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Das schöne Gefühl

Von Willi Winkler
aus DER SPIEGEL 34/1990

Grovers Erfindung, das ist eine winzige Kamera, so klein, daß sie »direkt am Auge« befestigt werden kann, so unscheinbar, daß sie heimlich fotografieren kann und »automatisch alles aufnimmt, was man sieht«. Nichts entgeht ihr, »alles ist von vorne bis hinten scharf«.

Grover ist eine Erfindung des neunjährigen Andreas. Grover lebt im Urwald und braucht keinen Menschen um sich. Andreas hat diesen Roman in mehreren Fortsetzungen geschrieben. In der Schule durfte er daraus vorlesen, und abends auf der Bettkante vorm Einschlafen seinen Brüdern und seinem Vater.

Mit 30 hat Andreas, der inzwischen Andreas Mand heißt, Grover wiedergefunden und den Fortsetzungsroman, den er mit 9 begonnen hatte, zu Ende geschrieben. Anders als Grover braucht Andreas Menschen um sich. Er hat drei Brüder und eine Schwester, sein Vater ist Gemeindepastor. Aber in der Hauptsache handelt der Roman doch von ihm, von Andreas, und davon, wie es war zwischen sieben und zwölf, zwischen dem Sechstagekrieg und der Wiederwahl von Willy Brandt.

Der Roman »Grovers Erfindung« gehört zu den merkwürdigsten Neuerscheinungen dieses Sommers**. Vor acht Jahren ** Andreas Mand: »Grovers Erfindung«. Maro- _(Verlag, Augsburg; 212 Seiten; 22 Mark. * ) _(Vor der Erlöser-Kirche in Krefeld, in ) _(der sein Vater als Pastor arbeitete. ) erregte Andreas Mand schon einmal beträchtliches Aufsehen, als er, passend zum Klassen-Kampf zwischen Punk und New Wave, mit seinem Debütroman »Haut ab« das Unbehagen der Null-Bock-Generation schilderte. Danach gab es noch ein vage experimentelles Buch, und Mand verschwand in der Versenkung. Er hat inzwischen das übliche geisteswissenschaftliche Studium absolviert und lebt heute, wie für den akademischen Nachwuchs üblich, von der Arbeitslosenhilfe.

Das klassische Autorenschicksal. Der ersehnte Bestsellerruhm trifft die wenigsten, und es sind immer die gleichen. Für einen Bestseller ist Mands Buch zu ungewöhnlich, ein Kinderbuch ist es allerdings auch nicht: Es handelt von der Generation der heute 30jährigen, die 1968 nur als täglichen Schrecken in der Tagesschau vorgeführt bekamen.

Grovers unsichtbares Kameraauge bewährt sich dabei als höchst nützliche und sinnvolle Erfindung. Vom Brüllen des Vaters bis zur morgendlichen Waschordnung entgeht ihm nichts, alles ist gleich scharf konturiert. Der Junge im Buch weiß noch nicht, wie ihm geschieht. Naiv, oft auch schlaumeierhaft sammelt er Lebensweisheiten, Verhaltensmaßregeln, Gesundheitstips. Noch fehlt ihm der rechte Begriff, aber aus seiner Untersicht ahnt er, wie es zugeht in der Welt.

»Einen Krieg habe ich inzwischen auch schon miterlebt, aber zum Glück nur im Ausland. Er war in Israel, wo jetzt die restlichen Juden sind. Papa ist sofort in den Aldi gerast und hat die ganzen Regale voller Reis gekauft . . . Nachher kam aber doch kein Krieg, und wir mußten den ganzen Reis so essen.«

Das Leben mit acht, zehn, zwölf kreist um die Schule, und das heißt Lehrer und Klassensprecher sein und sich anstrengen beim Turnen, um einem Freund zu imponieren, und die richtigen Anziehsachen haben. Der Junge registriert mit kindlicher Kaltherzigkeit ("Bevor ich der Beste wurde, war ich lediglich Zweitbester"), wie Mitschüler weggemendelt und zurück in die Hauptschule geschickt werden.

Das Kind ist nicht mehr ganz Kind, aber noch ohne Erkenntnis, begriffsstutzig und altklug zugleich, der Einserschüler ein verschämter Pubertant. Da ist es auch schon, das »schöne Gefühl«, das einem erst nur zufällig passiert, das man aber schon bald selber erzeugen kann.

In seinem ersten Buch »Haut ab« läßt Mand die Hauptfigur, einen 18jährigen Schüler, auf der wildentschlossenen Suche nach Action den Bahnsteig entlanggehen. Dort paßt er »auf, was passiert: nichts«. In »Grovers Erfindung« passiert wieder nichts und doch sehr viel mehr.

Denn welcher deutschsprachige Roman beweist schon soviel Sachkenntnis, bringt so viele so genau recherchierte Details, wie man das sonst nur von den amerikanischen Großmeistern kennt? Vom Gummitwist und der Hackordnung bei der täglichen Busfahrt zur Schule bis zum Religionskrieg zwischen Geha und Pelikan hat Mand nichts von dem übersehen, was einmal lebenswichtig war.

Über Mands Kinderwelt liegt eine grausame Ironie: Nichts davon ist mehr wahr, nicht nur weil es vergangen ist, sondern weil sich keiner seiner Träume erfüllt hat; wie Grover schreibt sich Andreas Mand einen Helden, der ihm denkbar fern sein muß. Aber wie er das allein über die Sprache schafft, ist ohne Vergleich bei seinen Kollegen. »Als die Israelis bei den Olympischen Spielen dran glauben mußten, haben wir auch frei gekriegt. Das heißt, erst mußten wir diskutieren, ob es gut oder schlecht ist, dann nach Hause gehen zum Nachdenken. Also im Prinzip dasselbe.« Bis in die Syntax ist die neunmalkluge Kindersprache nachgebildet, das Buch scheint keinen erwachsenen Autor zu haben.

Ein wenig bescheidener, weniger narzißtisch und kämpferisch, betreibt Andreas Mand ähnlich wie Bernward Vesper in der »Reise« (1977 postum erschienen) seine private Geschichtsschreibung. Wie Vesper sich in Erinnerungsbildchen an seinen Vater heranarbeitet, will auch der Junge in »Grovers Erfindung« an den alttestamentarisch-unnahbaren Vater heran. Er schreibt damit die Geschichte einer weiteren Generation, die im Windschatten der 68er hochkam.

»Als Erwachsener ist es ein schönes Elend«, sagt ihm die Mutter. Die Erwachsenen sind anders, sie haben »Schlüsselbünde und Brieftaschen statt Portemonnaies. Sie haben eiskalte Schlafzimmer voller Mäntel und Angst um ihre Möbel und blöden Töpfe. Wenn sie sich zu einem runterbeugen, stinkt ihr Atem. Im Bus haben sie Schwitzflecken. Der Gürtel schneidet in ihren wabbeligen Bauch«.

»Grovers Erfindung« ist keine Reise in eine besonnte Kindheit, sondern eine Rückkehr in das Kindsein, in die Naivität der Welteroberung: »Wenn ich dran bin, werde ich alles einfacher machen.«

** Andreas Mand: »Grovers Erfindung«. Maro-Verlag, Augsburg; 212Seiten; 22 Mark. * Vor der Erlöser-Kirche in Krefeld, in der seinVater als Pastor arbeitete.

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