STÄDTEBAU / ARCHITEKTEN-TAGUNG Demut der Ratlosen
Zweimal im Laufe eines Menschenlebens haben Deutschlands Architekten die Zukunft verbaut:
> mit den geballten Schlafkasernen der Gründerzeit -- ihre lichtlosen Hinterhöfe wurden zu Brutstätten der Tuberkulose;
> mit den entballten Schlummer- und Trabantensiedlungen der Wohlstandszeit -- ihre durchsonnten und durchgrünten Einöden erwiesen sich als Nährboden für Neurosen.
Jetzt wissen »die Leute, die Häuser bauen« (so der Soziologe Hans Paul Bahrdt), nicht weiter und heischen rundum Rat: »Wie werden wir weiterleben?« lautete das Motto der diesjährigen deutschen Architekten-Tagung in Hannover, die am vorletzten Wochenende schloß.
700 von den insgesamt mehr als 21 000 bundesdeutschen Architekten -- allein in Baden-Württemberg wirken 8000 Baumeister mit dem Zeichenstift, so viele wie in ganz Frankreich -- trafen sich unter der grünspanüberzogenen Kuppel der Stadthalle Hannover. Und die derzeitige Bau-Baisse, schien es, bescherte ihnen Selbstbesinnung und bußfertige Einkehr.
»Mit einer Wohnung«, hatte einst der Berliner Milieu-Zeichner und Sozialkritiker Heinrich Zille über die steinernen Särge der Gründerzeit bemerkt, könne man »einen Menschen töten wie mit einer Axt«. Nicht ohne Bestürzung sahen sich Deutschlands Architekten nun den steinernen Zeugen ihres zweiten Sündenfalls gegenüber, der unter den Vorwänden »Sozialer Wohnungsbau«, »Trabantenstadt« und »Eigenheim« begangen wurde.
»Slurbs« -- dieses aus »slums« und »suburbs« zusammengezogene Schmähwort fand der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich, um Chaos und Elend der neuen Steinwüsten zu bezeichnen, die mit der Planlosigkeit eines Happening, wie »bunter Dreck«, zusammengekleistert worden seien.
Aber die deutschen Baumeister müssen sich ihren Ideen-Bankrott noch drastischer bescheinigen lassen -- auch aus den standeseigenen Reihen: > Star-Architekt Egon Eiermann: »Ich sehe mit Entsetzen diese Bunker aus Beton.«
> Expo-Designer Frei Otto, für seinen Zelt-Pavillon zur Weltausstellung in Montreal jüngst mit einem internationalen Preis ausgezeichnet: »Nicht länger dürfen wir so anmaßend bauen wie bisher, nämlich für hundert Jahre.«
Und während Eiermann sich für das Baumaterial Metall ausspricht ("Stahl ist wegnehmbar. Ihm fehlt der freche Anspruch auf Dauerhaftigkeit"), verblüffte Frei Otto in Hannover seine Kollegen mit einem destruktiven Ratschlag: Bei jedem Plan für ein größeres Bauwerk solle man künftig auch die Abbruchkosten gleich mit einkalkulieren.
Es war das erste Mal, daß Deutschlands Baumeister so öffentlich ihre Unsicherheit eingestanden -- Demut der Ratlosen trat an die Stelle einstiger Arroganz.
Nun möchten sich die Architekten, wie der Hannoveraner Städtebauer Friedrich Spengelin formulierte, nur mehr als »Erfüllungsgehilfen der Gesellschaft« verstehen -- und sie sind begierig auf Ratschläge: Historiker und Kybernetiker, Soziologen und Psychologen waren als Vortrags- und Diskussionsredner bestellt. Von ihnen, allen erhoffen sich die Architekten Richtschnüre für das, was sie in Zukunft bauen sollen.
* Oben rechts: Entwurf von Kikutake für die Bucht von Tokio; unten links: Entwurf von Yona Friedman für Paris.
Zwei Prophezeiungen glauben die Zukunftsforscher, mit einiger Aussicht auf Verläßlichkeit, für das Jahr 2000 wagen zu können:
> Mehr als 90 Prozent der dann rund sechs Milliarden Menschen werden städtisch leben -- schon jetzt bildet sich in Amerika, zwischen Boston und Washington, ein Häusermeer von 650 Kilometer Länge und in Europa, zwischen Calais, Straßburg und Hamburg, ein steinernes Dreieck mit 45 Millionen Menschen.
> Nicht »willenlose Konsum-Idioten« werden, wie der Sozialpsychologe Otto Walter Haseloff konstatierte, für das Jahr 2000 zu erwarten sein, sondern eine »dynamische Gesellschaft« mit vermehrter Freizeit und einem »vitalen Bedürfnis« nach sozialem Kontakt, überdies mit »gewandelten Familienformen«.
»Welche Art Gebäude wird diese Menschheit haben wollen?« fragte vor den versammelten Architekten der Berliner Bau-Historiker Julius Posener -- und fand als Antwort nur die Ächtung des bestehenden Konzepts: »Bestimmt nicht das Einfamilienhaus.«
Um so grotesker mutet an, daß die Renaissance des Schrebergartens mit umgrünter Hütte noch in voller Blüte steht: In den Vereinigten Staaten wurden während der letzten zwei Jahrzehnte 85 Prozent aller Neu-Wohnungen als Einfamilienhäuser errichtet. Und die Bundesrepublik lud sich seit 1957 (zweites Wohnungsbaugesetz) jährlich rund 200 000 Ein- oder Zweifamilienhäuser auf.
Auch in Hannover kam die Generation der jungen Utopisten beiläufig zu Wort, die solchem Hang zur Mini-Scholle zu begegnen wünschen -- mit > Raumstädten, die wie gewaltige Skelett-Strukturen Stadt und Land überspannen und vorfabrizierte Wohnzellen aufnehmen sollen (so der Franzose Yona Friedman und der Deutsche Eckhard Schulze-Fielitz),
> Turmstädten, zusammengefügt aus Kabinen, die an meilenhohen Pfeilern aufgehängt sind (so die britische Architektengruppe Archigram und der Züricher Trichterstadt-Ersinner Walter Jonas>,
> Schwimmstädten, aus Wohninseln auf dem Meer, die bis zu 30 Meter in die Tiefe reichen (so der Japaner Kyonori Kikutake).
Doch solch hochfliegende Pläne haben wenig Aussichten in einem Land, in dem auch bescheidenere Projekte wie das für Hamburg vorgeschlagene »Alsterzentrum« (SPIEGEL 29/1966) von den Rathaustischen gefegt werden, noch ehe sie ernstlich diskutiert sind. Bauwerke, höher als die Kirchturmspitzen, sind schon auf dem Skizzenblock verdächtig.
Daß lähmende Bau-Bürokratie, daß Grundbesitz und Gemeindegrenzen in Westdeutschland nach wie vor unantastbar scheinen, wurde auch in Hannover wieder beklagt. Ähnlich hatte auch der Berliner Gartenarchitektur-Professor Walter Rossow unlängst konstatiert: »Alle bestehenden Gesetze für Raum- und Landordnung sind völlig unzureichend.« Und baldige Wendung zum Besseren sei da unwahrscheinlich, »weil diese Probleme parteipolitisch unergiebig sind«.
Daß Deutschlands Architekten auch versagten, wenn ihnen derlei Hemmnisse nicht auferlegt waren, beweisen unbefriedigende Neu-Städte wie in Bremen ("Neue Vahr") und Berlin ("Charlottenburg Nord"). Daß sie sich gleichwohl von den berufenen Planern der Gesellschaft enttäuscht und verlassen sehen müssen, scheint in der Tat durch mißliche Erfahrungen begründet:
Als Anfang dieses Jahres vor den Parlamentariern in Bonn der neueste Raumordnungsbericht des Innenministeriums diskutiert werden sollte, waren die Bänke im Bundestag zur Hälfte leer. Als vorletzte Woche die Minister Lauritzen, Lücke, Stoltenberg und Schiller zur Bau-Diskussion nach Hannover eingeladen wurden, sagten sie sämtlich ab.
So sahen sich Deutschlands Baumeister mit ihren berechtigten Selbstzweifeln allein -- von den Politikern im Stich gelassen und von den Prophezeiungen der Futurologen eher in Panik versetzt als schon erleuchtet.
Und sie verließen ihre Tagung ratloser, als sie gekommen waren. Hannovers Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, gerühmt als der Zukunftsmutigste unter den deutschen Städteplanern: »Heute weiß ich mehr als gestern -- daß ich noch weniger weiß.«