Der deutsche Augenblick
Schwarz, rot, gold: Während jubelnde Streicherklänge aus Bachs Weihnachtsoratorium ("Jauchzet, frohlocket") Fest- und Feierstimmung erzeugen, wird ein pechschwarzer Vorhang langsam hochgezogen, bleibt im obersten Drittel stehen, gibt den Blick auf einen zweiten, sattroten Vorhang frei, und das jugendstilige Bühnenportal erstrahlt in hellem Gelb.
Zum Ende, nach drei Stunden, wiederholt sich das nationale Farbspiel in den Münchner Kammerspielen. Nur daß jetzt das orchestrale Vorspiel zu Beethovens »Ode an die Freude« ertönt - die längst zum musikalischen Logo der »historischen Stunde« avanciert ist.
Die Münchner Kammerspiele feiern, so scheint es, mit nationaler Farbe und nationalen Tönen die Stunde der deutschen Einheit. Den Autor, den sie sich dazu gerufen haben, ist ihr Hausautor Botho Strauß.
»Schlußchor« heißt sein neues Stück (besser: seine »drei Akte«, die sich zu einem langen Abend zusammenfassen lassen), und »Chor«, das ist etwas für »historische Stunden«, für Massen, für gemeinsam getragene Empfindungen.
Bisher wirkte Strauß eher wie ein Kammermusiker: mehr am verstörten Seelenfiligran von Einzelgängern, am Liebesüberdruß und Lebensleid feinsinniger Individualisten interessiert als an den Paukenschlägen öffentlicher Empfindungen, als an Massenaufmärschen des deutschen Gemüts.
Doch genau von diesem Zusammenprall handelt das neue Strauß-Werk: wie eine laute, robuste Bewegung der Straße auf einen leisen, dünnhäutigen Einsiedler und Beobachter trifft.
Es ist der 9. November 1989, ein schickes In-Lokal in West-Berlin. Es ist (im Unterschied zu den schreienden Nationalfarben) Weiß in Weiß gehalten: Wände, Tischdecken, Lampe, Türen, alles weiß - ein Deutschland, das sich italienischer als der Papst gibt. Und auch die Gäste sind alles andere als _(* Mit Sunnyi Melles und Manfred Zapatka. ) Schwarz-Rot-Gold. Einer, es könnte der Dichter höchstselbst sein, sitzt da und liest, während er die anderen beobachtet, den »Siebenkäs« Jean Pauls. Eine jener genervten und nervenden jungen Frauen, die Botho Strauß offenbar oft erduldet hat und deshalb nun seinerseits auf das Publikum losläßt, erzählt von einem mißglückten Segeltörn und einer daran gescheiterten Liebe bei Feuerland, um damit einen jungen Mann, Zeithistoriker von Beruf, anzumachen.
Der wiederum liest seiner Ex-Freundin die Leviten, weil die einen so trampeligen, hilflosen Mann geheiratet und damit ihre frühere Beziehung verunglimpft habe.
Eine greise Mutter (von der herrlichen Elfriede Kuzmany als sanfte Nervensäge gespielt) streitet mit ihrer boshaften Tochter über den deutschen Widerstand gegen Hitler und über die Rolle des Vaters, ob der eher sexuell oder politisch in den 20. Juli verwickelt gewesen sei.
Mitten in diesen Small talk deutscher Befindlichkeit, wobei Strauß geschickt und mit Vorliebe in dem herumkramt, was einst Beziehungskiste genannt wurde, wehen ab und zu die Cello-Klänge von Beethovens Neunter.
Und ein Herr stürmt mit dem Ruf »Deutschland« ins Lokal. Er trägt einen braunen Kamelhaarmantel um seine nationale Bewegtheit und ist über die Tausende, die über die geöffnete Grenze strömen, so stolz, als hätte er die Mauer höchst persönlich kaputt trompetet.
Kurz darauf führt er zwei Ossis in das noble Restaurant. Der Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose hat sie (mit Stiefel, Pullover und Windjacke) in so schreiend mißtönenden Farben angezogen, der Regisseur Dieter Dorn läßt sie so hilflos trotzig-unterwürfig in all dem Wessi-Chic herumstehen, der Autor Strauß sie ein so hilfloses LPG-Deutsch plappern, daß die banale Kehrseite der »großen historischen Stunde«, das Zusammenwuchern dessen, was so offenkundig nichts miteinander am Hut hat, schmerzhaft und satirisch deutlich wird. Die Wiedervereinigung, das ist ein pathetischer Fetzen Beethoven am falschen Ort. Das ist ein befremdlicher Einbruch von etwas total anderem in das dauernde Gebrabbel (west)deutscher Privatseelen.
Doch natürlich läßt es Strauß mit dieser satirischen Momentaufnahme nicht bewenden. Seine Eigenart, mit einem einzigen Schritt vom Lächerlichen ins Erhabene, von der Salonsatire in die griechische Tragödie, von der Gesellschaftskomödie in die eisige Luft der Symbole zu gelangen, läßt ihn auch hier entschlossen weitergehen. Zu weit gehen?
Die Tochter des 20.-Juli-Widerständlers eilt aus dem Restaurant der deutschen Erhebung in das Hinterzimmer eines zoologischen Gartens und spricht mit einem Tier, das jeder Zuschauer unschwer als den deutschen Adler erkennen kann.
Sie schneidet ihn aus seinem Drahtkäfig und bietet ihm in hoher Sprache (in der »Fütterung« natürlich »Atzung« heißt) ihre Gedärme an. Der Adler, der die Vergangenheit auffressen soll?
Doch das Tier verschmäht die Nahrung. Nach Senken und Heben des Vorhangs sieht man als »lebendes Bild« den Adler eher als Schwan, die Vergangenheit in Gestalt Gisela Steins eher als Leda. Der Vogel beim Vögeln? Doch nach einem weiteren Bildwechsel hat nicht der Adler die Frau, sondern offenbar die Frau den Adler verspachtelt (oder soll man sagen: geatzt?) Die herumliegenden Federn lassen keinen anderen Schluß zu.
Der Rezensent muß gestehen, daß ihm die Bilderabfolge: Frau möchte von Adler gefressen werden - Adler ist lieb zu Frau - Frau frißt Adler - eher in einem Comic als in einem symbolischen Trauerspiel möglich scheint.
Aber Strauß hat auch in den beiden anderen Akten ähnlich wie in diesem dritten Akt merkwürdig »tragische« Schlüsse aus eher komischen Ausgangssituationen gezogen.
Im Mittelteil, »Lorenz vor dem Spiegel« betitelt und in feinster Gesellschaft spielend, kommt ein Innenarchitekt zu einer Auftraggeberin, öffnet aus Versehen die Badezimmertür und sieht sie nackt dasitzen. O Verzeihung, murmelt er und macht schnell die Türe wieder von außen zu.
Jeder kennt unzählige Witze, die so beginnen, unzählige Komödien, die mit solchen »verfänglichen« Situationen anfangen. Nur Botho Strauß kennt die eine tragische Geschichte, die so im Badezimmer beginnt, nur er assoziiert zu heutiger Schickeria Batseba und König David.
Auf einer Party sucht der durch den Anblick geblendete und schwer verstörte Architekt (Manfred Zapatka spielt sein Herunterkommen sehr bewegend) die Aussprache mit der einst nackt Erblickten, wird von einem schwedischen Konkurrenten niedergeschlagen und schießt sich vor einem Spiegel aus dem Leben.
Botho Strauß hat dieses Drama des Erkennens und Verlierens geschickt und wirksam in den Garderoben-Vorraum einer Party gelegt, vor einen Spiegel, an den Gäste kurz treten, um sich die Nase zu pudern oder dem Spiegelbild die Wahrheit zu gestehen.
Da gibt es erotische Seitensprünge, Geständnisse, Trennungen, Ernüchterungen - ein Vorraum, in dem die gesellschaftlich Maskierten Sekunden bitterer Wahrheit erleben. In München, wo Dieter Dorn mit seinem erlesenen Ensemble herrliche Momentaufnahmen aus dem geselligen und sexuellen Umgang der deutschen Neuzeit lieferte, wird der Zuschauer Voyeur vor der Türe einer exquisiten Party - die Dialoge und Kostüme stehen in ihrem schönen Schwung den Hüften und Beinen der Damen in nichts nach.
Daß das edelste und raffinierteste Parlando, zu dem deutscher Dialog zur Zeit fähig ist, immer wieder ins Metaphysische abschweift, läßt einen beim Zuschauen und Zuhören wohlig erschauern. »Deutsch« ist dieser Mittelteil nur sehr am Rande - obwohl er nirgends als in Deutschland spielen, nirgends als in Deutschland so geschrieben werden könnte.
Dafür singt der Chor des ersten Akts, der sich zum Gruppenbild für einen Fotografen auf Marmorstufen in festlich dunklem Gewand wie für ein Klassenfoto in Reih und Glied aufgestellt hat, das verkitschte Heimatlied des deutschen Gemüts: »Kein schöner Land«.
Hier ist Strauß vor allem als Satiriker zugange. Während der Chor für das dauernde Knipsen immer wieder zur Pose gefriert, brechen in den Entspannungspausen zwischen den einzelnen Aufnahmen die Spannungen, Eitelkeiten, Animositäten zwischen den zur Gruppe gequälten einzelnen jäh auf. Man stichelt, tratscht, flüstert, hetzt - auch hier kommt es dem Stück darauf an, den komisch-tragischen Zusammenstoß des einzelnen und seiner Privatheit mit dem Allgemeinen und seiner Öffentlichkeit zu zeigen: die Spannung zwischen Gefühl und Pose. Und auch hier ruft einer unvermittelt »Deutschland«. Und alle in der Gruppe werfen sich besonders pathetisch in Positur. Doch, o weh! der Fotograf hat diesen Augenblick verpennt. Dies, zumindest, ist ein schöner Einfall für ein deutsches Drama über einen historischen Augenblick.
* Mit Sunnyi Melles und Manfred Zapatka.