PHILOSOPHEN Der Fitness-Trainer
Seit 1983 - damals erschien seine vielgerühmte »Kritik der zynischen Vernunft« - hat der Karlsruher Denker Peter Sloterdijk, 61, fast jedes Jahr ein neues Buch herausgebracht. Kaum hat der gutwillige Leser das letzte Werk dieses sprudelnden Autors beiseitegelegt, da lockt auch schon ein neues Produkt, meistens mit einem aparten Titel: »Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung«, »Sphären I - Blasen, Mikrosphärologie«, »Sphären III - Schäume, Plurale Sphärologie«, »Zorn und Zeit«- und eben jetzt: »Du musst dein Leben ändern"*.
Der Mann ist ein Metapherngenie, ein Denker der glitzernden Wörter, vor allem: Fremdwörter. Wo der Gedanke selbst nicht
neu ist, da verschafft Sloterdijk dem Althergebrachten einen sprachlichen Pomp, der es neu wirken lässt.
Weil der Philosoph diesen Vorwurf schon oft hören musste, holt er diesmal gleich in der Einleitung zum großen Schlag aus: »Es gibt kognitiv Neues unter der Sonne.« Der »Neuheit« dieses Neuen tue es auch keinen Abbruch, dass es durch die »Auseinanderfaltung des Bekannten in größere, hellere, profilreichere Oberflächen« zustande komme.
Was ist dieses Neue? Eine forcierte, teilweise auch kühne Zuspitzung der nicht ganz so neuen »Einsicht in die immunitäre Verfassung des Menschenwesens«. Medizinische Erkunder des immunologischen Abwehrsystems, etwa Robert Koch und Paul Ehrlich, sind Sloterdijks Helden bei dem Versuch, die bekannte »Körperpolizei« zur Teiltruppe einer Heilsarmee zu ernennen, die den Menschen auch sozial und spirituell gegen alles immunisiert, was ihn seelisch irgendwie verwunden könnte - »die Sterblichkeit inbegriffen«.
Diese Heilsarmee ist traditionsgemäß die Gesellschaft, die sich auf bestimmte »symbolische Praktiken« und deren beruhigende »Wiederholungsreihen« geeinigt hat, vor allem auf jene der Religion. »Ich werde zeigen«, verkündet Sloterdijk selbstbewusst, »dass eine Rückkehr zur 'Religion' ebenso wenig möglich ist wie eine Rückkehr der 'Religion' - aus dem einfachen Grund, weil es keine Religion und keine Religionen gibt, sondern nur missverstandene spirituelle Übungssysteme«, die dem Menschen eine sichernde Distanz gegenüber allem »Ungeheuren« gäben.
»Übungssysteme": Das ist der Schlüsselbegriff der »anthropotechnischen Wende«, die Sloterdijk vollzieht, indem er sie fordert, und zwar gebieterisch (Motto des letzten Kapitels: »Der absolute Imperativ"). Der Mensch muss »üben«, mehr als er selbst zu werden. Er ist, was er aus sich macht - der berühmte Gassenhauer des Existentialismus. Der heilige Ort von Sloterdijks jüngstem Erweckungserlebnis ist das Fitness-Studio. Dieser Existentialismus ist körperlicher als der von Jean-Paul Sartre, er wird zeitgemäß bemuskelt.
Und so wimmelt es von Formulierungen wie »Trainingsprogramm«, »Trainingslager«, »Trainerwechsel«, »Fitness«, »Willensgymnastik«, »Disziplinprogramm«. Die Begriffe überziehen diese »Anthropologie des übenden Lebens« mit dem T-Shirt der Joggingkultur. Wer ordentlich übt, verbessert »die Disposition zur nächsten Wiederholung": Er bekommt Kondition.
Die anstrengende Fixierung des philosophischen Übungsleiters auf das »Exercitium«, in dem die christlichen Exerzitien nachbeben, geht auch auf die Überzeugung zurück, dass der egalitäre »Zeitgeist nach 1945« alle »vertikalen Imperative« vernachlässigt habe; in dieser Zeit hätten allein die »Spitzensportler« das »heilige Feuer« des Übermenschen gehütet.
Daraus resultieren dann Kernsätze wie: »Es ist die tägliche Zeile, die den Künstler formt«, oder: »Wie Übung den Meister macht, so Training das Subjekt«; Sätze, die am besten bei Liegestützen im Freien mit entblößtem Oberkörper zu deklamieren wären. Wenn Banalität, nach einem von Sloterdijk zitierten Wort Isaac Babels, »die Konterrevolution« ist, dann ist Sloterdijk selbst ein Konterrevolutionär.
Der hochtrabende Titel des Buches - »Du musst dein Leben ändern« - ist der Schlussappell des Rilke-Gedichts »Archaischer Torso Apollos«. Der »Befehl aus dem Stein« Apollos, den Sloterdijk empfängt, zielt auf eine »anthropotechnische Wende«. Sie regelt das Gotteserhabene zum innerweltlich verstandenen »menschlichen Aufstieg über sich selbst hinaus« herunter, zu einer rein kulturellen »Vertikalspannung«, und sie kommt daher wie ein Umsturzversuch im wehenden Nietzsche-Mantel. Am Ende aber meint sie Sturzkonservatives: Kunst, Erziehung, Moral müssen wütender »geübt« werden; es gibt nur eine einzige Welt, deren begrenzte Ressourcen die Menschheit zur »universellen kooperativen Askese« verpflichten. Das lehren die Grünen auch, nur einfacher.
Vor allem eine weltumspannende Bescheidenheit muss den »Makro-Egoismus des Westens und anderer Großmächte« bändigen. Diese Forderung versteht man besser ohne Sloterdijks terminologisches Schaumgebäck. Dem Leser wird leicht schwindelig, wenn der Philosoph - auch angesichts der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise - eine neue »Makro-Struktur globaler Immunisierungen« herbeidenkt, die jeglichen »ausbeuterischen Exzess« unterläuft; somit einen - aufgepasst! - »Ko-Immunismus«, dessen wiederholt praktizierte »Ordensregeln« (Ludwig Wittgensteins Definition von Kultur) jene »Anthropotechniken codieren, die der Existenz im Kontext aller Kontexte gemäß sind«.
Zuweilen drückt er dasselbe auch verständlich aus: Aus der »Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann«, müssten wir alle »in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens annehmen«. Wer wollte dem widersprechen?
Sloterdijk bleibt skeptisch, »ob menschliche Wesen überhaupt aus festen schlechten Gewohnheiten freigesetzt werden können«. Daran sei zumal die Religion schuld, jene rituelle, illusionäre Rundum-Versicherung gegen Tod, Krankheit und Resignation, jene »Fahnenflucht aus der gescheiterten Ichbildung«, jener trügerische Schutzschild gegen das gnadenlose »Inder-Welt-Sein« und seine »Sorge«.
Diese Religionskritik besteht aus einem alten Trick: Glaube kann trösten, nur darum glauben die Menschen, und eben darum kann nicht wahr sein, was sie glauben. Die Frage nach der möglichen Wahrheit des Geglaubten wird verkleinert zur Frage nach dessen psychischer Funktion.
Ein großer Wurf, gar »eine grundlegende und grundlegend neue Anthropologie«, wie der Verlag wirbt? Nein, wohl aber ein manchmal lehrreiches, anregendes, nicht selten entwaffnend wortgewaltiges Buch, das eigentlich aus lauter irrsinnig ausgefallenen Exkursen besteht. Und die Grundidee? Bestürzend schlicht. Um es deutlich zu sagen: Man muss nicht täglich trainieren. Dreimal die Woche genügt.
MATHIAS SCHREIBER
* Peter Sloterdijk: »Du mußt dein Leben ändern«. SuhrkampVerlag, Frankfurt am Main; 716 Seiten; 24,80 Euro.