HEINZE Der Affe sang Tenor
Beim Märchenerzähler Wilhelm Hauff
kann der Orang-Utan Schach spielen, bei der Lyrikerin und Librettistin Ingeborg Bachmann kann er Goethe zitieren. Bei Hauff lebt er in der fränkischen Kleinstadt Grünwiesel, bei Ingeborg Bachmann in der thüringischen Residenz Hülsdorf-Gotha. Wilhelm Hauffs Affe ruht im Buch »Märchen für Söhne und Töchter gebildeter Stände« von 1826, Ingeborg Bachmanns Affe verbeugte sich vorige Woche vor Berliner Publikum: Er ist der Titelheld von Hans Werner Henzes jüngster Oper »Der junge Lord«, die unterm Düsengeheul sowjetischer Jagdbomber in der »Deutschen Oper Berlin« geprobt und dann uraufgeführt wurde.
Das im Auftrag des Opernhauses geschriebene, vom Generalintendanten Gustav Rudolf Sellner inszenierte, von einem italienischen Bühnenbildner (Filippo Sanjust) ausgestattete, von einem deutschen Dirigenten (Christoph von Dohnányi) geleitete und von amerikanischen und deutschen Sängern vorgetragene Musikwerk hatte beim Premierenpublikum (20 Minuten langer Applaus und 49 Vorhänge) und bei der Kritik durchschlagenden Erfolg. »Die Welt«, enthusiasmiert: »Henze ist mit diesem neuen Werk nichts Geringeres gelungen als die Wiedergeburt der Opera buffa im Geiste einer neuen, geläuterten Tonsprache.«
Das Publikum hörte und honorierte, daß sich Henze
- wie schon bei seinen letzten Arbeiten - von der Zwölfton-Technik (Dodekaphonie) wieder entfernt und zur tonalen Musik zurückbekehrt hat.
Henze, 38, der bisher fünf Symphonien, Kammermusik, Ballette und sechs große Opern komponiert hat, findet, daß »die Wiener und die post-expressionistische Schule - genauer gesagt, die mit den zwölf emanzipierten Halbtönen arbeitende - keine Vokabeln für Heiterkeit hat«. Er aber spürte, daß »die Zeit zu einer komischen Oper gekommen sei«.
Als Libretto für die geplante Opera buffa erbat der Komponist ("Immer mehr wird Musik mein Leben an sich") bei der Dichterin Ingeborg Bachmann, 38 ("Das dreißigste Jahr"), eine Bearbeitung der Shakespeare-Komödie »Verlorene Liebesmüh«. Die Österreicherin Bachmann hatte für Henze bereits Dostojewskis Roman »Der Idiot« zu einer Ballett-Pantomime und Heinrich von Kleists Gehorsamsdrama »Der Prinz von Homburg« zu einem Operntext umgeformt.
Monate später aber fand Henze heraus, daß Ingeborg Bachmann von seinem Vorschlag »nicht gerade begeistert« war.
Henze: »Wir verbrachten gemeinsam einen wenig fröhlichen Abend. Platzende Projekte ringsum.« Am nächsten Tag schlug die Bachmann die Parabel »Der junge Engländer« von Wilhelm Hauff als Librettovorlage vor, und Henze akzeptierte sofort.
Die Parabel ist eine von vier Geschichten, die der Romantiker Wilhelm Hauff (1802 bis 1827) in den »Scheik von Alessandria und seine Sklaven« eingebaut hat; sie wird dem Scheik und seinen Gästen von einem freigelassenen deutschen Sklaven erzählt: Ein Fremder dressiert einen Affen, den er einem Wanderzirkus abgekauft hat, und führt ihn als Neffen aus England in die Kleinstadtgesellschaft ein, die alsbald das eigentümliche Gebaren des Tieres für modisch nimmt und nachahmt. Als der Affe als Affe entlarvt wird, ist der Fremde abgereist und hat den fränkischen Kleinstädtern brieflich den Rat hinterlassen, den Scherz »als eine gute Lehre« aufzunehmen. Nüchterner Kommentar eines muselmanischen Zuhörers: »In Frankistan möchte ich nicht todt sein.«
Ingeborg Bachmann - »Ich glaube, ich habe, nachdem ich das einmal gelesen habe, nicht wieder in diese Geschichte hineingesehen« - erfand dazu eine Liebesstory, die an der Zuneigung des Mädchens zum Affen beinahe ein höllisches Ende nimmt; sie erfand Szenen mit Festaufmärschen, Zirkusvorführungen, Damenkränzchen und Klavierspiel, und was sich Henze sonst noch als Anlässe für seine Musik wünschte.
Nicht erfunden hat sie die Hauffsche Szene, wo auf der winterabendlich eingerichteten Bühne entsetzliche Schreie aus dem Haus des fremden Sir Edgar dringen. Ein Laternenanzünder, erschreckt vom Gejaul und Gekreisch, alarmiert die Obrigkeit. Der Sekretär des Fremden gibt Auskunft: »Sir Edgars Neffe, der junge Lord Barrat, der kürzlich hier aus London eingetroffen ist, erhält von meinem gnädigen Herrn des Abends Unterricht in deutscher Sprache. Und Deutsch ist eine schwere Sprache. Schläge sind manchmal vonnöten.«
Später gibt der Affen-Neffe Proben seines eingeprügelten Könnens. Er rezitiert vor den thüringischen Kleinstadtbürgern in einer Duettszene zuerst Allgemeinplätze ("Was Sie nicht sagen ») und dann so goldene Goetheworte wie: »Ein bedeutend ernst Geschick waltet übers Leben« oder »Bleibe guter Geist euch hold, der im Stillen lehret.«
Über das Verhältnis von Musik und Text in Henzes Oper meditierend, bedauerte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung": »Durch die Musik gehen leider manche dieser Sprachnuancen verloren.«
Die Arbeit des Librettisten, sagt die Dichterin, verlange »in jedem Fall ein Hintanstellen der eigenen Arbeit unter die allein wichtige des Komponisten«; bei ihren ersten Versuchen, Libretti zu schreiben, habe sie noch »Arien mit Gedichten, Rezitative mit Dialogen« verwechselt.
Um die Autorin zu ihrem entsagungsvollen Geschäft zu zwingen, berichtet Henze, habe er Ingeborg Bachmann sechs Wochen lang in sein Haus bei Rom eingesperrt: »Ausbrüche zu den römischen Couturiers wurden verhindert, sogar einen Anfall von Zahnschmerz sah ich nur als 'Flucht in die Krankheit'.« So sei der Operntext nach sechs Wochen fertig geworden.
Der Generalintendant der Deutschen Oper Berlin dagegen, Gustav Rudolf Sellner, hatte in einem Beitrag für die Musikzeitschrift »Melos« den »Jungen Lord« deswegen als einen Glücksfall bezeichnet, weil nicht nur der Komponist bei seiner Arbeit in Berlin alle Beteiligten von Anfang an gekannt habe, sondern weil auch das Libretto von Ingeborg Bachmann in Berlin fertig geworden sei. Sellner auf die Frage, welche Version denn nun stimme: »Beide.«
Tatsächlich hatte Henze während des Komponierens immer neue Wünsche angemeldet ("wäre es gut, wenn Du mir noch ein paar Sätzchen für die Frau OberjustizratHasentreffer und die Hufnagel schreiben würdest ..."); und während der Proben zur Uraufführung hat sich an der Oper auch noch einiges geändert.
Das Spielpersonal besteht jetzt, außer einem Schauspieler, der bis zum Schluß stumm bleibt, aus 16 Sängern, drei Artisten, einem Chor, einem Kinder-Chor und zeitweilig, außer dem Orchester unter der Rampe, aus einer zweiten Kapelle auf der Bühne. Der Affe singt Tenor (Loren Driscoll).
Henzes zuweilen schmetternd illustrierende, zuweilen lyrisch begleitende Musik steckt voller Anspielungen - auf Bizets »Carmen«, auf Lanners Walzer »Die Schönbrunner« und auf die musikalische Stilistik Igor Strawinskys. Sie versagt sich aber, obwohl für eine Opera buffa geschrieben, jede Parodie ernster Musik. Der Erfolg: Henzes Musik klingt streckenlang weniger lustig als elegisch
- ja melancholisch.
Das Trillerpfeifen-Echo von der Galerie, von frühen Henze-Premieren her Tradition, bei späteren Aufführungen immer schwächer geworden, blieb diesmal aus. Konstatierte der Kritiker Stuckenschmidt: »Ruhm kommt manchmal wie eine Lawine.«
Tenor Driscoll als Opern-Affe
Kann Goethe zitieren
Henze-Oper »Der junge Lord": Schläge sind vonnöten
Texterin Bachmann, Komponist Henze
Ins Haus gesperrt