Es sei eine Art »Vermächtnis«, so hatte sein Galerist in Neapel diskret wissen lassen, als Joseph Beuys kurz vor Weihnachten im dortigen Museum eine große Rauminstallation aufgebaut hatte. Ihr Titel scheint sich zunächst nur auf den Schauplatz, die einstige Bourbonenresidenz zu beziehen: »Palazzo regale«.
Aber in einer Vitrine ruhen da unter anderen Dingen ein Pelz, den Beuys bei manchen öffentlichen Zeremonien getragen hatte, und - als wäre er guillotiniert - ein Kopf in Eisenguß mit Zügen von Selbstporträt. Auf der anderen Seite: Filz, Fett, ein Rucksack, ein Hirtenstab. Insignien des herrscherlichen und des armen Lebens sind einander zugeordnet.
Beuys, der am Donnerstag voriger Woche in Düsseldorf gestorben ist, verkörperte beides. In seiner Person wie in seinem bildnerischen Werk verband er die Haltung eines Monarchen mit der eines rebellischen Außenseiters.
Er war zumindest in der Bundesrepublik seit langem unbestrittener Doyen der Gegenwartskunst, nahm bei großen Ausstellungen wie »Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert« (London) ganz selbstverständlich eine Sonderposition ein, gleichsam außer Konkurrenz. Schon 1979 hatte er in New York, wie keiner seiner Landsleute jemals, repräsentativ sein OEuvre ausbreiten können.
Zugleich blieb Beuys, in Filzhut und Sportweste, eine Spottfigur für alle Verächter der Moderne. Er agierte als Politiker ebenso missionarisch wie auf kurze Sicht glücklos. Er wurde bei den Grünen, für die er einmal eine Bezugsperson gewesen war, ausgebootet. Und wenn er mit seiner Kunst ernsthaft ins Leben ausgreifen und beispielsweise ein Hamburger Schlickfeld begrünen wollte, dann fühlten sich Kommunalpolitiker stark genug, ihn gegen alle Vereinbarungen umstandslos wieder abzubestellen.
Beuys, das machte ihn so schwierig wie einflußreich, wollte wirklich auf einen »erweiterten Kunstbegriff« hinaus. Er hing anthroposophischen Ideen an, wie Freiheit des Geistes und menschliche Kreativität in einer geänderten Gesellschaft über materielle Zwänge triumphieren könnten. Aber er ließ kritischen Bewunderern, die sich keiner blindgläubigen Gemeinde eingliedern wollten, sondern die verbale Agitation des Künstlers vielleicht sogar für naiv hielten, immer die Chance, in seinen Skulpturen, Raum-Arrangements, Performances und auch Zeichnungen unvergeßliche Metaphern der Utopie zu finden.
Der prophetische Blick war zugleich auf die Quellen gerichtet. Beuys beschwor die Verbindung mit urtümlichen Kräften der Intuition und des Mythos. Die Natur war ihm eine verpflichtende Ordnung. So konnte er in bedeutungsvollen Aktionen »einem toten Hasen die Bilder erklären« oder eine Woche lang mit einem Kojoten als der Personifikation des besseren Amerika zusammenleben.
Die Aktion, die theatralische Vorführung (etwa mit dem symbolisch Kontinente verbindenden »Eurasienstab") war Beuys und seinen Absichten besonders angemessen. Aber auch seine dauerhaften Bild-Werke sind nicht bloß als statische Schauobjekte zu verstehen. Sie handeln zugleich von Energien und Verwandlungen.
Bedingung dafür war, daß Beuys nicht nur Raum und plastische Form mit dem sicheren Instinkt des großen Bildhauers beherrschte, sondern auch, unter Verzicht auf die Aura der Tradition, schäbigen Werkstoffen sinnliche Qualitäten, ja Bedeutung abgewann. Filz und Fett, diese Inbegriffe Beuysscher Kunst-Stoffe, haben jeweils auch ihren suggestivausdrucksvollen Sinn: hier Kalorienspeicher und schmiegsame Ursubstanz, da schützende und wärmende Isoliermasse, die, in Platten gestapelt, auch elektrische Batterien darstellen kann.
Was als Allegorie platt wirken müßte, wird in der bildnerischen Anwendung oft vielschichtig und unmittelbar überzeugend. Als bedrängende Masse präsentieren sich etwa die Fragmente jenes Talgklotzes, den Beuys einst dem funktionslosen Leerraum unter einem Rampenbau in Münster angemessen hatte, um so symbolisch das verkorkste Stadtbild zu heilen.
Heimelig geborgen, aber auch atemabschnürend eingesperrt mochten sich Besucher in der Londoner Galerie D'Offay fühlen, nachdem Beuys den Raum ringsum mit kompakten Filzrollen ausgekleidet hatte. Freilich war er, undogmatisch und erfindungsreich, ebensogut imstande, unversehens in Metall zu gießen - so Bomben und Kanonenrohr für eine erinnerungsträchtige »Straßenbahnhaltestelle«, die 1976 den deutschen Pavillon zum Höhepunkt der Biennale von
Venedig machte. Das monumentale Arrangement hielt Reminiszenzen an einen bestimmten Punkt in der niederrheinischen Beuys-Heimatstadt Kleve, an die Geschichte der Region und auch an die Kindheit des Künstlers fest.
Autobiographische Elemente sind allenthalben in die Kunst verschoben. Beuys, der sich durch gleichbleibende Kleidung selber als Rollenspieler auf der Szene kenntlich machte, sah auch die eigene Person und Vita als Werk-Stoff und stilisierte schriftlich einen »Lebenslauf/Werklauf«. Eröffnet wird diese Tabelle, im Geburtsjahr 1921, durch die »Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde«, des Säuglingsnabels. »Zeige deine Wunde« heißt dann ein (1979 von der Städtischen Galerie in München erworbener und deswegen bitter befehdeter) Beuys-Raum mit Leichenbahren: der Lebens- als Leidensweg.
Einen Fixpunkt hat diese Biographie im nur knapp überstandenen Absturz des Luftwaffenpiloten Joseph Beuys 1943 über der Krim. Tataren, so berichtete er später, hätten ihn bewußtlos geborgen, auf Fett und Filz gebettet und schließlich gesundgepflegt. Nach dem Krieg nahm er ein naturwissenschaftliches Studium nicht wieder auf, sondern wandte sich der Kunst zu.
1961 wurde er dann selber als Professor an die Düsseldorfer Akademie berufen.
Als Skandalfigur, aber auch als Märtyrergestalt trat Beuys 1964 ins öffentliche Bewußtsein, als er unter mehreren Teilnehmern bei einem »Festival der neuen Kunst« in Aachen agierte, von einem rabiaten Studenten blutig geschlagen wurde und so, ein Kruzifix in der Hand, vors Publikum trat - das entsprechende Photo prägte sich als ein Leitmotiv der Avantgardegeschichte ein.
Seiner Autorität als vielfach gerühmter Akademielehrer mag der Ruch von Aachen sogar zugute gekommen sein. Beuys begrüßte die politische Studentenbewegung und protestierte gegen den Numerus clausus. Als der Professor 1972 mit abgewiesenen Bewerbern das Akademie-Sekretariat besetzte, schickte ihm Wissenschaftsminister Johannes Rau die fristlose Kundigung. Ein langer Rechtsstreit, in dem sich Beuys teilweise, doch folgenlos durchsetzte, hielt die Wunde offen: Der Künstler distanzierte sich vom bundesdeutschen Staat.
Ob er eine organisatorisch kaum faßbare »Freie Internationale Universität« begründete oder, vergebens, für die »Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher« oder für die Grünen kandidierte - bisweilen konnte der Eindruck entstehen, Beuys habe der Produktion von Kunstwerken entsagt und wolle nur noch politisieren. Aber in seinen Augen gehörte beides zusammen.
Immer wieder trat er überraschend mit neuen großen Arbeiten hervor, wie labil, nach einem Herzinfarkt vor Jahren, seine Gesundheit auch war. Letzten Sommer brachte eine langwierige Virusinfektion ihn dem Tode nahe. Doch danach goß er unter anderem noch die Bronzen zu einem Environment »Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch« (ein erstes Teilstück für die »Deutsche Kunst«-Schau), polsterte die Galerie D'Offay mit Filz und stattete den »Palazzo regale« aus. Vorigen Mittwoch, einen Tag vor dem tödlichen Herzversagen, war er voller Pläne und beklagte den »Zeitverlust« durch Krankheit.
Nur noch wie geisterhaft und abschiednehmend allerdings hatte Beuys bereits Ende November, bevor er nach Neapel aufbrach, an der Eröffnungsveranstaltung einer Hamburger »Biennale des Friedens« teilgenommen. Bloß übers Telephon gab er, mit exakten Angaben über Rechtschreibung und Interpunktion, eine typische Verlautbarung zur nötigen Befreiung des Bewußtseins durch: »Bei einem wesensgemäßen Beschreiben des Geschehens zur Befreiung der von der Fähigkeit getragenen Arbeit ist es doch logisch, daß das Tragende zuerst befreit werden muß.«