ZEITGESCHICHTE Das wahre wilde Leben
Insider wissen es schon lange: Oskar Schindler war auch nur ein Mensch. Ein Trinker, Weiberheld, Zocker und Abzocker, der sich treiben ließ und am Ende eher zufällig auf der richtigen Seite landete, woraus er wieder Kapital zu schlagen versuchte. So war er, der Oskar Schindler, und deswegen muss die Geschichte des Judenretters aus Mähren immer wieder neu erzählt werden.
Der Mann war von 1939 an Mitglied der NSDAP, er übernahm eine bankrotte jüdische Emaillewaren-Fabrik in Krakau, beschäftigte jüdische KZler, deren Schicksal ihm anfangs egal war. Eines Tages mutierte der Opportunist zum Retter. Dank seiner Beziehungen zum NS-Apparat konnten viele »Schindler-Juden« als Arbeiter in einem »kriegswichtigen« Betrieb überleben, zuerst in Krakau, am Ende im mährischen Brünnlitz.
Die Langfassung der Geschichte legt der amerikanische Historiker David M. Crowe, 61, jetzt vor*. Sieben Jahre hat der Professor aus North Carolina an seinem Schindler-Buch gearbeitet, länger, als der Zweite Weltkrieg gedauert hat. Er interviewte Zeitzeugen, durchwühlte Archive und stieß auf Akten, die niemand vor ihm gesehen hatte. Das ganze Werk ist 856 Seiten stark, allein die Fußnoten und der Index füllen über 150 Seiten. Die 2004 erschienene US-Ausgabe heißt: »The Untold Account of His Life, Wartime Activities, and the True Story Behind the List«. Der Titel der deutschen Ausgabe ist wesentlich knapper: »Oskar Schindler - Die Biographie«.
Freilich: Ganz so »untold«, wie der Titel suggeriert, ist die Geschichte nicht, und die »true story«, die Crowe erzählt, basiert auf zwei vorausgegangenen Arbeiten. 1982 erschien in einem britischen Verlag
der biografische Roman des australischen Autors Thomas Keneally ("Schindler's Ark"), der wiederum Steven Spielberg als Vorlage für seinen erfolgreichen Film »Schindlers Liste« (1993) diente.
Crowe behauptet, diese beiden hätten Schindler in ein zu schönes Licht gestellt. Der Verlag wirbt mit der Ankündigung: »Oskar Schindlers Leben war noch viel zwiespältiger, als Steven Spielberg ahnte.«
Nun ist das wahre Leben ja meistens wilder als seine Verfilmung. Crowe geht mit einer Detailliebe ans Werk, die jedem Gerichtsmediziner Ehre machen würde. Er fängt an mit der Stadt Zwittau, wo Schindler 1908 geboren wurde, drei Autostunden von Prag entfernt, in der Zeit, als Böhmen und Mähren noch zu Österreich-Ungarn gehörten. Auf der Schule schaffte es der junge Oskar gerade zur mittleren Reife, mit 16 fälschte er sein Zeugnis, fortan nannten ihn die Mitschüler »Schindler-Gauner«. Ein frühes Omen?
Mit knapp 20 heiratete er Emilie, die Tochter eines wohlhabenden Landwirts. »Sie liebte die Nähe zur Natur, die Tiere und insbesondere die Pferde.«
Und sie ließ sich von einer Wahrsagerin aus der Hand lesen. »Kind«, soll die Zigeunerin einmal gesagt haben, »ich sehe eine lange Lebenslinie. Du wirst ein langes Leben haben, länger, als du dir vorstellen kannst ... Du wirst einen Mann kennen lernen, der dich von hier wegholt ... Und da ist noch vieles andere, mein Kind, das ich dir nicht zu erzählen wage.«
Jahre später, auf der Überfahrt nach Argentinien, habe, so Crowe, Emilie ihrem Oskar von der Prophezeiung der Zigeunerin erzählt, worauf der seine Frau in den Arm genommen und gesagt habe: »Du darfst nicht länger an solche Dinge glauben und dich nicht weiter damit quälen ... Du kannst sicher sein, dass ich dich liebe.«
Wo hat Crowe diese Zitate, immerhin wörtliche Rede, gefunden? In Büchern von und über Emilie Schindler, geschrieben von der argentinischen Journalistin Erika Rosenberg, deren Seriosität Crowe am Ende seines Buchs selbst anzweifelt: Sie habe sich das Vertrauen der alten, kranken Emilie erschlichen, um mit dem Namen Schindler ein Geschäft zu machen.
Crowe dagegen geht es angeblich allein um die historische Wahrheit. Er reiht ein Detail an das andere, um zu beweisen, was ja bekannt ist: dass Schindler eine »genusssüchtige Natur« war. Statt sich um seine Frau zu kümmern, kaufte er sich noch im Hochzeitsjahr eine 250er Moto Guzzi, »ein Rennmotorrad, das damals als eines der schnellsten in Europa galt«, und nahm damit an Rennen teil. Gleich beim ersten Mal wurde er Dritter, beim zweiten Mal hielt er »aus irgendeinem unerfindlichen Grund kurz vor der Ziellinie an« und verschenkte so den sicheren dritten Platz. Danach gab er diesen Rennsport auf, »vermutlich, weil ihm das Geld ausging«.
Mit solchen Einzelheiten, die mehr oder weniger belegt sind, schafft Crowe die Aura des Authentischen. Allerdings gibt er zu, dass viele seiner Schlüsse auf Vermutungen und Spekulationen basieren. So sei Schindler Anfang 1938 von einem Zwittauer Gericht zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden, habe aber nur einen Monat absitzen müssen. »Den Grund seiner Verurteilung kennen wir nicht, denn die Gerichtsakten gingen verloren oder wurden vernichtet«, schreibt Crowe und verweist auf eine »tschechische Schindler-Forscherin«, die einen tschechischen Historiker kennt, der seinerseits behauptet, »das Urteil sei wegen Spionagetätigkeit ergangen«. Es kann aber auch anders gewesen sein, gibt Crowe zu: »Genau wird sich das wohl nicht mehr feststellen lassen.«
Fest steht dagegen wiederum allgemein Bekanntes: dass Schindler ein unsteter Charakter war. Er kaufte eine Hühnerfarm und gab sie wieder auf, arbeitete vorübergehend in einer Bank und hatte viele Affären, unter anderem mit einer alten Schulfreundin, die zwei Kinder von ihm bekam, die sie »allein großgezogen« hat. Zudem war er ein »überzeugter Sudetendeutscher«, trat 1935 in die Sudetendeutsche Partei ein und »knüpfte die ersten Kontakte zur Abwehr, dem militärischen Geheimdienst des Deutschen Reichs«, was ihm Jahre später zugute kam, als er seinen Betrieb von Krakau nach Brünnlitz verlegte mitsamt 1100 Juden, die er damit retten konnte.
Crowe bezweifelt nicht, dass es so war, doch er interessiert sich für die wechselnden Motive von Schindler, der alles, nur kein Heiliger oder Saubermann sein wollte. Wie ein Staatsanwalt, der den guten Ruf einer Angeklagten zu zerstören versucht, indem er sie mit ihrem wilden Vorleben konfrontiert, ruft Crowe Zeugen auf wie den Leiter der Polizeidirektion in Brünn, der schon 1939 zu der Erkenntnis kam, Schindler sei kein Patriot gewesen, sondern ein »sehr leichtsinniger Mann von zwielichtigem Charakter«, der nur »mit wenig Arbeit viel Geld« verdienen wollte.
Schindler, schreibt Crowe, habe der deutschen Abwehr nicht nur »Material über das tschechoslowakische Eisenbahnnetz besorgt«, er war auch »an den Vorbereitungen für den deutschen Einmarsch in Polen beteiligt«.
Das wäre, in der Tat, eine echte Sensation. Saß Schindler etwa im Generalstab und zeichnete Landkarten? Hatte er sich gar beizeiten in Warschau einquartiert, umden Empfang der deutschen Truppen zu organisieren?
Viel schlimmer. Die Deutschen brauchten angeblich »polnische Uniformen, Militärausweise und Waffen«, um als polnische Soldaten verkleidet den deutschen Sender Gleiwitz zu überfallen, damit Hitler den getürkten Überfall mit einer Kriegserklärung beantworten konnte. Nach einem Bericht von Emilie Schindler hätten »die Schindlers die polnischen Uniformen besorgt und in ihrer Wohnung in Mährisch-Ostrau versteckt, bis sie an Heydrichs Agenten geschickt wurden«. Die erste Uniform, so Emilie laut Crowe, sei »einem polnischen Soldaten abgekauft und nach Berlin geschickt« worden, »wo sie nachgeschneidert wurde«.
Abgesehen von der kleinen Unstimmigkeit zwischen beiden Versionen, war dies, schreibt Crowe, »Schindlers einziger Beitrag im Vorfeld des Überfalls auf Polen«. Und: »Möglicherweise hat er größere Men-
gen polnischer Uniformen, Waffen und Zigaretten in seiner Wohnung gelagert.« Möglicherweise. So stellt Crowe eine Behauptung auf und reduziert sie anschließend zu einer Mutmaßung. Diese Technik benutzt er häufiger, wobei er mit großem Aufwand aus Akten, Protokollen und Erinnerungen Details rekonstruiert, die für die Geschichte selbst irrelevant sind.
Was für ein Abzeichen hatte Schindler getragen? Das »gewöhnliche Parteiabzeichen« oder das »Goldene Parteiabzeichen beziehungsweise das Goldene Ehrenzeichen der NSDAP«? So wird ein Hintergrund geschaffen, vor dem auch Moralismen wie Tatsachen erscheinen: Schindler war »selbstbezogen«, er kümmerte sich »um nichts und niemand außer um sich selbst und seinen Genuss«.
So ging er schließlich »nach Krakau, in die Stadt, die fünf Wochen zuvor kapituliert« hatte, um als »Kriegsgewinnler sein Glück zu machen«. Und erst »mit dem Fortgang von Krieg und Judenvernichtung hat Oskar Schindler einen Wandel durchgemacht«.
Das ist so überraschend wie die Erkenntnis, dass die Nazis es auf das Vermögen der Juden abgesehen hatten. Muss man deswegen Schindlers Geschichte neu schreiben? Müsste man das Urteil über Hitler revidieren, wenn bekannt würde, dass er als junger Mann nicht Aquarelle gemalt, sondern in einer Suppenküche der Heilsarmee gearbeitet hat?
Crowe hat über 800 Seiten verfasst, weil er mehr als nur das wechselhafte Leben des Oskar Schindler nachzeichnen wollte - er rekonstruiert gleich auch das Dritte Reich in seinen vielen Verästelungen und Intrigen zwischen Gestapo und SS.
Zum Schluss wird es schmuddelig. Da geht es um Emilie Schindler, die sich übergangen fühlte und einen Medienkrieg gegen ihren Mann entfachte, mit Details aus ihrer Ehe bis hin zur verunglückten Hochzeitsnacht.
Dabei hat Schindler auch aus diesen seinen Untugenden nie ein Geheimnis gemacht. »Weit entfernt bin ich davon, ein Heiliger zu sein, habe als maßloser Mensch viel mehr Fehler als der Durchschnitt derer, die so sehr gesittet durchs Leben schreiten.« Der Alkohol sei ihm »in den Kriegsjahren ein großer Helfer« gewesen, wobei er »nie so betrunken war, dass die Gegner nüchtern genug waren, mich hereinzulegen«.
Erst in den »Schlussgedanken« seines Buchs zeigt Crowe Milde mit dem Deutschen, der 1100 Juden das Leben gerettet hat. »Ich denke, Schindler war tief in seinem Herzen ein grundanständiger Mensch - trotz seiner Trunksucht und seiner Frauengeschichten.« HENRYK M. BRODER
* David M. Crowe: »Oskar Schindler - Die Biographie«. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Eichborn Berlin Verlag; 856 Seiten; 34,90 Euro. * Mit Liam Neeson (1993).