Der Burgvogt drückt den Kunstbart fest
Es ist Mitternacht in der Gruft derer von Arnsbach. Graf Ludwig, jüngst vergiftet, ruht im Totenschrein. Da schleicht ein Finsterling heran, hebt frevlerisch den Deckel und stutzt. Denn der Graf regt sich und fragt hohl: »Wo bin ich?«
Bayreuths singende Recken netzten noch die Windeln, Salzburgs Jedermann kam noch nit vor, von Festspielen zu Bregenz, Hersfeld oder Wunsiedel war überhaupt noch keine Rede -- da gab es sie schon: die »Ritterspiele Kiefersfelden«.
Seit rund 150 Jahren macht sich das bayrisch-tirolerische Grenzdorf Kiefersfelden (5000 Seelen) ein sommerliches Ritter-Festival. in einer hölzernen »Komödienhütte« (500 Plätze) mit simpler Barock-Szenerie scharmutzieren Eisenfresser, klagen Edelfräulein, fließt Gift in Strömen, und alles ist, wie in Bayreuth, ganz ernst gemeint.
Es wird freilich nicht immer ernst genommen. Denn wenn Helme scheppern, Bärte wackeln und Stilblüten fallen, dann entgleitet manchen Gästen, vor allem aus dem Norden, starken Lachens wegen oft die Bierflasche. Verständige Menschen aber halten Kiefersfelden für eine Kostbarkeit.
Schon der liebe alte Theater-Professor Kutscher hatte hierher Oral-Wanderungen unternommen, Brecht soll dagewesen sein, Kortner fand sich ein, und auch andere Liebhaber pathetischen Laientheaters kamen, wie Bayerns Strauß und Goppel. Denn im heroisch stelzenden Spiel der Kiefersfeldener Steinmetzen, Marmorschleifer und Bauern sind teure Theater-Antiquitäten konserviert, barocke Choreographie etwa, naiver Mimus, hochstilisierte Rede, jesuitischer Agitprop und die Rinaldo-Romantik der Goethe-Zeit.
Vor ihrer Ritter-Epoche hatten die Dörfler, wie viele andere in der Gegend, Passionstheater gemacht. Um 1800 kam dann die Wendung zum Weltlichen, und Kiefersfeldens Schiller wurde Josef Schmalz.
Dieser Schmalz arbeitete sommers als Köhler für die lokale Eisenhütte, winters dichtete er fürs Theater: an die 20 große Ritterstücke »aus der Kreuzfahrerzeit«, in schwungvoller Schrift, mit genauen Regieanweisungen ("späht von links herein") und Honorar-Angabe am Schluß.
Wo der Köhler das gelernt hat, kann keiner sagen: Von Deutschlands erstem proletarischen Stückeschreiber weiß man nur, daß er lebte und elf Kinder zeugte. Er schrieb mit solider Dramaturgie und dem Glauben, den man Köhlern nachsagt.
»Ezzelin der Grausame«, »Kuno der Wilde«, »Erich der Übelberüchtigte«, so titelte er. Dieses Jahr spielen die Kiefersfeldener »Siegfried und Ludmilla oder Das Wiederfinden vor der Ruine Geroldsburg«; zurück also zum Grafen in der Gruft.
Der muß, wie alle Hochgestellten, ungeheuer hochdeutsch reden. »Reinhold, mein böser Sohn, scherze nicht mit der Güte deines Vaters«, sagt er etwa. Geflügelte Worte gehen so: »Weiber sind oft krank, wenn sie nicht geliebt werden.« Und immer wieder: »Still, ich höre kommen.«
Enttäuscht vom Sohne Reinhold, dem Giftmischer, zieht Ludwig gen Palästina, wo Siegfried, sein besserer Sohn, auf Kreuzfahrt weilt. Nach diversen Reisen, Meuchel-Morden und Sarazenen-Schlachten findet der Rest sich dann zur Verzeihungs-Feier vor der Burgruine, aus der Spiritus-Flämmchen züngeln.
Theater der Einfalt, gewiß, mit Moral als Motor; aber auch das heute neu geschätzte Theater der Theatralik. Am schönsten ist das Kiefersfeldener Ritterspiel, wenn man es hinter der Bühne mitmacht.
Da eilt Martin Tiefenthaler, 65, Archivar der Bühne, zwischen Harmonium« Donnerblech und kurzem Auftritt hin und her; der schurkische Burgvogt drückt noch schnell den Kunstbart fest, ehe er ins Grabgewölbe schleicht; und alle trauern, wenn die draußen glucksen.
Das könne er nicht begreifen, sagt Peter Hupfauf, Graf Ludwig auf der Bühne, warum die Leute so oft lachen; sie meinten das doch alles ernst. Der verletzte Stolz des Profis spricht so, und Profis sind diese Laien auf ihre Weise jedenfalls.
Hupfauf, 68, gewesener Marmorschleifer, ist 52 Jahre am Theater, 15 davon als Spielleiter. Sein Großvater habe Anno 1892 schon den Ludwig gespielt. Rollen erben sich wie Nasen fort, und das erklärt, warum die Kiefersfeldener vor jeder Saison nur sechs Proben brauchen.
Sie brauchen auch wenig Geld für Kostüme -- die Souffleuse näht sie. Die alten Drehkulissen passen immer, und die Rollenbucher schreibt jedes Jahr der Rentner Alois Lettenbichler, 87, in steilen Lettern aus dem Urmanuskript ab. »Wir sind ein Theater«, sagt Peter Hupfauf, »das sich selber trägt.«
Doch auch Sorgen kennen die Rittersleut. Zwar, das Theaterspielen liegt »im Kiefererblut«, sagt Hupfauf, aber es fehlt Nachwuchs, und das Ensemble erlitt kürzlich vier Herzinfarkte. Auch sei der Umbau der Komödienhütte noch nicht voll bezahlt.
Manches ist leichter geworden. Früher ging der Spiel-Erlös, um sie wohlzustimmen, an die Ortskirche. Heute stifte man, sagt Hupfauf, eine Kerze.