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Das schöne, teuflische Weib Leben

SPIEGEL-Redakteurin Annette Meyhöfer über Leben und Werk Joseph Roths
aus DER SPIEGEL 23/1989

Das Hotel liegt neben der Post. Es ist ein kleines Hotel, das niedrigste Gebäude der Rue de Tournon, eine Erinnerung an die Provinz, zwischen dem Jardin du Luxembourg und Strehlers Theatre de l'Europe, mit einem Cafe im Parterre, mit Fenstern, die blind geworden sind von der Zeit, und Gardinen, grau in der Sonne: ein Hotel im Exil.

Andreas, der Trinker, könnte, berauscht vom Pastis und von den Wundern, die ihm begegnet sind, die schmale Treppe hinaufgestiegen sein, vom Cafe in das Mansardenzimmer, in das nur eine Luke Licht läßt und das von dem breiten Bett fast ganz ausgefüllt ist. Jetzt ist das Cafe geschlossen, Stühle türmen sich rittlings auf den einbeinigen Tischen, Plakate feiern, blauweißrot, den 200. Geburtstag der Revolution. Ein metallenes Schild zwischen den Fenstern des zweiten Stocks erinnert an den Autor der »Legende vom heiligen Trinker«, der hier von 1937 bis 1939 gewohnt hat, Joseph Roth. Die Tafel ist eine Hommage seiner Freunde. Man muß den Kopf heben und ein paar Schritte zurücktreten, um sie zu erkennen.

»Ich erhalte die - sehr bescheidene - Rechnung des - kümmerlichen - Hotels, in dem ich mehr Kredit genieße als Behaglichkeit. Ich halte die Rechnung des Hotels neben die Abrechnung des Verlegers. Der Vergleich veranlaßt mich, einen Ausschnitt aus diesem Tagebuch zu veröffentlichen. Über das ,Thema' eines ,Artikels' nachzudenken, bin ich nicht mehr imstande. Ich reiße ein paar Seiten aus meinem Tagebuch und schicke sie ab wie eine Flaschenpost . . .« 1937, als diese Zeilen in der Pariser Emigranten-Zeitung »Das Neue Tage-Buch« erschienen, war Roth ein todkranker Mann.

Ein Greis von 44 Jahren, so beschreibt ihn Walter Mehring, ein »ungetaufter Konvertit, der von seinem Judentum nicht loskommt, ein eingefleischter Reaktionär, der wie ein Jakobiner höhnt, ein verschlampter, rücksichtslos boshafter Eremit, der um jedes weibliche Wesen wie ein k. u. k. österreichisch-ungarischer Oberleutnant herumscharwenzelt (ohne es je gewesen zu sein)«, einer, der »in den Orden der Trunkenbolde eingetreten war, um den Versuchungen der Nüchternheit zu entgehen«.

Im Kino am Montparnasse läuft, seit Wochen schon, Ermanno Olmis Verfilmung der »Legende vom heiligen Trinker«, preisgekröntes Alkoholiker-Melodram mit Rutger Hauer ("Blade Runner") in der Rolle des Clochards Andreas. Vom Regisseur geht die Legende, er sei, durch den Film, von einer tödlichen Nervenkrankheit geheilt worden: als dürfe das Märchen von Schnaps, Schmerz und Poesie niemals enden, das sich, einer dichten Staubschicht gleich, über Roths Leben und Werk legt.

Roth war nie ein Unbekannter, auch nie aktuell, ein Autor für die Sentimentalen, weil er Gefühl unter Preis versprach. Als Chronist einer untergehenden Welt ist er berühmt geworden, bekannt vor allem als Trinker und begraben unter Legenden, den selbstgeschaffenen und denen der Nachwelt. Die seine Romane, Totenreden auf die k. u. k. Monarchie, sentimentale Geschichten von kleinen Leuten, nicht liebten, hielten sich an seine Feuilletons. Die seine Stoffe für abgeschmackt befanden, schätzten seinen Stil, den Rhythmus seiner Prosa, der manchmal einlullt, öfter berauscht, viel kopiert wurde.

Die meisten seiner Romane sind verfilmt, soeben hat Bernhard Wicki, der mit dem »Falschen Gewicht« einen der schönsten Roth-Filme gemacht hat, das »Spinnennetz« gedreht. Roths Werk liegt in Taschenbüchern vor, die vierbändige Gesamtausgabe, von dem Freund Hermann Kesten herausgegeben, ist lange vergriffen, die ersten beiden Bände der neuen, um zwei Bände umfangreicheren Ausgabe des Kiepenheuer & Witsch-Verlags kommen in diesem Monat heraus, zum 50. Todesjahr des Autors. Das journalistische Werk steht darin gleichberechtigt neben dem erzählerischen, chronologisch geordnet, kommentiert und nicht mehr durch Genregrenzen neutralisiert; die Textlage der Romane und Erzählungen wird dokumentiert, und auch eine bisher unbekannte Erzählung, »Das Kartell«, ist abgedruckt.

Die neue Werkausgabe schließt die Lücken, die David Bronsens monumentale Biographie des »Mythomanen« Roth gelassen hat. Die Entwicklung vom Tagesschreiber zum Romancier, vom unsicheren Anfänger zum Autor, der geschickt mit Versatzstücken zu hantieren wußte, wird in den sechs Bänden nachzulesen sein und auch die Wandlung des »roten Joseph«, der im »Vorwärts« Polemiken gegen rechts schrieb, zum Legitimisten, der in Paris von der Wiedererrichtung der österreichischen Monarchie träumte und Otto von Habsburg seinen Kaiser nannte.

Auch die Wahrheit ist eine Legende, die unbarmherzigste vielleicht. Sie begräbt unter Fakten den Lebensironiker Roth, der wußte, daß Identität eine Fiktion und das Leben ein Spiel ist, zu spielen aus Lust und aus Not. An diesen »modernen« Roth erinnert jetzt ein Buch von Wolfgang Müller-Funk, ein erhellender Essay über einen Autor, dem sich die Grenzen von Schwindel und Wirklichkeit immer wieder verwischen*.

1925 kommt Roth zum erstenmal nach Paris, im Auftrag der »Frankfurter Zeitung«. Er hat drei Romane geschrieben und mehrere hundert Feuilletons. Aus Deutschland ist er geflohen wegen der Wahl Hindenburgs. So will es die Legende. In Wirklichkeit war die Reise seit langem geplant. Das Reisen war seine Lebensform.

Er war ein »Hotelpatriot« und liebte das Hotel »wie ein Vaterland«, den Englischen Hof in Frankfurt, das Hotel Zoo in Berlin, das Foyot in Paris. Das Hotel war Heimat, befreit von Enge. Man kann doch nur im Hotel wohnen, hatte Roth in »Hotel Savoy«, seinem zweiten Roman, geschrieben. Man durfte nicht zu lange bleiben, um nicht »des großen Glücks unwürdig« zu werden, »ein Fremder zu sein«. Man konnte ankommen mit einem Hemd und das Hotel verlassen als Gebieter von 20 Koffern und immer noch derselbe sein. Man konnte aber auch sein »altes Leben abstreifen« wie ein Hemd.

In Paris feiert man den Jahrestag der Revolution, den 14. Juli, man freut sich über eine »Revolution, die schon so lange zurückliegt, daß man ein Historiker sein muß, um ihre lebendigen Folgen heute noch und überall wahrzunehmen«; man tanzt in den Straßen, und auf den Schultern der Väter jubeln die Kinder, »diese Kinder, die niemals aufhören werden, Republikaner zu sein, auch wenn sie einmal Opfer der Politik werden müßten. Denn sie haben in einem Alter, in dem ein Feuerwerk erhaben erscheint, den fernen, aber verwandten Glanz einer Flamme gesehen, die Revolution heißt«.

Deutschland ist fern, »Preußen, Stiefel, Knopf, norddeutsche Instinktlosigkeit«, Paris ist die »Hauptstadt der Welt«. Die »Frankfurter Zeitung« druckt nur drei seiner Feuilletons, nicht das über die Revolution. Roth reist in den Süden, in die »weißen Städte«, von denen er geträumt hat in seiner Kindheit, in Brody, der »grauen Stadt«, an der Grenze zwischen Rußland und Österreich. Einen »Franzosen aus dem Osten« nennt er sich, er schwärmt von der römischen Vergangenheit des Südens, und er klagt über die Wirkungslosigkeit seiner journalistischen Arbeiten. Wie ein Missionar fühle er sich, der Lateinisch zu den Heiden rede; vergebliches Bemühen, sie zu bekehren. Er ist krank, »Trinkerleber, wächst bis zum Herz«.

Er wurde am 2. September 1894 in Galizien geboren, seine Mutter war die Tochter eines jüdischen Tuchhändlers, den Vater hat er nie gekannt. Er hat diesen Nachum Roth, der geisteskrank war und in einer Heilanstalt oder bei einem Wunderrabbi verschollen ist, später mythisiert zum Eisenbahnbeamten, zum Kunstmaler oder österreichischen Offizier. 1913 ging Roth nach Wien, studierte Germanistik, schrieb Gedichte und eine Erzählung, »Der Vorzugsschüler«. 1916 meldete er sich freiwillig zum Militär. Während seiner Einjährigen-Ausbildung stirbt der Kaiser Franz Joseph, und Roth sieht, in einer feldgrauen Uniform, dem Begräbnis zu, ergriffen von der Nähe des Todes und von der Sinnlosigkeit des Krieges und der Monarchie.

Er kommt zum Pressedienst, schickt nebenbei Artikel an die pazifistische Wiener Wochenzeitung »Der Friede«, deren literarischer Redakteur Alfred Polgar ist. Nach dem Krieg wird er Mitarbeiter des liberalen »Neuen Tags«, schreibt über die verelendete Stadt, »Wiener Symptome«, über das Praterkino, den Schnürsenkelverkäufer auf Prothesen und über die Aufstände im Burgenland: »Hand in Hand mit dem Militarismus rasselt der Monarchismus durchs Land.« 1920 wird der »Neue Tag« eingestellt. Roth geht nach Berlin.

Er sei, behauptete er später, Journalist geworden aus Verzweiflung und aus Geldnot: ein junger Mann mit »einer großen Sehnsucht im Herzen und nicht einer Münze in der Tasche«, verliebt in das Leben, das »schöne, teuflische Weib«. Und er wollte kein abgewiesener Liebhaber sein. Aber der Krieg hatte ihn, wie seine ganze Generation, die zur »verlorenen« verkitscht wurde, um das Leben betrogen.

Die aus dem Krieg zurücckamen, waren »auferstandene Tote«, wie die Helden seiner Romane, Franz Tunda in der »Flucht ohne Ende«, Franz Ferdinand Trotta in der »Kapuzinergruft«, und ihr Lebensgefühl war in der Tat das eines ungeheuren Verlusts: »Wir haben die Relativität der Nomenklatur und selbst die der Dinge erlebt. In einer einzigen Minute, die uns vom Tode trennte, brachen wir mit der ganzen Tradition, mit der Sprache, der Wissenschaft, der Literatur, der Kunst: mit dem ganzen Kulturbewußtsein. In einer einzigen Minute wußten wir mehr von der Wahrheit als alle Wahrheitssucher der Welt . . . Wir haben die Skepsis der metaphysischen Weisheit.«

Der Krieg, der eine Welt zerstört hatte, hatte auch die Idee von einer Welt zerstört, in der es noch Sicherheit geben könnte. Diese Idee war stets ein Wahn gewesen, doch nach ihrer Zerstörung wurde sie eine um so zählebigere Illusion. Sie schärfte den Blick für die Gegenwart und das Leiden an ihr.

Berlin ist eine Stadt »außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas«, eine Stadt ohne eigene Kultur, ohne Religion und mit den häßlichsten Gotteshäusern der Welt, eine Stadt ohne Gesellschaft, aber Berlin hat »alles, was überall in anderen Städten erst durch die Gesellschaft entsteht: Theater, Kunst, Börse, Handel, Kino, Untergrundbahn«. Roth schreibt Filmkritiken für die »Neue Berliner Zeitung«; er haßt das Kino, die Welt der Hochstapler und Jobber, die der wirklichen Welt Konkurrenz machten, weil sie diese für »eine geschäftliche Niederlage Gottes« hielten.

Er wechselt zum »Berliner Börsen-Courier«, schreibt Feuilletons, ironische Alltagsgeschichten über die Schaffnerin und den Souffleur, über den »Reigen«-Prozeß und die »Girls«. Er berichtet über den polnisch-russischen Krieg und über den Prozeß gegen die Rathenau-Mörder. Über die Weimarer Republik hat er sich nie Illusionen gemacht, die Deutschen verwechselten 1918 Kaiserlosigkeit mit Demokratie. »Ich leugne die Wirklichkeit des Hitler-Prozesses«, schreibt er 1924 in seinem »Geträumten Wochenbericht« im »Vorwärts«, und in der Nachfolge Heines: »Ich träume einen Fastnachtstraum, und der heißt: Deutschland.«

Er kündigt dem »Börsen-Courier«, weil er nicht länger ein »Sonntagsplauderer« sein will, »der seinen Sozialismus täglich verleugnen« muß. Man zahlt ihm mehr, er bleibt. Er konnte sich zugute halten, daß er manches deutlicher erfaßt und vorausgeahnt hatte. Die letzte Folge seines ersten Romans, »Das Spinnennetz«, Darstellung rechtsradikaler Machenschaften, erschien in der Wiener »Arbeiterzeitung« drei Tage vor Hitlers Putschversuch.

Aber wie alle Radikalen war Roth im Grunde unpolitisch. Sein Sozialismus nährte sich von vager Kulturkritik im Stil der Wiener Jahrhundertwende und der Illusion dessen, der an sich selber leidet und darum die Welt verändern will. Sein Problem war, daß er zuviel Phantasie hatte und einen zu kalten Verstand. Die Haut war zu dünn. Er war offen für alles, und alles wurde ihm persönlich. Ein Romantiker war er, einer, dessen Pubertät mit Gedichten begann und endete, keiner, der »durch Fußball, Skilauf und Boxen geschlechtsreif wird«, ein Spaziergänger, dem »die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden« fehlte, ein Revolutionär ohne Ziel.

Die Politik war ein Versuch, noch einmal, unter einer irgendwie sinnvoll erscheinenden Idee, zusammenzudenken, was längst ohne Zusammenhang war. Die Welt zerfiel ihm in Teile, und vielleicht war das »Diminutiv der Teile« eindrucksvoller als die »Monumentalität des Ganzen«. Der Alkohol war eine Berufskrankheit, aber der Rausch wollte sich nicht einstellen, er war zu nüchtern, trotz des Schnapses.

Er liebte die Einsamkeit in der Menge und sich selbst in der Rolle des Bohemiens, der, einer romantischen Idee und einem Bedürfnis folgend, seine Feuilletons und Romane in Cafehäusern schrieb, umgeben von seinen Jüngern. Er kleidete sich wie ein österreichischer Offizier, mit enggeschnittenen Hosen, und er liebte die kleinen Leute. Aber er dachte mitleidlos. Einen »Kollektivbrödler« nannte er Walter Benjamin.

Roths Helden, Benjamin Lenz, Gabriel Dan, sind Einsame, auf der Suche nach Orientierung, die doch nirgends zu finden ist, Rebellen ohne Sache. Die Welt ist ihnen feindlich, sie gehorcht einem undurchschaubaren Gesetz. Aber sie sind begierig nach den Abenteuern der Moderne. Der Schriftsteller müsse aktuell sein, hatte Roth den Verächtern des Tagesjournalismus entgegengehalten.

Den roten Faden, unabdingliches Handwerksutensil des Romanciers, fand er selten, seine frühen Romane sind erweiterte Feuilletons, manchmal mühsam zusammengestrickt. Seine Feuilletons aber halten, wunderbar leicht und genau, eine flüchtige Welt fest. Das Persönliche darin ist die Stimmung. Sie drückt sich aus im Stil, den Reihungen, dem andrängenden Rhythmus, der Ironie, Sprache derer, die die Fähigkeit zu handeln verloren haben. Aber Roth wußte auch, wie Stimmung herzustellen war, und seine Verleger, ihrer Klientel gewiß, mahnten ihn: »Roth, Sie müssen noch trauriger werden.« Hinter der Ironie des Gewohnheitstrinkers lauerte schon das larmoyante Pathos des Alkoholikers.

Er wäre 1925 gerne in Paris geblieben, das er liebte und eine Heimat genannt hätte, wäre er nicht zu ehrlich. Statt seiner wird 1926 Friedrich Sieburg Korrespondent der »Frankfurter Zeitung«, mit dem er sich nicht versteht, den er später als Nazi verachtet. Roth will nach Rußland reisen, um seinen Ruf zu retten und aus Sehnsucht nach der Einfachheit und Naivität des Ostens. In den Monaten vor der Reise schreibt er seinen schönsten Essay, »Juden auf Wanderschaft«.

Rußland ist eine Enttäuschung für den Gefühlssozialisten. Er bewundert das Land, das aus eigener Kraft, »mit mehr Ekstase als Material«, Zeitungen druckt, Bücher schreibt, Maschinen baut und Fabriken, nachdem kaum noch die Toten bestattet sind. Aber er findet darin die gleiche verachtete Betriebsamkeit und Fortschrittsgläubigkeit wie im Westen: »Rußland geht nach Amerika.«

Der Roman »Die Flucht ohne Ende«, den er nach seiner Rückkehr, 1927, schreibt, ist eine Bilanz, ein Panorama Europas zwischen »spießproletarischer« Rührigkeit im Osten und modischer Dekadenz im Westen, eine Sammlung kulturpessimistischer Feuilletons im Grunde. Romanhaft verknüpft werden diese durch die Geschichte des Franz Tunda, der 1916 in Sibirien in Gefangenschaft gerät, in der Roten Armee kämpft, nach Wien zurückkehrt, weil er seine Verlobte wiedersehen will, und der Angebeteten nach Paris folgt: ein Szenario aus Roths Privatmythologie.

»Es handelt sich nicht mehr darum zu dichten. Das Wichtigste ist das Beobachtete«, schreibt er, im Ton und Diktum der Neuen Sachlichkeit, im Vorwort. Aber die Objektivität ist ein Tribut an die literarische Mode, in Wahrheit ergreift er Position gegen die Moderne.

Das Paris des Franz Tunda in der »Flucht ohne Ende« ist eine Stadt der Nichtstuer und Mannequins, der Reichen, die Golf spielen, Wohltätigkeitsvereinen angehören und manchmal ein gutes Herz haben und ein klein wenig Verachtung für die Empfänger ihrer Wohltaten; Stadt der Männer von Bedeutung, mit den gut erhaltenen Gesichtern und sorgfältig gepflegten Bärten, »in denen man noch die Zähne der Kämme sehen konnte«; Stadt der Frauen, die, wenn sie »des Morgens die Straßen betreten, die Nacht vergessen zu haben scheinen« und, »frische neue Schminke auf Lippen und Wangen«, aussehen, »als gingen sie ins Theater«, derweil sie doch »in einen klaren, nüchternen Tag gehen, mit klaren, nüchternen Augen, mit starken Beinen, auf sicheren Füßen, die zu wissen scheinen, wie man Pflastersteine behandelt«.

Tunda hatte den Eindruck, »daß sie niemals Absätze und Sohlen verbrauchen«. Tunda, ein junger starker Mann von allerhand Talenten, kam sich in Paris so »überflüssig vor wie niemand in der Welt«. Der Glanz des Revolutionsfeuerwerks ist matt geworden, die Abenteuer der Moderne sind zu Ende. Roth schreibt den Roman »Zipper und sein Vater«, eine präzise und kalte Studie des Kleinbürgertums, er reist im Auftrag der »Frankfurter Zeitung« nach Albanien, durch Polen, durch Italien, durch das Saargebiet. Er muß Geld verdienen, für die Behandlung seiner Frau Friedl, die er 1922 geheiratet hat. Friedl ist geisteskrank geworden, Schizophrenie lautet die Diagnose, sie wird in eine Klinik im Berliner Westend eingewiesen, 1930 bringt er sie nach Österreich. 1940 wurde sie von den Nazis umgebracht.

Roth leidet unter Schuldgefühlen, seine Trunksucht ist inzwischen unheilbar, er hat sein Leben dem Alkohol verpfändet, um Zeit zu gewinnen zum Schreiben. Und er schreibt 1929 sein erfolgreichstes Buch, den »Hiob«. In mehrere Sprachen wird die Geschichte des »einfachen Mannes« Mendel Singer übersetzt, der mit Gott hadert, weil er ihm zuviel Leid zugefügt hat, und dem Gott ein Wunder schenkt. Hollywood - das Roth »Höllenwut« nennt - verfilmt den Roman, aus dem jüdischen Cheder-Lehrer wird dabei ein katholischer Mesner; ironische Pointe in der Geschichte des Pseudo-Katholiken Roth.

Im »Hiob« hat er seine Absage an Fortschrittsglauben und Vernunfthörigkeit verwandelt in einen Traum: vom Sohn, der den Vater erlöst, von wiedergefundener Identität und einer Heimat in Europa. Im »Radetzkymarsch«, der 1932 erscheint, erschreibt er sich die Erfüllung seines Traums in einer imaginären Vergangenheit, die als Utopie in die Zukunft wirken soll.

Nicht daß er die untergegangene k. u. k. Monarchie verklärte, von der Historie abwiche. Er flüchtet auch nicht in seine privaten Leutnantsphantasien und widerlegt mit jeder Zeile Musils Spott über den »hübsch geschriebenen Kasernenroman«. Zwei Jahre hat er - ein Schnellschreiber und manischer Kritzler - an dem Buch gearbeitet, ganze Teile neu geschrieben, weil er, betrunken, das Manuskript verlor. Der »Radetzkymarsch« ist durchkonstruiert wie kaum ein anderer seiner Romane, seine Unfähigkeit, Personen und Situationen zu erfinden, wird hier zur Kunst: Wie Marionetten agieren die Figuren zwischen Kulissen, die schon halb abgeräumt sind, im fahlen Licht erlöschender Scheinwerfer rollt, fast automatisch und in weiter Ferne vom Zuschauerraum, die Geschichte der Trottas ab, die vom Kaiser geadelt wurden, weil der Leutnant Joseph Trotta, ein Bauer aus Sipolje in Slowenien, dem Franz Joseph in der Schlacht bei Solferino das Leben rettete.

Es ist eine steril gewordene Welt, die Roth beschreibt, eine Welt, in der Frauen freudlose Gouvernanten oder mütterlich verblüht sind und in der eine ganze Generation, die der Enkel, trunken ihrem Untergang entgegentaumelt. Ihre Würde ist die des Abschieds, ihre Tragik die des unwiederbringlich Verlorenen: »Die Welt, in der es sich noch lohnte zu leben, war zum Untergang verurteilt. Die Welt, die ihr folgen sollte, verdiente keinen anständigen Bewohner mehr. Es hatte also keinen Sinn, dauerhaft zu lieben, zu heiraten und etwa Nachkommen zu zeugen.«

Aber diese Würde ist zugleich Einspruch gegen die Geschichte, und diesen zu formulieren, scheut Roth nicht die Mittel der Kolportage. Aus Heimatromanen könnte die Gewitterszene stammen, die den Mord an dem Thronfolger Franz Ferdinand und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs intoniert; und manches hatte er in der Tat abgeschrieben. Das historische Geschehen wird durch die Naturmetaphorik zum Schicksalhaften geadelt, und, jenseits der Geschichte, kann das Vergangene zum Zukünftigen werden, das untergegangene Habsburgerreich zum »kleineren Vorbild einer großen künftigen Welt«, die k. u. k. Monarchie, die so nie gewesen war, kosmopolitisch, übernational, zum Traum von Mitteleuropa.

Roths Habsburgerei war mehr als nur »alkoholisches Emigrantentum«, wie Thomas Mann es nannte. Sie wurde, im Exil in Frankreich, für ihn zur konkreten Politik. Er hatte sich, anders als viele seiner Kollegen, nie Illusionen gemacht über die Nazis, Hitlers Machtergreifung nicht für ein Zwischenspiel, einen Fastnachtsspuk gehalten; jede Hoffnung war aufzugeben, »endgültig, gefaßt, stark, wie es sich gehört«. Nur in seiner Einschätzung der Welt hatte er sich getäuscht, die Welt war dümmer noch, als er dachte, »ein Ochsenstall ist klüger«. Vielleicht konnte er das Exil auch besser ertragen als seine Kollegen, er hatte immer auf Reisen, in Hotels gelebt, und im Grunde hatte seine Emigration schon Mitte der zwanziger Jahre begonnen.

1934 macht er eine Entziehungskur, vergebens, er verbringt ein Jahr, in relativ guter Verfassung, in Nizza, wo er sich mit Heinrich Mann und Hermann Kesten ein Haus teilt. Er schreibt Artikel für die monarchistische Zeitung »Der christliche Stände Staat«, später auch für »Die österreichische Post«, das Exilblatt der Habsburger.

Der Name Habsburg hatte noch immer Gewicht in Österreich, und Otto von Habsburg hatte scharf alle Konzessionen an die Nazis verurteilt. Die Wiedererrichtung der Monarchie erschien nicht nur Roth als einzige Möglichkeit, den drohenden Anschluß zu verhindern. Im Februar 1938 reist er noch einmal nach Wien, um mit dem Bundeskanzler Schuschnigg über eine Kanzlerschaft Ottos zu reden. Er wird nicht vorgelassen, der Polizeipräsident von Wien legt ihm nahe abzureisen.

Er hatte sich an die Idee der Restauration geklammert. Das Bedürfnis nach überpersönlichen Bindungen wuchs in dem Maße, in dem seine privaten Beziehungen zerbrachen. Von Andrea Manga Bell, einer Mulattin, der Lebensgefährtin während sechs Jahren, seiner »Negerkönigin«, ist er getrennt, mit Irmgard Keun, der Autorin des »Kunstseidenen Mädchens«, Gefährtin in Suff und Literatur, die er 1936 in Ostende kennengelernt hat, ist er nach Polen gereist. Nach anderthalb Jahren verläßt sie ihn, er ist eine »unerträgliche Belastung«.

Er hat die Frauen ohnehin nie verstanden, sie mythisiert, bewundert und gefürchtet. Seine finanzielle Lage ist katastrophal. Er war einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Weimarer Republik, nun muß er um Honorare betteln. Den »reinen Staubsauger« beim Exil-Verlag Allert de Lange hat Rene Schickele ihn genannt.

Der Katholizismus, dem er sich seit Beginn der dreißiger Jahre immer stärker zugewandt hatte, entsprach seinem naiven Bedürfnis nach Ritualen und seinem Wunsch nach einer Ordnung, die er sich nicht selbst schaffen mußte. In Paris besuchte er jeden Sonntag die Messe, und ebenso regelmäßig traf er den Freund Joseph Gottfarstein, einen orthodoxen Juden. Daß er sich habe taufen lassen, stritt er ab.

Er ist inzwischen vom Alkohol und von Krankheit ganz ausgehöhlt, »zu jenem langsamen Untergang entschlossen, zu dem Trinker immer bereit sind - Nüchterne werden das nie erfahren«. Einmal, im Frühjahr 1939, findet Walter Mehring ihn betrunken auf dem Rinnstein sitzend und tadelt ihn, »Roth, warum trinken Sie so viel?« Und er antwortet: »Und warum trinken Sie nicht, Mehring? Glauben Sie, daß Sie davonkommen werden? Auch Sie werden zugrunde gehen.«

Das Hotel Foyot am Jardin du Luxembourg, in dem er jahrelang gewohnt hatte, war abgerissen worden. Er hat in das gegenüberliegende Hotel de la Poste umziehen müssen, jenes kleine zweistöckige Gebäude, das heute einfach »Le Tournon« heißt, nach der Straße, in der es liegt. Er kann das Hotel selten verlassen, nicht einmal mehr, um ins fünf Minuten entfernte Cafe Les Deux Magots zu gehen, wo sich die Emigranten trafen. Er leidet unter Verfolgungswahn und unter geschwollenen Füßen. Die Freunde besuchen ihn regelmäßig, doch seine wichtigste Verbindung zur Welt ist die Post, von der aus er Telegramme um Geld schickt und um eine mögliche Ausreise nach Amerika, das er immer gehaßt hat. Am Ende hofft er auf die Vermittlung Marlene Dietrichs. Sie soll seinen »Hiob« bewundert haben.

Das Hotel ist zum Exil geworden. Doch es gelingen ihm in den letzten beiden Jahren seine besten Romane, »Das falsche Gewicht«, »Die Kapuzinergruft«, »Die Geschichte der 1002. Nacht« und die Erzählung »Die Legende vom heiligen Trinker«, Geschichten von Todessehnsucht und alkoholisierter Männereinsamkeit, gemildert durch Ironie. Die kleine Heilige, der Andreas, der Clochard, sein wundersames Glück verdankt, wird darin am Ende zu einem durchaus fleischlichen Fräulein.

Am Cafehaustisch soll Roth umgekippt sein, als er die Nachricht vom Selbstmord Ernst Tollers erfuhr. Im Armenspital soll er gestorben sein. So will es die Legende. In Wahrheit starb er, vom Gatten seiner französischen Übersetzerin, Professor Gidon, versorgt, am 27. Mai 1939 im Hopital Necker, in das er wegen gastrischer Beschwerden eingeliefert worden war. Das Begräbnis fand am 30. Mai auf dem Friedhof Thiais statt, im Süden von Paris. Man hatte sich nicht entscheiden können zwischen einer jüdischen und einer katholischen Zeremonie und wählte eine Mischung aus beidem.

Die Betonplatte auf dem Grab im Planquadrat 7, Reihe 22, Nr. 15 wurde 1970 vom österreichischen Staat durch einen Grabstein mit goldenen Buchstaben ersetzt. Ein Kranz liegt darauf, von der Bundeshauptstadt Wien. Das Geburtsdatum auf der Platte, 26. September 1894, ist falsch.

Bei Roths Begräbnis brachte Egon Erwin Kisch, für den Schutzverband deutscher Schriftsteller, einen Blumenstrauß mit Schleife: »Unserem Genossen Joseph Roth«. Otto von Habsburg ließ einen Kranz mit schwarz-gelber Schärpe schicken: »Dem treuen Sohne Österreichs«. #

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