DDR-Unterhaltung: »Humor, Humor, Humor!«
Im Kultur- und Unterhaltungsgewerbe der DDR geht es wieder einmal um den Kopf. Schon vor Monaten registrierte Ost-Berlins »Deutsche Lehrerzeitung« eine »subversive Strategie gegen die Hirne« und beklagte die Manipulierung des musikalischen Geschmacks« von DDR-Bürgern durch die westdeutsche Schlagerindustrie.
»Die Qualität unserer Unterhaltungskunst wäre wesentlich höher«, ließ sich der Ost-Berliner TV-Regisseur Manfred Spitz im einschlägigen Fachblatt vernehmen, »hätten wir mehr Klarheit in so manchen Köpfen.« Es müsse, so Spitz, »zur Ehre eines jeden DDR-Künstlers gehören, zunächst einmal unsere Lieder wirkungsvoll zu gestalten«.
Abermals mehren sich in Zeitungen und öffentlichen Diskussionen die Stimmen gegen westdeutschen Schlager-Import. So äußerte beispielsweise ein Dieter Lutz aus Dresden, einer von vielen, unlängst im FDJ-Zentralorgan »Junge Welt« Verwunderung darüber, »daß in unseren Plattengeschäften eine Kassette mit Liedern von Roy Black zu kaufen ist«. Lutz-Wort und »Junge Welt«-Schlagzeile: »Dafür sollte unser Geld zu schade sein.«
Ost-Berlins Friedrichstadt-Palast, Show-Mekka der Republik, läßt dieses Jahr ("Gäste lassen bitten") wohl den DDR-Amerikaner Dean Reed und natürlich die sozialistischen Sangesschwestern Hana Hegerová (CSSR) und Magdi Bódie (Ungarn) auftreten, nach derzeitiger Planung aber kein einziges Talent aus der sogenannten BRD.
Genehm sind britische Oldtimer wie Alex Welsh« der gegenwärtig mit seiner Dixieland-Band die DDR bereist. Auch der österreichischen Jazz-, Schlager- und Mundart-Sängerin Marianne Mendt öffnete Studio Leipzig zu Funkaufnahmen dieser Tage Tür und. Tor. So viel Auslands-Popmusik ist derzeit in Radio DDR und auf den Parallel-Wellen zu hören, so viele US-Schlager werden von DDR-Beatcombos interpretiert, daß Ost-Berliner Rock-Fans ulken, die SED habe die Parole ausgegeben: »Singt englisch, Genossen.«
Unerwünscht erscheint dagegen, wenn in der DDR »auf Deutsch deutsch geredet wird«, so der Ost-Berliner Liedermacher Wolf Biermann. Das betrifft sowohl westdeutsche Songs wie Udo Lindenbergs Verbrüderungslied über das Mädchen auf dem Alexanderplatz wie die Pop-Poesie Biermanns oder die Lyrik des Biermann-Freundes Reiner Kunze. Diese seien, so wurde Anfang Februar auf einer Konferenz der DDR-Kulturredakteure erklärt, »unverändert untragbar für die DDR«.
Wie hart der SED-Staat derzeit kommunistische Dissidenten vom Schlage Biermanns und seiner Adepten verfolgt, geht aus einem unlängst in Dresden gefällten Gerichtsurteil hervor. Dort mußte, weil er ein Biermann-Gedicht über den Prager Frühling zum Jahrestag des Sowjeteinmarschs in die CSSR an Bäume genagelt hatte, ein junger Mediziner für dreieinhalb Jahre in den Knast.
Das Berufsverbot für die in der DDR renommierte Renft-Combo (SPIEGEL 49/1975) ist ein ähnlicher Fall: Die Band hatte mit Titeln wie dem Hit »Ketten werden knapper« und vor allem dem Republikflucht-Schlager »Rockballade vom kleinen Otto« den vom Parteichef Erich Honecker proklamierten Freiraum überschätzt.
Honecker hatte den Redakteuren der SED-Zeitungen gleich nach seinem Amtsantritt 1971 die Leviten gelesen: Sie sollten sich einmal der vielen Äußerlichkeiten erinnern, die von der Partei früher als klassenfeindlich bekämpft worden seien -- Kreppsohlen, Ringelsocken, Nietenhosen, lange Haare und Jazz. Das alles habe sich jedoch auch in der DDR durchgesetzt. Sein Fazit: Man müsse mit derlei »Stellvertreterkriegen« aufhören, zugleich aber verhindern, »daß Konsumgut zum Träger westlicher Ideologie« mißrät.
Die Veränderung zeigte sich rasch. Der Staatsapparat verabreichte Brot und Spiele: eine Luxus-Freßwelle durch HO-Läden und den Beat im Funk. Die unter Ulbricht als »langweiligstes Land der Welt« (Volker Brauns Schauspiel »Die Kipper") verrufene DDR mit ihrem verlogenen Gesellschaftsbild einer »sozialistischen Menschengemeinschaft« mauserte sich zur konflikt- und selbstbewußten Republik.
Die DDR orderte in den USA Levi's-Jeans und gab für ihre Textilfabriken blaues Licht. Antiquitäten, vordem nur für den Export gesammelt, und Meißener Porzellan erschienen auch in DDR-Auslagen. Im Kino flimmerte Plenzdorfs Problemfilm »Paul und Paula«, Theater spielten seine umstrittenen, zuvor als Roman veröffentlichten »Neuen Leiden des jungen W.«. Die Literaturzeitschrift »Sinn und Form« leistete sich eine kühne Kleist-Debatte und druckte die DDR-kritische »Unvollendete Geschichte« von Volker Braun. DDR-Jugendprogramme wie das Funkmagazin »DT 64« propagierten angelsächsische Rock-Stars und stellten lobend besonders gelungene Nachspielergebnisse von DDR-Gruppen vor.
Zu unvermittelt, zu massiv? Erich Honecker, der sich durch derlei Liberalisierungsmaßnahmen gegenüber seinem heute schon beinahe namenlosen Vorgänger Walter Ulbricht profilieren wollte und konnte, mußte wissen, daß er nur zweifelsfrei unpolitische Ventile öffnen durfte, wenn er nicht eine allgemeine und im Endeffekt auf die Parteiherrschaft zielende Debatte eröffnen wollte. Durch Beat und West-Schlager im DDR-Radio jedoch wurde auch der Empfang derselben Musik auf West-Wellen stillschweigend sanktioniert.
So dröhnen denn die schweren Elektrobaß-Rhythmen westlicher Heavy-Rocker an Samstagnachmittagen heute ganz ungeniert aus Transistorradios und Kassetten-Recordern biertrinkender Jugendlicher in der Fußgängerzone am Dresdner Hauptbahnhof. In der intimen Leipziger Bar »Treff 71«, wo fast jeder jeden zu kennen scheint, wird fast ausschließlich neueste US-Soulmusik abgespult. Und in der »Roten Diskothek« im Leipziger Bezirk Schleußig singen die Stammgäste bei Udo Lindenbergs »Boogie-Woogie-Mädchen« sogar den kompletten Text.
Der DDR-»Diskothekordnung« zufolge dürfen die dortzulande »Schallplattenunterhalter« genannten rund 8000 Disc-Jockeys überwiegend nur solche Musikstücke auflegen, die in sozialistischen Ländern hergestellt worden sind. Westliche Aufnahmen sollen nur dann in der Disco abgespielt werden, wenn sie in speziell dafür eingerichteten Sendungen des DDR-Funks mitgeschnitten und vom örtlichen Büro der Urheberrechtsgesellschaft AWA genehmigt worden sind. Trotz Strafandrohung bis zu 1000 Mark dudelt aber in den meisten Diskotheken Rock aus westdeutschen Kanälen.
Den Konservativen in Partei und Staat. vor allem vielen Lehrern, geht solche Liberalisierung seit langem zu weit. Sie klagen über wachsende Disziplinlosigkeit bei den Jugendlichen, mangelndes Interesse an ideologischen Fragen und einen zunehmenden Rückzug ins Private. Und sie bemängeln, daß die Parteispitze ihre Kreis- und Ortsfunktionäre gegenüber den sogenannten Assis (asoziale Jugendliche) in den Widersprüchen Honeckerscher Gesellschaftspolitik oft genug alleine läßt.
»Ungehindert«, klagte Ende letzten Jahres etwa ein Potsdamer Kulturfunktionär« »kann das West-Fernsehen hier bei uns den Biermann interviewen, und wir müssen uns mit den jungen Leuten abplagen, die es gesehen haben und jetzt nachmachen.«
Mit einem Kraftakt ohnegleichen hat die SED seit Honeckers Amtsantritt dem aufgestauten Unterhaltungsbedürfnis der DDR-Bürger entgegenzukommen versucht. Von 1971 bis 1974 stieg die Zahl der Kulturhäuser von 921 auf 963, die Zahl der Jugendklubs hat sich in der gleichen Zeit auf 4000 verdoppelt. 1975 wurden 5400 Räume in Klubeinrichtungen, darunter in 2100 Jugendklubs, umgebaut und modernisiert. Allein im vergangenen Jahr, das konnte Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann diesen Monat stolz verkünden, wurden in solchen Klubhäusern 450 000 Veranstaltungen mit 35 Millionen Besuchern durchgeführt.
Dennoch gelang es der DDR-Führung nicht, das Haupt-Unterhaltungsmedium ihrer Bürger einzuschränken: Rundfunk und Fernsehen aus der Bundesrepublik. Sogar in höchsten SED-Kreisen, gestand ein Kulturfunktionär dem SPIEGEL, gelte es als unschicklich, donnerstags zwischen 21 und 22 Uhr zu telephonieren: »Da sehen wir alle Kojak oder Columbo in der ARD.«
Mag sich der Adlershofer Fernsehfunk mit alten Spielfilmen, dem Entertainment »Ein Kessel Buntes« oder der Nachmittags-Beatshow »Rund« noch so sehr um Spannung und Kurzweil bemühen: Konkurrenzlos ist die DDR-Television lediglich in Dresden, im »Frequenzloch der Republik«. Dort, wo aus dem West-Äther fast nur der Deutschlandfunk (auf Mittelwelle), aber weder ARD noch ZDF auf dem Bildschirm zu empfangen sind, fehlt den Musik- und Mode-Fans die internationale Orientierungsmöglichkeit.
Daher bitten Max und Marion aus Dresden-Neustadt einreisenden West-Besuch regelmäßig um den neuesten Neckermann- oder Otto-Katalog: »Wir schneidern uns unsere Hosen selber und hätten sonst keine Ahnung, ob man jetzt eng oder ausgestellt trägt.« Daher übergab Volker, Facharbeiter in einem Großbetrieb, einem West-Gast einen Dresdner Kollektivwunsch an den Deutschlandfunk: »Ihr sendet zu wenig Rockmusik.«
Denn »Musikhören«, also Beat, Rock und Pop, ist nach einer Studie des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig mit Abstand die liebste Freizeitbeschäftigung des DDR-Jungvolks. An zweiter Stelle folgt der Spielfilm in Kino und Fernsehen; Lektüre belegt, weit abgeschlagen, den dritten Platz.
Unterhaltungs-Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik und popmusikalische Autarkie gelten der DDR-Spitze infolgedessen derzeit als kulturpolitisches Thema eins. Ein modernes Schallplatten-Preßwerk in Potsdam-Babelsberg wirft von 1976 an täglich rund 50 000 Langspielplatten auf den Markt, 53 Prozent der Produktion werden für Unterhaltungsprodukte eingeplant. Die LP »Du bist heute wie neu« des DDR-Spitzenentertainers Manfred Krug, vorletzte Woche vorab im Ost-Fernsehen präsentiert, soll im Herbst mit einer Startauflage von 100 000 Exemplaren ausgeliefert werden. Schon jetzt wird die Zahl der DDR-Tanzorchester und Popmusik-Gruppen, Amateure eingeschlossen, auf 20 000 geschätzt, dennoch animierte Peter Czerny, Generaldirektor des Komitees für Unterhaltungskunst, erst vor zehn Tagen wieder den Nachwuchs: »Neue Gesichter, Stimmen, Darbietungen werden gebraucht.«
Zum dritten Mal veranstaltet das Unterhaltungskomitee derzeit in Karl-Marx-Stadt einen »Interpretenwettbewerb« mit 26 Shows« bei dem so gut wie alles auftritt, was zwischen Rostock und Zwickau Klang und Namen hat. Wettbewerbe, Leistungsschauen, Förderprämien, Stipendien, Auftrittsvermittlung und kein Ende. Die DDR läßt sich ihre Paradiesvögel etwas kosten, gleichwohl werden die wenigsten von ihnen -- ebensowenig wie im Westen -- flügge auf »Welt-Niveau«.
Die Beat-Szene, monierte etwa das »Neue Deutschland«, leide an »kompositorischer Einfallsarmut«. Die Kultur-Wochenzeitung »Sonntag« fand DDR-Schlagertexte »beängstigend banal« und registrierte »Platitüden im Überfluß«. Und unentwegt fordert die Partei: »Humor, Humor, Humor!«
Wo hernehmen in einem Staat, in dem es vor lauter Leistungsdruck und starrem Alltags-Reglement nur wenig zu lachen gibt? Zugang zum Humor, zu den Kabaretts »Distel« in Berlin, »Pfeffermühle« in Leipzig oder »Herkuleskeule« in Dresden, zu erlangen, gilt in der DDR von vornherein als so gut wie aussichtslos. Hätte die »Herkuleskeule« letzten Dezember zum Start ihres neuen Programms alle 60 000 Kartenvorbestellungen angenommen, wäre das Haus schon am Premierentag bis 1985 ausgebucht gewesen.
Bei aller staatlichen Förderung sind die DDR-Entertainer einer Umwelt ausgesetzt, die fortwährend Verkrampfungen produziert. Plätze in Tanzcafés werden beispielsweise in Leipzig schon 14 Tage im voraus über die Informationszentrale am Hauptbahnhof gebucht. An Speiserestaurants prangt die Tafel: »Sie werden vom Objektleiter ordnungsgemäß placiert.«
Alles ist Ordnung, die jegliche fürs Schaugeschäft so unerläßliche Spontaneität untergräbt. In der Leipziger »Roten Diskothek« beispielsweise, einem durch kärgliche Dia-Psychedelik illuminierten Tanzplatz mit kühlem Eisdielen-Komfort, drehte der Disc-Jockey sogar am Faschings-Dienstag die Beatmusik leise und verordnete übers Mikrophon: »Hier setzt sich doch nicht etwa einer auf den Tisch!«
Im Hallenser »Halloren-Caf~"« durch gelegentliche Alkohol-Händel in der Saale-Stadt verrufen, wird ein braver Foxtrott zelebriert. »Wir brauchen uns«, sagt die Fließband-Arbeiterin Ingrid angesichts lethargischer Tänzer im »Stadtkeller« von Karl-Marx-Stadt, »nicht beim Tanz auszuleben. wir reagieren uns bei der Arbeit ab.«
Aber die ganze Wahrheit ist das wohl nicht. Mehr und mehr rebellieren Intellektuelle, Entertainer und Konsumenten -- mit Billigung eines Teils der SED -- gegen die lähmende Phantasielosigkeit des DDR-Kultur- und Unterhaltungsbetriebs. »Alles Glatte ist Lüge«, hat der E-Musik-Komponist Georg Katzer ("Baukasten für Orchester") jüngst in einem Radio-Kolleg verkündet, und Volker Braun polemisiert im Titel seines letzten Lyrik-Bandes »Gegen die symmetrische Welt«.
»Haltung«, so mokiert sich Leipzigs »Pfeffermühle« im aktuellen Programm über den DDR-Alltag, »ist die erste Bürgerpflicht.« Und als Conny, Hostess im gleichnamigen neuen Defa-Film, auf der Leinwand gegen den Partei-Stachel löckte und -- »Spießer« schreiend -- ihre Brigade-Versammlung verließ, brach, erst dieser Tage, im Leipziger »Capitol« spontaner Beifall aus. »Hostess«, ein opulent gemachter Unterhaltungsstreifen mit Ehe-Problematik von Rolf Römer, ist ein publikumswirksames Plädoyer für das Spontane, in dem Zweifel laut werden, Geschirr zerschellt und die Stern-Beatcomho aus Meißen aufspielt.
Die aber könnte, neben dem Jazzsänger und Schauspieler Manfred Krug. den Blues-Sängerinnen Christiane Ufholz und Uschi Brüning, den Schlager-Interpreten Frank Schöbel und Nina Hagen, den Liedermachern Wolf Biermann und Kurt Demmler, dem Günther-Fischer-Quintett sowie der mittlerweile aufgelösten Renft-Combo fürs Schaugeschäft in der DDR durchaus zukunftsweisend sein.
»Vergessen wir mal den Westen«. sagt Biermann: »Worum es bei uns augenblicklich geht, ist der Konflikt zwischen dem glatten Bonzen-Beat und dem ehrlichen Pöbel-Beat.«