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Der arme Heinrich

Von Hans Magnus Enzensberger *
Von Hans Magnus Enzensberger
aus DER SPIEGEL 30/1985

Die Brüder Grimm haben getreulich und für alle Zeiten aufgeschrieben, was es mit der klugen Else und mit dem starken Hans auf sich hat, mit Ferenand getrü und Ferenand ungetrü. Dagegen das Märchen vom armen Heinrich fehlt in ihrer Sammlung. Es ist ein anachronistisches Märchen, das sich nicht im Mittelalter zugetragen hat und auch nicht im Biedermeier, sondern zu unseren Lebzeiten.

Der arme Heinrich ist in einer Stadt am Rhein aufgewachsen, die längst verschwunden ist, und in einem Land, das es nicht mehr gibt, dem verbitterten, angstvollen Deutschland der zwanziger Jahre. Das Land wählte seinen Hitler, und der arme Heinrich ging bei einem Buchhändler in die Lehre. Ausgezogen in einen Krieg, den er verabscheute, verwundet, gefangen, zurückgekehrt mit einem leeren Rucksack und in zerlumpten Kleidern in die verwüstete Stadt. Dann begann die Arbeit, der Aufstieg, der Erfolg. Der arme Heinrich errang die höchsten Ehren der Welt und aß mit einem König im Norden zu Abend.

Aber das war kein Happy-End; Heinrich Böll war der Held eines bösen, höhnischen Märchens. Ein Mißverständnis war geschehen, wie es einem nur im Alptraum zustößt. Denn was da wieder hochkam, nach oben wollte, ein Wunder aus den Ruinen zauberte, das war nicht er, das waren die anderen. Mitgefangen, mitgehangen! Heinrich Bölls Erfolg parodierte den der Lufthansa, der Deutschen Bank, der Daimler-Benz AG, den Erfolg einer ganzen Republik, gegen den er sich mit Händen und Füßen wehrte.

Der arme Heinrich wurde reich. Nicht daß er das Geld zurückgewiesen hätte mit dem Eifer des Sektierers, der gerunzelten Stirn des Puritaners. Aber er liebte es nicht, und die Reichen verstand er so wenig, daß er, der Erzähler, nicht einmal imstande war, sie darzustellen. Er half sich, indem er immer andere fand, denen er helfen konnte. So wurde er das Geld wieder los. Nur die Ehrungen konnte er nicht abschütteln. Er ließ sie über sich ergehen wie einer, der im Regen stand.

Im übrigen hat er alle, die ihn lasen und nicht lasen, vierzig Jahre lang gestört. Er paßte nicht zu dem Land, in dem er lebte, über das er schrieb, das ihn mit seinem alten Haß und seiner neuen gebrechlichen Zuneigung verfolgte. Den Mafiosi der Politik ist er vom ersten Augenblick an unheimlich gewesen. Einem Menschen, der, wie Geißler, fähig ist, sich von einer Minute zur anderen den Geifer vom Mund zu wischen, um dem wehrlosen Toten einen gerührten Nachruf zu widmen, müssen die altertümlichen Tugenden des armen Heinrich wie die Wahnvorstellungen eines gefährlichen Narren vorkommen.

Aber auch den Kunstrichtern hat Heinrich Böll es nie recht machen können. Mochten ihre Urteile zutreffen oder nicht, ihr Ton hatte stets etwas Herablassendes. Mit den Anhängern des Ewig Schönen verdarb er es dadurch, daß er Ansichten hatte, die ihn für die Rolle des Repräsentanten disqualifizierten; die Anhänger des Ewig Schönen brauchen immer einen Goethe, möge er nun Gerhart Hauptmann heißen oder Thomas Mann. Der arme Heinrich aber hat das Ende der Bescheidenheit zwar verkündet, doch was ihn betraf, so war er außerstande, von ihr Abschied zu nehmen.

Denen, die es mit dem Ewig Neuen halten, waren seine Geschichten allzu einleuchtend. Jeder konnte sie verstehen. Es fehlte ihnen das Schrille und

Marode, das Übertriebene und Abwegige der Moden. Auch daß er ein guter Mensch war, hat seinem literarischen Ruf geschadet. Noch das allerwinzigste Genie weiß, daß Kunst, wie Not, kein Gebot kennt. Wehe dem, der es nicht fertigbringt, seinen Egoismus auf die Spitze zu treiben und ein Monster zu sein oder wenigstens zu scheinen! Wer das Odium der Gutmütigkeit auf sich lädt, wie soll der ernst genommen werden?

Statt dessen wurde der arme Heinrich von den guten Menschen adoptiert, und er wird wohl gewußt haben, was ihm bevorstand, als er sich in ihre Hände begab. Sie machten sich sofort daran, eine moralische Instanz aus ihm zu kneten, eine Vorzeigefigur, den ganz anderen Deutschen, der dafür zuständig war, die Schweinereien einer ganzen Nation wettzumachen. Er wehrte sich, so gut er konnte, mit einem Humor, der abgründiger war, als es scheinen mochte, und mit einem Understatement, das nicht von deutschen Eltern war.

Doch seine Freunde wußten so gut wie seine Feinde, wo Heinrich Bölls schwache Stelle zu finden war: Ihm fehlte die Gleichgültigkeit; und so haftete er am Ende für alles, für Nicaragua und für die Pensionen der deutschen Schriftsteller, für Solschenizyn und für den Frieden, und die Überforderung nahm kein Ende.

Ich glaube, daß er es oft satt hatte. Er sah den hektischen Sprüngen seiner Landsleute nach, sorgenvoll, melancholisch, erstaunt darüber, daß immer wieder irgendein Hetzer über ihn herfiel. Dieses Erstaunen war ihm durch keine Erfahrung auszutreiben. Er wußte ja nur allzu gut, mit wem er es zu tun hatte, und doch schien er denen, die ihn anbrüllten, immer wieder aufs neue verwundert zuzuhören, den Kopf leicht zur Seite geneigt, aufmerksam, geduldig, und immer wieder antwortete er ihnen leise, entschieden, eigensinnig. Einmal hatten sie ihn fast so weit, daß er ausgewandert wäre, nach Irland. Natürlich hat er es nicht übers Herz gebracht.

Beklagt hat er sich selten, aber er sah oft müde aus, wurde krank, ein heiteres Alterswerk war nicht von ihm zu erwarten, und die Naivität, die Unbefangenheit drohte ihm abhanden zu kommen. Es ist traurig, daß er nicht mehr da ist. In einem Land, das keine Märchen mehr erträgt, war der arme Heinrich der letzte seinesgleichen. Niemand wird seinen Platz einnehmen.

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