Der Freischütz mit der Wunderharfe
In seinem Keller rührte Bruno Bolk nach Feierabend geduldig Teigbatzen unterschiedlicher Konsistenz zusammen, Modellgips MG 11 der Marke Kranich vom VEB Ellrich-Cleysinger Gipswerk, dazu blaue, schwarze, gelbe, grüne Farbe, zog Binder und Adermasse unter. Dann, nach vielem Laborieren, hatte der Dresdner Stukkateurmeister die Technik neu erfunden, wie Marmor zu fälschen ist.
Die Pampe, aufgetragen auf gipserne Säulenrohlinge, poliert mit Hölzern, Schmirgel und Bims, entfaltet im Vestibül der Semperoper bunte Pracht. Der Musiktempel, fertig zur 318. Spielzeit des Dresdner Opernbetriebs, sieht wieder so aus, wie ihn Gottfried Semper neben Hofkirche, Zwinger und Dresdner Schloß an die Elbe gestellt hat.
Nicht ganz. Die Klassenschranken sind gefallen: Über den Anblick eines SED-Politbüros, das in den Logen der Höflinge Platz nimmt, wird niemand giften können - sie wurden beseitigt. Der fünfte Rang, die ehemalige Trampelloge, ist jetzt mit Beleuchtung vollgestopft, vom vierten soll jeder noch gut sehen können. 35 Stehplätze werden dort angeboten, und Eintrittskarten sollen, sofern erhältlich, für jedermann erschwinglich sein.
»Künstlerischer Elitarismus und Abgeschiedenheit von der Lebenswirklichkeit«, so Intendant Gerd Schönfelder, seien dem neuen Haus fremd: »Die Semperoper ist eine Oper des Volkes.« Die Dresdner lieben sie wie Pöppelmanns Zwinger.
Schon Anfang der fünfziger Jahre sammelten sie rund zwei Millionen Mark für den Wiederaufbau, gerade genug für ein provisorisches Dach, mit dem das Gemäuer vor weiterem Zerfall bewahrt wurde. Ungeduldig hörten sie jahrzehntelang die Versprechungen der Einheitssozialisten, demnächst und bald und endlich werde die Oper restauriert. Ein Segen, daß der Bau, die SED gab 1976 die Direktive, erst vor knapp acht Jahren begonnen wurde.
Sonst wäre die guterhaltene Fassade im Stil der italienischen Hochrenaissance, viel mehr stand nicht, den sozialistischen Neuerern zum Opfer gefallen. Sie fuhren in den fünfziger und sechziger Jahren mit Planierraupen zum Großreinemachen auf und walzten viele Ruinen, zum Beispiel das Schloß in Berlin oder die Leipziger Universitätskirche, einfach nieder. Das kärglich-modernistische Modell einer neuen Semperoper wurde 1969 herumgezeigt, aber dann war der Wiederaufbau von Wohnungen doch wichtiger.
Über 250 000 Menschen hatten ihr Obdach verloren, als am 13. und 14. Februar 1945 englische und amerikanische Bomber in einem sinnlosen Angriff auf die ungeschützte Kunstmetropole Dresden 20 Quadratkilometer der Innenstadt einebneten. Unter Strömen flüssiger Phosphorglut und schwarzem Aschenregen wandelte sich das barocke Elbflorenz im Feuersturm über Nacht zum deutschen Pompeji.
Heute, vierzig Jahre danach, zeigt sich Dresden als dreigeteilte Stadt mit schroffen Übergängen. Hier das rußschwarze Gerippe des Schlosses, die Trümmer der Frauenkirche - Mahnmale, die der Krieg der Bomber zurückgelassen hat. Dort der Zwinger, die Brühlschen Terrassen, Stallhof, Kreuzkirche, Hofkirche sorgfältig restauriert - das alte Dresden. Die freigebombten Flächen haben die Architekten mit Beton zugegossen, mit Stahlträgerwürfeln bestreut, mit Glasfassaden verspiegelt - das Dresden der Ulbricht-Sozialisten.
Dem ist die Semperoper, dank der Beharrlichkeit der Traditionalisten, entronnen. Mit tätiger Beihilfe von SED-Chef Erich Honecker wurde sie, wie das Berliner Schauspielhaus, zum erstrangigen Objekt der Denkmalpflege in einer DDR erklärt, die wachsender internationaler Anerkennung eigenen Glanz hinzufügen möchte, die deutsche Geschichte wiederentdeckt, weil sie eine Identität als eigenständige Nation sucht.
Da trifft es sich gut, daß der Hofarchitekt Gottfried Semper, der seinen ersten Opernbau 1841, gegen 3000 Taler Honorar und zwei Freikarten auf Lebenszeit, vollendete, über einen revolutionären Lebenslauf verfügt: Er stand, wie Richard Wagner, 1848 für die bürgerlichen Rechte auf den Barrikaden und wurde Sachsens prompt verwiesen. Zwei Jahrzehnte später brauchten ihn die Dresdner wieder: Er mußte seine Oper nach einem Brand ein zweites Mal errichten lassen.
Der dritte Bau stellte die Architekten, Künstler und Handwerker vor nicht gekannte Probleme. Zwar spielte Geld keine Rolle, statt der geplanten 120 flossen schließlich 255 Millionen Mark aus dem Staatshaushalt. Doch Meister, die der Kunst des Marmorierens, Stuckgießens, des Schleifens von Serpentinit-Balustern,
des Restaurierens dionysischer und apollinischer Deckengemälde mächtig waren, sahen die Fünfjahrespläne nicht vor.
Einige sozialistische Künstler scheiterten am Formenreichtum des 19. Jahrhunderts und wurden gefeuert. Erich Jeschke, Chef der Aufbauleitung: »In der modernen Kunst fällt es nicht unbedingt auf, wenn ein Bildhauer die Anatomie nicht beherrscht. Wir hatten einen, der hat immer Figuren ohne Kopf gemacht.«
Obendrein waren die Pläne der Oper verlorengegangen. Die Restaurateure schwärmten in andere Semperbauten aus, zum Beispiel ins Wiener Burgtheater, um sich kundig zu machen, sie gruben Materialrechnungen, Aquarelle und Schwarzweißphotos aus den Archiven, analysierten Putzkrümelchen in der Ruine, um die Komposition der Farben herauszufinden. Ein neuer Anbau, für Proben und Technik, mußte ins Stadtbild gefügt werden.
Der real existierende Sozialismus, der es seinen Nutznießern schon schwermacht, Tapeten, Zement, Kacheln für eine Wohnungsrenovierung zu ergattern, erschloß erstaunliche Ressourcen. Der fast sechs Meter hohe Kronleuchter mit den 256 Lampen wurde von den VEB »Leichtmetallgießerei Dresden« und »Spezialleuchtenbau Wurzen« rekonstruiert; an den goldverzierten Portalen werkelte die »Produktionsgenossenschaft Handwerk 'Canaletto'«; die »Komplexbrigade Richter« vom »VEB Baukombinat Dresden« modellierte neuen Stuck. Und als das prächtige Puzzle beinahe fertig war, marschierte die Nationale Volksarmee ein.
Die Truppe mußte auf den 1300 rotsamtenen Sitzplätzen, früher waren es 1700, stillsitzen zum Akustiktest, denn, so Jeschke, »Soldaten sind am diszipliniertesten«. Den Opernbesuchern verspricht er Hochgenuß: »Es rieselt einem den Rücken hinunter, so faszinierend ist der Klang.«
Ein Klang, der einst ganz Europa entzückte. Richard Wagner rühmte die Dresdner Hofkapelle als »Wunderharfe«; Richard Strauss nannte die Semperoper ein »Dorado der Uraufführungen«. Dort präsentierte er acht Opern, darunter den »Rosenkavalier«. Wagner steuerte »Rienzi«, »Tannhäuser«, »Der Fliegende Holländer« bei. Der Dirigent Ernst von Schuch brachte zwischen 1872 und 1914 insgesamt 51 Uraufführungen in die Semperoper.
Das verpflichtet. Intendant Schönfelder gebietet nun zwar über ein prachtvolles Musik-Museum im Grundakkord der Farben Lindgrün/Braun (Wände) und Rot (Teppiche und Stühle). Er möchte sich aber gerade »nicht auf einen musealen Opernbetrieb einlassen«, sondern »leidenschaftlich« das Gegenwartsschaffen fördern. Daran herrscht in der DDR, wie anderswo, Mangel.
Sein Ziel, so Schönfelder, sehe er daher auch »in der Gewinnung von Kompositionen abendfüllender Opern«. DDR-Komponist Siegfried Matthus hat seine, nach einem Text von Rainer Maria Rilke, bereits abgeliefert: »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« steht auf dem Spielplan, eine Geschichte von den Schrecken des Krieges, in denen ein unerfahrener Bürgersohn, kaum daß er das Schlachtfeld betreten hat, umkommt.
Dies paßt zum Generalthema, das die DDR-Offiziellen zur feierlichen Einweihung anschlagen. Schönfelder: »Vor aller Welt bezeugt das festliche Ereignis der Wiedereröffnung der Semperoper einmal mehr den Friedenswillen unserer Republik.« Das soll auch ein zweiteiliger Ballettabend nach Orchestermusik und Chorsinfonik von Udo Zimmermann »besonders sichtbar machen«, Titel: »Brennender Friede«.
Regisseure der Staatsoper Berlin und der Komischen Oper sollen beitragen, die Musikstadt Dresden neu zu beseelen; Musiker aus dem kapitalistischen Ausland sind auch willkommen - im Herbst bringt Wolfgang Wagner die »Meistersinger« auf die Bühne der Semperoper.
Sie eröffnet diesen Mittwoch, zum 40. Jahrestag der Bombardierung, mit dem
»Freischütz«. Die Oper von Carl Maria von Weber, der von 1817 bis 1826 in Dresden komponierte, war das letzte Werk, das die Semperoper zeigte, bevor am 31. August 1944 auf Befehl der Nazis überall die Vorhänge für den Rest des Tausendjährigen Reiches fielen.
Finsterer Wald und Wolfsschlucht, Höllenspuk und Gewittersturm werden die Dresdner Dramaturgen reizen, ihre schöne neue Technik voll einzusetzen: die Schachbrettbühne aus sechzehn heb- und versenkbaren, vier mal vier Meter großen Einzelpodien, die fahrbare Drehscheibe auf der Hinterbühne, 52 Prospektzüge und computergesteuerte Beleuchtung.
Das romantische Spektakel sollte in beiden Deutschländern zweieinhalb Stunden lang live im Fernsehen übertragen werden. Doch der Dresdner Chefregisseur Joachim Herz sträubte sich beharrlich, die glanzvolle Premiere von Kabelgewirr und Kameras stören zu lassen.
Erst als die DDR-Seite eine Sendung ohne Pause ankündigte, stutzten die verantwortlichen Musikredakteure beim Kölner WDR. Auf Nachtragen erfuhren sie, daß auch die DDR-Bürger nur eine Aufzeichnung sehen können. Dennoch wird der »Freischütz« ein gesamtdeutsches Fest: Ost und West senden die Konserve, die am Sonntag aufgezeichnet wurde, zeitgleich am Mittwoch von 20 Uhr an.
In der Semperoper erklingt die Ouvertüre eine Stunde früher, und das Ensemble muß sich beeilen. Um zehn Uhr abends hebt in Dresden ein anderes Konzert an:
Die Glocken der Stadt läuten zum Gedächtnis an das Inferno von 1945. Vor ökumenischem Publikum predigt, in der Kreuzkirche am Altmarkt, der sächsische Landesbischof Johannes Hempel.
Die SED hat Vorsorge getroffen, daß spontane Friedenskundgebungen nach den Gottesdiensten nicht allzusehr auffallen. In den Vorjahren zogen Protestanten, mit Kränzen oder Kerzen in der Hand und dem Lied der Friedensbewegung »We shall overcome« auf den Lippen, durch Dresden. Sie sollen diesmal, schließlich ist der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker in der Stadt, in eine abendliche Massenveranstaltung eingebunden werden: Alle Dresdner sind, in der Zeit von 21 bis 23 Uhr, aufgerufen, es ihnen gleichzutun, in Scharen zu erscheinen und Kränze an den Trümmern der Frauenkirche niederzulegen.
Honecker und die DDR-Prominenz können, wenn sie aus der Oper kommen, in der Nacht gleich noch ein zweites Gebäude einweihen: Sie residieren in einem abgeschirmten Fünf-Sterne-Hotel, das Schweden und Japaner auf der anderen Seite der Elbe gerade noch rechtzeitig vollendet haben. Das »Bellevue«, 328 Zimmer und Suiten von 150 Mark pro Nacht aufwärts (nur in Devisen), soll von ostdeutscher Weltläufigkeit künden.
In elf Zimmern können die Gäste Sauerstoff aus Wanddüsen strömen lassen, nach der Therapie des Dresdner-Physikers Manfred von Ardenne, der auf den villenbestückten Hügeln der Stadt wohnt. Das Hotel bietet nicht nur einen Bierclub im Keller und einen Jogging-Parcours im Park, sondern auch ein Spezialitätenrestaurant. Zuerst sollte es »Tiki-Tiki« getauft werden, doch das schien den Managern für die sächsische Provinz irgendwie nicht exotisch genug. Jetzt heißt es »Buri-Buri«.