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DDR-Film: Personenkult mit Popanz-Goethe

Ein Prestige-Film der DDR, »Lotte in Weimar« nach Thomas Manns Roman, läuft jetzt in der Bundesrepublik an. In der DDR stieß er auf »emphatische Aufnahme« wie auf »bissige Ablehnung«. Goethe, eine Kultfigur der DDR, wird darin nicht als hehrer Geistesfürst, sondern als Provinz-Poet dargestellt. Ein Anti-Goethe-Film?
aus DER SPIEGEL 45/1975

Johann Wolfgang von Goethe hat die DDR vorausgesehen; die Idee vom »freien Volk« auf »freiem Grund«, im »Faust II« geschaut, ist im SED-Staat Wirklichkeit geworden. So, jedenfalls, dekretierte es der Staatsratsvorsitzende Ulbricht.

Dem Alleinvertreter-Anspruch in Sachen Goethe entspricht der kolossale Personenkult, mit dem die DDR den Altmeister umhegt. Feierlich geht es stets zu im Weimarer Goethe-Haus am Frauenplan, Junge Pioniere, treulich geführt, stimmen da innig das »Heideröslein« an.

»Vorwärts zu Goethe«, proklamierte Johannes R. Becher. Die Aneignung des »Nationalen kulturellen Erbes«, NKE im DDR-Kürzel, ist nationales Gebot, und der »humanistische« Olympier gilt als der reichste Erblasser; schon Friedrich Engels hat ihn empfohlen, als den »Propheten der »Religion der Zukunft«.

Nun ist Goethe, seit letztem Freitag auch für die Bundesrepublik, im Kino zu sehen. In dem Defa-Film »Lotte in Weimar«, nach dem 400-Seiten-Roman von Thomas Mann, läßt der prominente DDR-Regisseur ("Der Dritte") Egon Günther, 48, den vaterländischen Heros in fleischlicher Gestalt auftreten. Historische Stunde?

Thomas Mann hatte die »Lotte« im Exil verfaßt, »in Deutschlands dunkelsten Tagen«, wie er schrieb, und er verwirklichte sich damit »einen alten Traum: den, Goethe einmal persönlich wandeln zu lassen«; der Leser sollte die »Illusion« gewinnen, »ganz genau zu erfahren, wie ER wirklich war

Als Szenarium diente Mann eine wahre Begegnung. 44 Jahre nach der Affäre mit dem jungen Goethe, der »Werthers Leiden« entsprangen, reist die greise Lotte, verwitwete Kestner, nach Weimar und besucht den einstigen Geliebten. Es muß ein kurzes, steifes Wiedersehen gewesen sein. Goethe im Tagebuch: »Mittags Ridels und Madame Kestner.« Punkt.

Mit der Akribie eines historischen Romans hat Mann, ein profunder Goethe-Kenner, vor allem die Entourage des Meisters nachgezeichnet -- eine schöne Gesellschaft: servile, maulende, zähneknirschend oder blind verehrende Figuren, über denen der Alte würdig, distanziert und egozentrisch thront.

Just diese klebrige Klientel pinselt Egon Günther in seinem Film mit besonders böser Sorgfalt aus. Und Goethe? Ein pampiger, ungeistiger, präpotenter Kloß tritt auf, Provinz in jeder Pore, Striese in der Rolle eines Geistesfürsten. Wird da mit Absicht verstimmt?

Günther hat den Film, der beim Festival in Cannes ohne besondere Vorkommnisse lief, mit allem Aufwand gedreht und auch West-Import eingebaut: Lilli Palmer spielt, es war ihr langjähriger Herzenswunsch, die alte Lotte, manieriert wie meist und mit dem Kopfwackeln, das Mann vorschreibt.

Auch Paradepferde der DDR spielen mit, die intelligenten Komödianten Jutta Hoffmann und Rolf Ludwig; mit beiden hatte Günther schon »Der Dritte« gemacht. Prunkvoll sind die Kostüme, präzise die Bauten, und Mahlers 6. Symphonie wird vom Leipziger Gewandhaus-Orchester unterlegt.

Mit bukolischen Szenen, ironischen Medaillons, mit Commedia-dell'arte-Einlagen, satirischen Kabinettstücken, Volksgewoge und kriegerischen Aufläufen überzieht Günther die Musen-Metropole; Kutschen rollen, das Posthorn tutet, blökend kehren heim die Schafe, und der Kellner im »Elephanten« watscht immer mal wieder den Piccolo und genehmigt sich ein Bier.

Ein großer, vitaler Film ist dennoch nicht daraus geworden. Wer Manns Roman nicht kennt, muß Mühe haben, sich in Günthers Rückblenden-Irrgarten zurechtzufinden; zu vieles wird zu umständlich ausgepackt, anderes zu penetrant auf dem Silbertablett gereicht; Lotte wird einem bald Hekuba.

In der DDR ist, meldet der Ost-Berliner »Sonntag«, der Film auf ein »breites Meinungsspektrum« gestoßen: »Es reicht von emphatischer Aufnahme bis zu bissiger Ablehnung:' Ein Aspekt fehlt in diesem Spektrum: Ob Günther, recht besehen, nicht auf dem Text-Teppich Thomas Manns einen Anti-Goethe-Film gedreht hat.

Einen Film zumindest gegen den blinden Personenkult, wie er in Weimar üblich war und in der DDR heute ist. Zu offensichtlich weicht Martin Hellbergs Popanz-Goethe ("Ich habe ihn bewußt parodiert, weil ich ihn dann menschlich zu packen bekam') vom Mann-Bild des würdigen Greises ab; und zu donnernd ist das verlegene Gelächter der Hofschranzen, als dieser Goethe spricht: »Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.«

Möglicherweise war der Geheime Rat wirklich ein Ekel. Die historische Lotte schrieb nach ihrem Besuch, sie habe einen »alten Mann« getroffen, »welcher keinen angenehmen Eindruck auf mich machte«.

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