Andreas Borcholte

Debatte über Corona-Lockerungen Aus der Traum von Solidarität?

Andreas Borcholte
Ein Kommentar von Andreas Borcholte
Neue Corona-Normalität? Leider ganz die alte. Je weniger der Ausnahmezustand sichtbar ist, desto freier drehen krude Theorien und purer Egoismus.
Einsamer Aufruf zu Solidarität und Empathie (Mitte April in Hamburg): Allzu kurze Ahnung eines Paradigmenwechsels

Einsamer Aufruf zu Solidarität und Empathie (Mitte April in Hamburg): Allzu kurze Ahnung eines Paradigmenwechsels

Foto: Daniel Reinhardt/ dpa

Dem Himmel sei Dank, dachte ich Ende der Woche beim Blick aus dem Fenster: Das Wetter ist schlecht und es ist kühl. Kaum etwas hilft gerade besser beim Befolgen der allgemeinen #Wirbleibenzuhause-Parole als richtig mieses Wetter.

Der "Berliner Kurier" sieht das aber zum Beispiel allerdings ganz anders: "Gewitter und Starkregen vermiesen das lange Wochenende", schreibt das Boulevardblatt . Die "sonnenverwöhnten Hauptstädter" müssten sich über den 1. Mai leider warm und wasserdicht anziehen. So ein Mist aber auch! Kein Wort steht in der Wetterstandsmeldung von Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen.

Sechs Wochen nach Einführung des sogenannten Lockdowns scheint sich nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland bei vielen tatsächlich jene zuletzt viel beschworene neue Normalität breitzumachen. Es ist offenbar ganz die alte. War da was?

Da war nicht nur was, da ist immer noch was: ein neuartiges Virus, das in vielen Fällen schwere Lungenerkrankungen auslösen kann und zum Tod führt. Noch immer wissen Mediziner zu wenig über Covid-19, um Patienten effektiv behandeln zu können, es gibt weder Impfstoffe noch wirksame Gegenmittel, es gibt lediglich Bemühungen, die Ansteckungsrate zu mindern - und damit überlastete Kliniken und den Verlust von Menschenleben zu verhindern.

Diese Maßnahmen waren bisher anscheinend so erfolgreich, dass Deutschland, anders als viele europäische Nachbarn, inmitten dieser weltweiten Viruspandemie mit bisher über 200.000 Opfern eine niedrige Sterberate und einen relativ stabilen, niedrigen Reproduktionswert vorweisen kann.

Was für ein Glück, was für ein Luxus!

Anders als die Menschen in Frankreich, Italien oder Spanien mussten die Deutschen noch nicht einmal eine strikte Ausgangssperre ertragen, sondern durften sich - unter mehr oder minder schweren Auflagen - frei bewegen. Vernunft, gegenseitige Rücksichtnahme und Gemeinschaftssinn machten die Gesellschaft stark genug für die ersten Wochen dieser Krise.

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Aber zumindest dieser Ausnahmezustand scheint zu Ende zu sein. Denn je weniger sich die Coronakrise im öffentlichen Leben offenbart, je unsichtbarer die Bedrohung durch den immer noch weitgehend unberechenbaren Virus im Straßenbild ist (es gibt eben keine Kühlwagen voller Leichen auf dem Alex, keine röchelnde Zombieapokalypse auf dem Ku'damm), desto mehr wandelt sich das solidarische "Wir müssen das jetzt zusammen bewältigen" wieder zum Individualberserkertum: "Ich will aber machen, was mir Spaß bringt."

Für eine Handvoll Lockdown-Lockerungen

Manche, darunter Grünenpolitiker Boris Palmer, wollen für eine Handvoll Lockdown-Lockerungen sogar über die Leichen von Alten und gesundheitlich Vorbelasteten gehen (sterben ja eh) oder wägen Wirtschaft und Würde gegen den Wert des Lebens ab - so wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) implizit in einem Interview . Andere fühlen sich nach nur wenigen Wochen im leichten Stubenarrest bereits derart von der Bundesregierung in ihren Grundrechten beschnitten, dass sie groteske Vergleiche zum Nationalsozialismus anstellen.

Das ist nicht nur ethisch unappetitlich und historisch absurd, es verdeutlicht auch, wie tückisch der diskursive Spielraum ist, den wir durch die zunächst ja durchaus besonnen ergriffenen Maßnahmen gewonnen haben. Im Ennui des durch die Virusbelagerung erzwungenen Füßestillhaltens drehen die abwegigsten Gedanken offenbar umso freier. Gerade mangels sichtbarer oder faktischer Evidenz der Krise konstruiert sich jeder seine eigene Realität aus dem medialen Diskurs des Fürs und Widers einerseits - und den persönlichen Ängsten, Zweifeln und Frustrationen andererseits.

Wenn die täglich gelieferten Zahlen zu Neuinfektionen angesichts des Blicks vom eigenen Balkon in die scheinbare Alltäglichkeit des eigenen Kiezes nur noch abstrakt wirken, wird die Wissenschaft zum Hexenwerk, die empirische Faktenlage zur Glaubenssache: Ich sehe keine Kranken, niemand transportiert Leichensäcke vor meiner Haustür - warum soll ich also meine Freiheit beschränken?

Die Fernsehbilder aus New York oder Bergamo sind weit weg, wenn draußen im Park nur ein paar Wackere eine Schutzmaske tragen und die Autofahrer schon wieder fröhlich im Stau stehen, auf dem Weg zu Baumarkt, Buchladen oder Friseur.

Der zum Polemisieren ebenso wie zum Brambasieren neigende Theaterveteran Frank Castorf brachte diesen Sprung eine globale Wahrnehmungsgemeinschaft zurück in den eigenen Saft im SPIEGEL-Interview  auf den Punkt:  Er habe sich noch nie in seinem Leben so beengt gefühlt, sagte der 68-Jährige, nachdem er beim Sinnieren über Brat- oder Suppenhuhn an der Fleischtheke auf die Wahrung des Mindestabstands zu den anderen Kunden aufmerksam gemacht wurde.

Mündig oder entmündigt?

Diese Unverschämtheit, diesen Eingriff in seine Rechte und Freiheiten, beschrieb er, Castorf, ausgerechnet einer in Paris lebenden Freundin. In Paris! Wo die Menschen nach Wochen strikt überwachter Ausgangssperre erst kürzlich wieder etwas dauerhafter an die frische Luft durften. Es sind ja gerade die weniger drakonischen Maßnahmen der deutschen Politik, die uns hierzulande eine Freizügigkeit mitten im Ausnahmezustand ermöglichen.

Voraussetzung für diese gefühlte Leichtigkeit des Seins war in den vergangenen Wochen der Konsens, dass jeder Einzelne in dieser Krise nicht nur eigenverantwortlich handelt, sondern sich auch als Teil eines Kollektivs der Gleichgesinnten begreift: Ich trage die Gesichtsmaske nicht nur zu meinem Schutz und halte Abstand, ich tue das auch, um die anderen zu schützen. Der Staat traut uns also grundsätzlich Mündigkeit zu - und sieht sich dank dieser großzügigen Laisser-faire-Politik paradoxerweise mit dem Argwohn einiger Trotzbürger konfrontiert, denen selbst die softeste Einschränkung ihrer Gewohnheiten wie Entmündigung vorkommt.

Der Aufklärungsimpetus und der solidarische Zusammenhalt der ersten zwei, drei Corona-Wochen waren also ein in der Rückschau allzu kurzer Moment, in dem es so schien, als würde die postfaktische Verwirrung der vergangenen Jahre und das Fake-News-Zeitalter von einem Paradigmenwechsel abgelöst, der auch eine Utopie enthielt: dass nämlich aus der Virenkrise eine sozial gerechtere, aufgeklärtere, emphatischere, vielleicht ja sogar wirtschaftlich nachhaltigere Welt entstehen könnte.

Diese Möglichkeit verblasst nun angesichts des im Zuge des anschwellenden Gezeters über Lockerungen und Gängelungen mehr und mehr, sie löst sich auf in Verschwörungstheorien, gefühlten Wahrheiten und dem Gift der Egozentrik. Wie trist es wäre, wenn wir zum erneuten Zusammenhalten erst einen Anstieg der Corona-Infektionen oder Schlimmeres bräuchten.

Vielleicht reichen ja aber vorerst auch ein paar weitere Tage der inneren Einkehr. Und vielleicht kühlt das zu erwartende miese Wetter ja das eine oder andere erhitzte Gemüt wieder herunter.

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