengetan haben. Es wurde aber nichts gesagt, was die Ohren der Geschädigten beziehungsweise der Angeschuldigten zu scheuen hatte.

Die Staatsanwaltschaft Aachen ist, wie von Oberstaatsanwalt Gierlich und Sachbearbeiter Staatsanwalt Havertz zu erfahren war, der Ansicht, daß der Contergan-Prozeß -- an seiner Eröffnung durch die Strafkammer in etwa einem Jahr wird nicht gezweifelt -- kein Gutachterprozeß ist; daß Urkunden und nicht Zeugen entscheidend sein dürften; und daß es um einen Einzelfall und keineswegs darum geht, die gesamte pharmazeutische Industrie in Gestalt von sieben weiterhin und zwei ehemals für die Chemie Grünenthal tätigen Männern anzuklagen.

Staatsanwalt Havertz betonte während der Pressekonferenz, man habe selbstverständlich, gemäß Paragraph 160 Absatz II der Strafprozeßordnung, »nicht nur die zur Belastung, sondern

* Die Karte zeigt -- unvollständig -- die Verteilung der vermutlich durch Contergan verursachten Mißbildungsfälle in der Bundesrepublik.

auch die zur Entlastung dienenden Umstände« ermittelt. Doch sei das Ergebnis jedenfalls insoweit negativ gewesen, als nun Anklage erhoben werde. Das soll nicht bezweifelt werden, doch gerade hier ist unsere Staatsanwaltschaft ihrer Stellung nach in einer fatalen Lage. Eine objektive Behörde hat sie zu sein, aber unumgänglich wird sie schon in der Vorbereitung des Verfahrens auch zur Prozeßpartei.

Sie entscheidet also zum Beispiel, daß etwas nicht entlastend ist. Doch das Gericht kann später -- ganz oder teilweise -- im Gegensatz zur Anklage sehr wohl Entlastendes erkennen. Entlastendes kann in der Sache Contergan durchaus von den Gutachtern und den Zeugen kommen.

An der Überzeugung der Staatsanwaltschaft Aachen soll nicht Kritik geübt werden. Ohne die Überzeugung vom Gewicht ihres Ermittlungsergebnisses hätte sie nicht -- oder nicht derart -- anklagen dürfen. Doch wird Band 162 der Prozeßakten keine geringe Rolle spielen. Die Aufschrift auf diesem Aktenordner Marke Bonna Press lautet: »Thalidomid neg.-Fälle. a) Mißbildungsfälle ohne Thalidomid-Einnahme. b) Einzelfälle -- gesundes Kind, aber Thalidomid-Einnahme.«

Hat jede Mutter, die in einer bestimmten Phase der Schwangerschaft das Thalidomid-Medikament Contergan einnahm, ein in typischer Weise mißgebildetes Kind zur Welt gebracht? Gibt es Mütter, die Kinder mit vermutlich Thalidomid-typischer Mißbildung zur Welt brachten, ohne Contergan genommen zu haben?

Nicht die pharmazeutische Industrie wird auf der Anklagebank sitzen, nicht die sonst durchaus renommierte Chemie Grünenthal, der Contergan-Hersteller, sondern neun nach wie vor oder ehemals für die Chemie Grünenthal tätige Männer: Es geht dennoch auch um die pharmazeutische Industrie. Oberstaatsanwalt Gierlich räumte ein, es werde auch um »das Problem des erlaubten Risikos« gehen. Dieses Problem ist ein Problem der pharmazeutischen Industrie.

In der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« vom 26. August 1966 zum Beispiel war zu lesen: »Die Zahl der tödlichen Zwischenfälle auf dem Boden einer Penicillin-Allergie wird in den Vereinigten Staaten auf jährlich 300 geschätzt.«

Es muß nicht nur um des rechtsstaatlichen Grundsatzes willen, nach dem niemand vor einer rechtskräftigen Verurteilung als schuldig angesehen werden darf, vor Vor-Urteilen gewarnt werden. Es ist angeklagt worden. Es wird verhandelt werden. Gegen die Entscheidung wird es Rechtsmittel geben. Es ist, auf Jahre hinaus, noch nichts entschieden.

Ceterum censeo (SPIEGEL 53/1966): Es gibt ein mieses, unerträgliches Warten auf die Justiz. Nichts ist in Sicht, auch nach Anklageerhebung in der Sache Contergan nicht, was der Öffentlichkeit die Sorge um die behinderten Kinder der Bundesrepublik abnehmen könnte. Die Stiftung für das behinderte Kind, seit Monaten hinter den Kulissen als nun endlich vor der Verkündung stehend avisiert, ist noch immer nicht ausgerufen worden.

Die sogenannten Contergan-Kinder und die rund 200 000 körperlich und geistig behinderten Kinder in der Bundesrepublik, auf die wir durch die Contergan-Kinder aufmerksam geworden sind, brauchen dringend mehr Hilfe, als der Staat sie gibt und selbst bei größerer Anspannung geben könnte.

Wir haben noch immer keinen Ombudsmann für die Eltern körperlich oder geistig behinderter Kinder. Die Justiz, die nicht die politische Vergangenheit für die Deutschen bewältigen kann, ist auch nicht der Büttel, an den Verpflichtungen der mitmenschlichen Solidarität delegiert werden dürfen.

Herr Hering, Heidelberg, derzeit Vorsitzender des Bundesverbandes der Eltern körpergeschädigter Kinder, sprach am Dienstag vergangener Woche im 2. Programm des WDR nur wenige Sätze zur Anklageerhebung in der Sache Contergan. Dann war er schon mitten in aktueller, drängendster Not:

»Zunächst einmal geht es uns darum, das Schulproblem gelöst zu wissen. Wir haben eigentlich eine Minute vor zwölf ... Es ist nicht so, wie die Öffentlichkeit oft annimmt, daß wir glauben, daß der Prozeß den Kindern die absolute Erleichterung oder Hilfe bringen wird, sondern wir alle sind aufgerufen, zu helfen und den Kindern zu helfen, sich einzugliedern.«

Wo bleibt die Stiftung für das behinderte Kind, der Aufruf zu einer nationalen Anstrengung, die dem Land nicht unmöglich sein sollte, das sich so schnell zur Finanzierung der Olympischen Spiele 1972 entschloß?

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