»Das Spiel des Begehrens«
SPIEGEL: Herr Kumpfmüller, Ihr Buch über einen genialen Frauenverführer und Bankrotteur, den es aus Deutschlands Osten in den Westen und dann in den sechziger Jahren wieder nach Osten verschlägt, ist ein souverän erzählter politischer und erotischer Schelmenroman. Warum haben ausgerechnet Sie gerade in einem Statement verkündet, unsere Zeiten seien eher ungünstig für die Schilderung der Liebeskunst und der Verführung?
Kumpfmüller: Ich kann da eigentlich nur als Leser antworten. Wenn ich in modernen Texten etwas über Sexualität lese oder über Körpererfahrungen im weiteren Sinne, dann ist das meistens ziemlich extrem: Die einen übergeben sich, die anderen sitzen ständig auf dem Klo - und entsprechend krude kommt mir oftmals die Sexualität vor. Ich glaube, im Vergleich dazu schreibe ich auf eine altmodische Weise über die Liebe. Dabei hoffe ich, dass nicht meine Sprache altmodisch ist, sondern nur die Art und Weise, die Welt zu betrachten: Das Spannende an den alten Zeiten ist doch die Kunst des Verhüllens.
SPIEGEL: Von Ihrem Helden Heinrich Hampel erfährt der Leser mitunter sehr anschaulich, wie er sich zwischen den Schenkeln seiner Gefährtinnen vergnügt - und da preisen gerade Sie die Kunst des Verhüllens?
Kumpfmüller: Dass meine Hauptfigur ein Freund der Frauen ist, ist die eine Sache, die andere ist, wie ich darüber schreibe: In diesem Zusammenhang gibt es eine Schlüsselszene: Hampel befindet sich schon in der DDR, er geht mit einer Frau nackt baden und bereut ziemlich bald, sie nackt gesehen zu haben - ihr Geheimnis hat sich verflüchtigt. Auf die Schilderung erotischer Situationen übertragen, heißt das: Andeutungen sind oft spannender als allzu detaillierte Schilderungen.
SPIEGEL: Trotzdem haben Sie hoffentlich nichts gegen die Einschätzung, dass »Hampels Fluchten« unter anderem ein erotischer Roman ist.
Kumpfmüller: Es ist ein erotischer Text, ja, aber hoffentlich keiner, der die Sexualität als Verrichtung feiert. Erotik ist für mich immer ein Spiel, ein Kreisen um die Erwartung, die Inszenierung des Begehrens. Im Unterschied dazu erzählt die pornografische Literatur immer den Akt selbst. Ich habe einiges an erotischer Literatur gelesen, und eigentlich fällt mir nur eine ein, die ich gut finde. Es ist eine Geschichte von Italo Calvino. Darin liegt ein junger Mann am Strand und liest, während eine Frau ihn mit begehrlichen Blicken lockt. Das eigentlich Spannende ist, wofür er sich entscheidet, die Frau oder die Lektüre.
SPIEGEL: Alle expliziten sexuellen Schilderungen, nehmen wir mal Harold Brodkeys grandiose Erzählung »Unschuld«, lassen Sie nicht als erotische Literatur gelten?
Kumpfmüller: Die hat doch nichts mit Erotik zu tun! Da versucht ein Mann verzweifelt, einem Mädchen ihren ersten Orgasmus zu verschaffen - das ist doch eine Tragödie!
SPIEGEL: Hängt Ihre, wie Sie sagen, »altmodische« Schilderung des körperlichen Begehrens damit zusammen, dass das Reden über Sex und Sexdarstellungen heute in vielen Medien allgegenwärtig sind?
Kumpfmüller: Ja sicher. Ein Autor ist heute gut beraten, sich zurückzuhalten. Ich finde es immer ärgerlich, wenn ich Bücher lese und den Eindruck habe, die Autoren vergessen die Bedingungen, unter denen die Leser sich dem Buch widmen. Heutzutage haben die Leute unendlich viele Bilder im Kopf und sind durchaus in der Lage, literarische Vorgaben mit ihren eigenen Bildern zu füllen. Ich möchte, dass meine Leser die Möglichkeit haben zu assoziieren, ich möchte sie aber auch verblüffen und nicht immer genau ihre Phantasie erfüllen.
SPIEGEL: Ihr Romanheld hat im Westen eindeutig besseren Sex als im Osten. Liegt das an Hampels jeweiligem Lebensalter oder am System?
Kumpfmüller: Da muss ich jetzt sehr aufpassen, dass mich Ostdeutsche nicht missverstehen. Also gut, Sie haben Recht, Hampel tut sich im Osten schwerer mit dem Sex, weil zumindest ihm dort ideologische Ansprüche den Kontakt zum anderen Geschlecht erschweren. Als junger Mann zum Beispiel denkt Hampel immer, er müsse dort, um in der Liebe Erfolg zu haben, Revolutionsdaten auswendig kennen und so etwas. Er kennt also die gesellschaftlichen Codes nicht, die immer an Sexualität gebunden sind. Deswegen tut er sich schwer. Im Westen funktioniert die Annäherung zwischen den Geschlechtern mehr nach Marktgesetzen, die kennt Hampel, deswegen läuft es hier besser.
SPIEGEL: Glaubt man Sexualforschern oder etwa Milan Kunderas Erfolgsroman »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«, ging es in Osteuropa lange Zeit weniger prüde zu als im Westen.
Kumpfmüller: Ich bin kein Sexualforscher, sondern ein Literat mit einer anderen These als Kundera. Für mich ist die Sexualität sozusagen ein Vehikel, um etwas über die Politik der DDR auszudrücken: Ich glaube nicht, dass in einer strukturell unfreien Gesellschaft Befreiung im Sex möglich ist.
SPIEGEL: Obwohl Ihr Held unter anderem im Knast in Bautzen landet, schildert Ihr Roman die DDR keineswegs als Horrorstaat. Das Leben dort und selbst ein Stasi-Mann tragen durchaus sympathische, gemütliche Züge. Wie erklärt sich diese Ambivalenz?
Kumpfmüller: Ich habe eben selber ein ambivalentes Verhältnis zu diesem Staat. Es gibt Tage, da fühle ich mich wie Kurt Schumacher 1951: Da rege ich mich furchtbar auf über diesen Unrechtsstaat, über die Lager und das Spitzelwesen. Dann gibt es wieder Tage - auch wenn ich literarische Schilderungen des Lebens im Osten und im Westen lese - , an denen ich merke: In beiden Teilen Deutschlands ging es im Alltag doch ziemlich ähnlich
zu. Wissen Sie, ich habe mich
immer geärgert, wenn der Nationalsozialismus in der Literatur als Schurkenstück daherkommt. Damit hat man überhaupt nichts begriffen. Ein Lagerkommandant wie Rudolf Höß hat mit Hingebung klassische Musik gehört und trotzdem Menschen erschossen. Verstehen Sie mich bitte richtig: Die DDR ist für mich nicht dasselbe wie der Hitlerstaat. Aber in der deutschen Geschichte gab es eben normale Anteile und Horroranteile, und beides muss vorkommen.
SPIEGEL: Sie selbst sind 39 Jahre alt, im Westen aufgewachsen und kennen die DDR nur von Besuchen als Jugendlicher. Fürchten sie nicht, dass Ihnen nun Erbsenzähler vorhalten, Ihre Schilderungen des Lebens im Osten stimmten nicht überein mit den historischen Erfahrungen ehemaliger DDR-Bürger?
Kumpfmüller: Ich gebe zu: Ich weiß nicht, ob ich diesen Roman geschrieben hätte, wenn es nicht eine reale Vorbildfigur für meinen Hampel gegeben hätte. Aber es gibt - oder besser: gab - eben diesen Menschen aus meiner privaten Umgebung, der genau wie Hampel Anfang der sechziger Jahre in den Osten gegangen ist. Der ist zwar ebenso wie Hampel gestorben, aber in vielen Gesprächen mit Leuten, im Osten wie im Westen, die ihn kannten, habe ich viel über sein Leben herausfinden können. Meine Romanfigur hat sich natürlich gelöst von der realen Vorlage, der Versuch, diese Lebensgeschichte bloß möglichst authentisch nachzuerzählen, hätte mich gelangweilt.
SPIEGEL: Aber heißt das nicht, dass Ihr ganzer Roman auch bei noch so gründlicher Recherche letztlich auf Mutmaßun-
gen über eine Person und über das Leben in längst untergegangenen Staaten beruht?
Kumpfmüller: Natürlich ist es heikel, über das Leben in der DDR zu schreiben, wenn man selbst kein Bürger dieses Staates war. Aber ich frage Sie: Darf man überhaupt über andere Menschen schreiben? Sind das nicht immer Anmaßungen oder Mutmaßungen? Wäre dann womöglich nur noch autobiografische Literatur möglich? Gerade mit der habe ich am meisten Probleme.
SPIEGEL: Warum? Derzeit sind doch autobiografisch gefärbte Geschichten gerade von Autoren der jüngeren Generation sehr erfolgreich.
Kumpfmüller: Mir ist dieses Genre zu narzisstisch. Mich hat immer mehr von der Welt interessiert als nur mein kleines Leben, mich interessiert die Verknüpfung von Leben, Geschichte und Politik. Würde es Sie wirklich interessieren, wenn ich darüber schriebe, dass ich mit acht Jahren im Kino war und den »Schatz im Silbersee« gesehen habe? Mich nicht.
SPIEGEL: Ein Roman muss für Sie immer gleich Welterklärungsversuche mitliefern?
Kumpfmüller: Ich will mal so sagen: Wenn
ich heute höre, dass Romane dafür gelobt
werden, dass Sie eigentlich an jedem Ort der Welt spielen könnten, macht mich das sehr skeptisch. Nur fröhlich frivol zu sein und gar nicht mehr zu wissen, wo die Geschichten spielen, darin sehe ich keinen Gewinn. Literatur ist für mich eine Form von Selbstverständigung einer Gesellschaft. Durch die Art, wie ich in einem Roman über Sexualität schreibe, zeige ich etwas über die Gesellschaft. Sexualität an sich ist kein ausreichendes Thema.
SPIEGEL: Und deshalb haben Sie sich für Ihren Roman das Konzept zurechtgelegt, das Erotische mit dem Politischen zu verknüpfen?
Kumpfmüller: Ich halte überhaupt nichts von Konzepten. Mir ging es ums Erzählen. Mit Schrecken erinnere ich mich an meinen zweiten Romanversuch. Den ersten schrieb ich mit 16, den zweiten mit Mitte 20, und beide Male bin ich gescheitert. Aber gerade aus meinem zweiten Fehlversuch habe ich viel gelernt. Ich wollte die Geschichte zweier Brüder erzählen, der eine war Physiker, der andere ein Künstler - und am Beispiel dieser Geschwister wollte ich Goethes Farbenlehre darlegen. Das war überkonstruiert. Danach habe ich mir vorgenommen, mich und meine Leser bitte schön nicht mit Sentenzen und Maximen und Reflexionen zu quälen. In »Hampels Fluchten« gibt es, glaube ich, keine Stellen zum Anstreichen.
SPIEGEL: Stört es Sie, dass »Hampels Fluchten« trotzdem anlässlich des Vorabdrucks in der »Frankfurter Allgemeinen« schon gepriesen wird als »Roman einer Generation«, jener Generation nämlich, die große Teile ihres Lebens im getrennten Deutschland verbrachte?
Kumpfmüller: Dass da 1989 tatsächlich etwas zu Ende gegangen ist, das merke ich vor allem, wenn ich an meine beiden Söhne denke. Alle über 25-Jährigen sind doch mit dem Paradigma der Ost-West-Spaltung aufgewachsen. Das war unsere Welt, und so denken wir sie auch fort. Das wird mein Sohn, der 1996 geboren ist, nicht mehr kapieren. Insofern erzählt mein Buch wirklich von einer vergangenen Zeit.
SPIEGEL: Und von einer vergangenen Moral? Ihr Held Hampel erweist sich in politischer, finanzieller und erotischer Hinsicht als Schuft. Ist es seine Verderbtheit, die ihm zum Verhängnis wird?
Kumpfmüller: Nein, sein Verhängnis ist, dass er immer übertreibt - sowohl ökonomisch als auch triebökonomisch.
INTERVIEW: SUSANNE BEYER, WOLFGANG HÖBEL
* Uschi Obermaier und Rainer Langhans.* Mit David Bennent und Katharina Thalbach (1979).