»Denkmäler sind Stolpersteine«
Koselleck ist der Altmeister der Geschichtstheorie in Deutschland. Mit seinen Studien zum Ursprung der Moderne im 18. Jahrhundert, vor allem aber als Herausgeber des Standardwerks »Geschichtliche Grundbegriffe« hat der Bielefelder Professor weithin Schule gemacht. Seit Jahren erforscht Koselleck, 73, Kultur und Geschichte der Kriegsdenkmäler.
SPIEGEL: Herr Professor Koselleck, Sie haben kürzlich heftig gegen die geplante riesige Gedenk-Platte für die Opfer des Holocaust in Berlin protestiert. Auf dem ersten von drei geplanten Kolloquien wurde ähnliche Grundsatzkritik laut. Wie soll es in Berlin weitergehen?
KOSELLECK: Die Jury der Auslobenden, vor allem des »Förderkreises zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas e. V.«, meint, die eingeladenen 90 Fachleute sollten nur beraten, da alles schon beschlossen sei. Aber ich finde, die Probleme müssen ganz neu diskutiert werden. Am besten sollte das Parlament entscheiden.
SPIEGEL: Was wurde nicht durchdacht?
KOSELLECK: Selbst simpelste Geschmacksfragen. Zum Beispiel verspricht die angehobene Grabplatte des geplanten Monuments eine christliche Auferstehung - und das für Juden? Oder: An der Oberkante der Platte müßte doch ein Gatter angebracht sein, womöglich gar mit Stacheldraht, um Abstürze oder Selbstmord-Sprünge zu verhindern. Oder es müßte dauernd Polizei patrouillieren. Alles absurde Vorstellungen ...
SPIEGEL: Bei den anderen Entwürfen gibt es solche Schwierigkeiten vielleicht nicht.
KOSELLECK: Mag sein. Aber die eigentliche Unklarheit liegt ja viel tiefer. Schon die Ausschreibung war nicht präzis und begründet genug. Wenn hier das erste nationale Denkmal von Tätern für Opfer im Land der Täter entstehen soll, dann muß ganz eindeutig sein, wer die Täter waren und wer die Opfer.
SPIEGEL: Für Lea Rosh und ihren »Förderkreis« ist eines ganz klar: Die Opfer waren die Juden.
KOSELLECK: Aber wo bleiben dann die vielen Millionen umgebrachter Russen, ermordeter Polen, beseitigter Homosexueller, vergaster Behinderter - von Bibelforschern und politischen Widerständlern zu schweigen? Als Nation, die diese Massenmorde organisiert hat, müssen wir in einer zentralen nationalen Gedenkstätte doch wirklich aller Opfer gedenken. Millionen ermordeter Russen sind namenlos geblieben, weil sie von Stalin als Verräter diskriminiert und, sofern sie überlebten, in die eigenen Sowjet-Konzentrationslager verbannt wurden. Bis heute sind sie weithin verfemt.
SPIEGEL: Sollte denn die Neue Wache mit der vergrößerten Kopie einer Kollwitz-Skulptur nicht gerade ein Mahnmal für alle sein?
KOSELLECK: Sie schließt aber Juden und Frauen aus. Die überlebende Mutter, die ihren Sohn beweint, war nur nach 1918 ein durchschnittlicher historischer Befund. Damals ist die Form der Pietà, der um Jesus trauernden Maria, für Kriegerdenkmäler auch hundertfach okkupiert worden, längst nicht nur von Käthe Kollwitz. Nach dem Zweiten Weltkrieg stimmt dies Modell nicht mehr. Von den fünf bis sechs Millionen ermordeter Juden waren mindestens die Hälfte Frauen, von den Fliegertoten und Flüchtlingen sicher die Mehrheit Frauen und Kinder. Da eignet sich die überlebende Mutter als Denkmalsgestalt kaum. Zudem hat eine Pietà eben seit jeher antisemitische Untertöne.
SPIEGEL: Hätte ein anderes Denkmal in der Neuen Wache den jetzigen Plan überflüssig gemacht?
KOSELLECK: Wahrscheinlich nicht, selbst wenn es ganz abstrakt gewesen wäre oder ein Negativdenkmal, etwa in die Erde versenkt oder dergleichen. Die Inschrift, die noch in der Nacht vor der Eröffnung in aller Eile gegossen wurde, nennt nach Herrn von Weizsäckers etwas predigerhaftem Ton einzeln alle »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«. Viele Gruppen, von der Mitte bis ganz links, haben sofort dagegen protestiert, jedenfalls alle, die nicht gemeinsam mit den einstigen Tätern erinnert und betrauert werden wollen.
SPIEGEL: Was soll denn an einer so umfassenden Gedenkformel verkehrt sein?
KOSELLECK: Opfer, das bedeutete ja bis zum Ende des Dritten Reichs etwas Positives, Aktives: Die Soldaten opferten sich für Großdeutschland, das war geläufig. Nach dem Krieg blieben diese Toten Opfer, aber sie wurden unterderhand zu Opfern des Faschismus. Sie wurden zu passiven Opfern umgefremdet, wenn man so will - ein unglaublicher Vorgang, über den keiner laut nachgedacht hat.
SPIEGEL: Mit dem geplanten Holocaust-Denkmal könnte das nicht passieren.
KOSELLECK: Sicher, aber dort soll eben ausschließlich an Juden erinnert werden - übrigens nicht einmal an diejenigen, die durch Euthanasie-Mord umkamen. Wenn eine Gruppe ihr Denkmal bekommt, haben aber die anderen das moralische Recht auf ein eigenes. Seit 1992 etwa ist ein Denkmal für Sinti und Roma im Gespräch, beispielsweise zwischen Reichstag und Brandenburger Tor. Erstens ist der Ort strittig, zweitens fehlt das Geld, und drittens würde das Denkmal natürlich von niemand besucht werden außer den Nachkommen der Opfer. Aus reinem Zugzwang, weil alle Opfergruppen einander eifersüchtig belauern, entstünde eine Hierarchie von Denkmälern, die sich, irrsinnig genug, an Zahlen orientierte ...
SPIEGEL: ... und dazu, noch perverser, an den Sortiermustern der Nazis.
KOSELLECK: Genau. Die verschiedenfarbigen Dreiecke der KZ-Insassen kehrten nach 50 Jahren zurück, als Denkmäler erneuert. In Lager-Gedenkstätten geht das nicht anders. Aber sonst? In Berlin sollten doch wirklich alle vom deutschen Terrorsystem Ermordeten erinnert werden.
SPIEGEL: Wie dürfte Ihr erhofftes Einheitsdenkmal denn aussehen?
KOSELLECK: Sagen kann ich das nicht. Diese Provokation muß man schon an die Künstler weiterreichen. Daß von den über 500 Entwürfen kaum einer akzeptabel schien, zeigt, wie schwierig es wird.
SPIEGEL: Überall sind die öffentlichen Kassen leer. Da ist mancher schnell bei der Frage angelangt: Wozu überhaupt der ganze Mahnmal-Aufwand?
KOSELLECK: So wurde schon bei vielen Denkmälern gefragt. Einige Kriegsmonumente sind auch mit Stiftungen verknüpft. Der Pariser Invalidendom zum Beispiel ist eine Mischform, zu der Rentenzahlungen gehörten. Auch Musikhallen oder ähnliches wurden häufig zum Gedenken eingerichtet. Aber all das sähe, wenn es um unsere moralische Verpflichtung für ein zentrales Holocaust-Mahnmal geht, zu beliebig und harmlos aus - wie etwa auch der Park, den jetzt einige anstelle der fatalen Steinplatte vorschlagen.
SPIEGEL: Ganz gleich, wie das Mahnmal aussehen mag: Wer soll, wer wird dort eigentlich Buße tun?
KOSELLECK: Von den echten Tätern lebt ja so gut wie keiner mehr, und es ist sehr schwer, stellvertretende Reue für andere zu übernehmen. Also sind Sühne, Buße und Reue, abgesehen von ihrem christlichen Unterton, wenig geeignete Vokabeln. Man darf auch nicht wirklich auf Vergebung der Schuld hoffen. Für den Holocaust könnte, glaube ich, kein Denkmal wirklich Reue hervorrufen, schon gar nicht ein Erlösungsritual in Gang bringen und halten.
SPIEGEL: Es bleibt also bei der Erinnerung. Würde aber ein universelles Mahnmal nicht das Gedenken so stark bündeln, daß es anderswo wie entsorgt erschiene?
KOSELLECK: Die Gefahr gibt es. Die Leute vom geplanten Dokumentationszentrum »Topographie des Terrors« möchten das Mahnmal deshalb heruntertrimmen zur »Denkstätte«. Auch Ignatz Bubis will eher etwas Bescheidenes - eine gute Chance, das Gedenken ins Stille zu ziehen und so auch vom Touristen-Ansturm freizuhalten.
SPIEGEL: Ein Mahnmal nur für Staatsempfänge?
KOSELLECK: Keineswegs. Aber jedes Denkmal ist eben eine Versteinerung oder Verbronzung. Denkmäler kommen immer als Abschluß. Daß sie wirken, setzt im Grunde einen Kult voraus. Vor langer Zeit, bei privaten Sühnekapellen im christlichen Spätmittelalter etwa, ging das. In einem weltlichen Staat dagegen können wir keinen Kult entwickeln. Er würde sofort zur Ideologie. Das hatten wir im Dritten Reich, und es führte zu Lächerlichkeiten und Massenmorden. Außer der privat-religiösen sehe ich nur zwei Möglichkeiten. Als erste natürlich die immer neue rationale Erklärung - »wie war es möglich«. Das ist sinnvoll und auch Aufgabe der Historiker.
SPIEGEL: Dem Nacherleben hilft das aber wenig. Von Emotionen, vom Tun der Täter wie vom Grauen der Opfer wird so kaum die Rede sein.
KOSELLECK: Genau. Man kommt sozusagen bis an die Gaskammern heran, aber nicht weiter. Deshalb, zweitens, die moralische Erklärung. Die ist einfach, darüber braucht man nicht zu diskutieren. Aber die Argumente werden durch moralischen Nachdruck nicht stärker, sie stumpfen sogar ab. Darum auch die Überlegung, ob nicht realistische Bilder sinnvoller sein können als abstrakte Denkzeichen.
SPIEGEL: Wirklich? Der Bildhauer Henry Moore meinte, für ein Holocaust-Denkmal müsse jemand ein Künstler vom Range Michelangelos sein. Läßt sich die perfekte Ausrottung jemals bildlich einholen?
KOSELLECK: Das halten eben viele für unpassend. In Auschwitz-Birkenau ist deshalb das figurale Denkmal lange nach dem Krieg durch ein abstraktes ersetzt worden. Bilder sind fast immer problematisch; darauf müßten die Täter sich unter Umständen sogar selbst als Mörder zeigen. Hier wird es natürlich sehr delikat - in Berlin würde so eine Darstellung am Ende noch pro-nazistisch gedeutet, ähnlich wie die Platte mit Millionen von Namen gar als perverser Triumph verstanden werden könnte. Vielleicht muß man fordern, daß keine derart positive Aussage gemacht wird.
SPIEGEL: Welche andere dann?
KOSELLECK: Zum Beispiel ein Klotz mit geschlossener Tür, wie in Wien geplant, oder ein Tor, das man nicht durchschreiten kann, weil es durch ein Gitter verschlossen ist. Solche Denkmäler, die Unzugänglichkeit und Zwangslagen hervorrufen sollen, gibt es natürlich schon: Spalte oder Risse etwa, die einen Durchblick freigeben und doch am Weitergehen hindern.
SPIEGEL: Sind das nicht meist nur gebaute Metaphern - unmögliches Wegschauen, Einsicht ins Unfaßbare, Innehalten vor dem Nichts?
KOSELLECK: Sicher, und ich weiß nicht, ob so etwas für Berlin reicht. Aber ganz ortloses Gedenken reicht eben auch nicht. Schweigeminuten werden selbst in Israel von verschiedenen politischen Gruppen an unterschiedlichen Tagen zelebriert. Irgendwann fühlt man sich nicht mehr gebunden, dann ist es leicht, so einen Brauch zu brechen oder abzuschaffen ...
SPIEGEL: ... während ein Denkmal sichtbar störend bleibt.
KOSELLECK: Ja, ein Stolperstein. Ich kenne allerdings nur wenige Kriegsdenkmäler, die wirklich zur Reflexion zwingen: zum Beispiel das Vietnam Veterans Memorial in Washington. Wer dort seine Toten sucht, sieht sich selbst in den SPIEGELnden Granitplatten. Wie das wirkt, zeigt sich daran, daß Angehörige dort immer wieder Blumen und Botschaften hinterlegen.
SPIEGEL: Privat mag ein Gedenk-Ritual fortleben, solange Familien sich noch erinnern. Aber ist monumentales gemeinschaftliches Andenken nicht historisch längst überholt?
KOSELLECK: Zumindest kommt die Geschichte der Kriegerdenkmäler an ein Ende. Die Flut von Monumenten nach dem Ersten Weltkrieg war der Höhepunkt des Kultes. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich, daß nie genug und nie abschließend an die Katastrophe erinnert werden kann - daher die Negativdenkmäler und Prozeßdenkmäler, die umgedrehten Pflastersteine von Jochen Gerz oder anderes.
SPIEGEL: Historiker schreiben jetzt immer mehr Bücher über das Gedenken selbst, auch sogar über das Vergessen als nötigen Teil der Erinnerung. Ist vielleicht das die neue Denkmalsform?
KOSELLECK: Eher ihre Aufhebung. Die Reflexionskultur hat sich verselbständigt, und darin deutet sich das Ende der alten Erinnerungskultur an - ein säkularer Vorgang, auch symbolisch ein Ende des Historismus. Die Gründe sind leicht zu nennen: Es gibt immer weniger Kontinuität, in der Familie wie in den politischen Handlungseinheiten.
SPIEGEL: Wie findet dann in Zukunft Gedenken statt?
KOSELLECK: In sprachlichen Leistungen. Die bleiben das A und O der Erinnerung.
SPIEGEL: Sie meinen die Arbeit Ihrer Kollegen, der Historiker?
KOSELLECK: Nicht nur, auch der Politiker und besonders der Schriftsteller. Sprache ist oft wirksamer als alle materialen Erstarrungen: Jewgenij Jewtuschenko hat mit seinem großen Gedicht »Babi Jar« das dortige Massaker überhaupt erst in die Erinnerung der Menschen zurückgerufen. In Deutschland ist Paul Celans »Todesfuge« schon fast abgegriffen durchs häufige Zitieren - auch sprachlich gibt es eben Grenzen. Bleibt nur übrig, dieses Grenzbewußtsein wachzuhalten und zu schärfen.
SPIEGEL: Herr Professor Koselleck, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Doja Hacker und Johannes Saltzwedel im HamburgerWarburg-Institut.