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Der große Kumpel

Von Siegfried Lenz *
aus DER SPIEGEL 30/1985

Ich weiß keinen, der Zeitgenossenschaft so als Auftrag empfunden hat wie Heinrich Böll. Zeitgenossenschaft: Für ihn war es eine Selbstverpflichtung zur Einmischung, zur Störung schlimmer Ruhe, zur, wenn es sein mußte, Bloßstellung aus Gründen nationaler Hygiene. Empfindlich und unverwöhnt, verletzbar und von Mitleid bestimmt, reagierte er auf die Entwicklungen in unserem Land, entschiedener und gegenwartsbewußter als alle anderen deutschen Autoren seiner Zeit.

Von den Erfahrungen seiner Generation genötigt, griff er ein, wo die Sache des einzelnen auf dem Spiel stand, nachfragend, auch deckend, protestierend - mit seinem einzigartigen Gespür für die Probleme der Gegenwart. Er begnügte sich nicht damit, nur in die Nähe der Schmerzgrenze zu kommen; um die Wahrheit zu ermitteln, war er oft genug bereit, zu weit zu gehen. Sein Werk - und in dieser Hinsicht gehören seine Romane, Erzählungen und vielfältigen publizistischen Äußerungen zusammen - ist Zeitkritik im reinsten Sinn.

Er wollte kein Heilswissen verbreiten, nicht einmal ein Orientierungswissen. Woran ihm lag, war zunächst dies: den Erfahrungen seiner Generation, die auch meine Generation ist, trotz eines gewissen Altersunterschieds, eine Fassung zu geben, einen Ausdruck, in dem der einzelne sich wiederfinden konnte mit all seinen Beschädigungen und Befangenheiten. Und viele, ratlos und bedürftig, fanden sich wieder. Ich weiß noch, wie erschrocken ich mich bei erster Böll-Lektüre befragte: Woher kennt der deinen Lehrer, deine Wirtin, deinen Ausbilder, und woher deine Reizbarkeit und dieses Bedürfnis nach endgültiger Verweigerung? Indem er zeigte, wie wir uns befanden, verpflichtete er uns bereits darauf, deutlicher zu leben, die Lehre aus eigener Erinnerung zu ziehen.

Wie rasch, wie gekonnt wir hierzulande störende Erinnerung amputierten: Heinrich Böll hat nie aufgehört, daran Anstoß zu nehmen. Und er reagierte darauf, indem er an vielen seiner erfundenen Personen zeigte, daß erst ein schonungsloses Erinnerungsverlangen Glaubwürdigkeit schafft. Weil Vergeßlichkeit erduldetes oder zugefügtes Leid entwertet, plädierte er beständig für ein unnachsichtiges Gedächtnis.

Denke ich an diese Personen, dann fällt mir immer zuerst ein, wieviel ihnen das Gedächtnis bedeutet. Sie wollen nicht »vorwärtskommen«, nicht mitmachen im allgemeinen Karriere-Ballett. Da ihnen in Ministerien und bischöflichen Ordinariaten, in Amtsstuben und Kasernen ihre Trauer nur bestätigt wird, ziehen sie sich auf eine unerhörte Gegenwehr zurück: Sie erklären ihre Untauglichkeit für eine erinnerungslose Welt und halten den Verletzungen die Treue, die sie erlitten haben. Ihre Leidenswilligkeit kennzeichnet die Gegenwart.

Böll zu lesen, das hieß für viele meiner Generation, genauer bekannt zu werden mit der eigenen Lage. Durch seine Art zu erzählen erreichte er es, daß man einen bestimmten Schmerz heftiger als zuvor empfand, daß die Gründe einer gewissen Mutlosigkeit einsehbar wurden, daß Erbitterung ihr Recht erhielt. Er machte uns zu Mitwissern - was wir zwar bereits waren, aber uns aus Gleichgültigkeit oder Zaghaftigkeit nicht einzugestehen wagten -, zu Teilhabern an einem Erinnerungsfonds, der uns mehr belastet als freispricht.

Daß ihm bei seiner beharrlichen Gewissenserforschung eine moralische Autorität zuwuchs wie keinem anderen seiner Kollegen - er hat sie nie gewollt, und oft genug hat er sich dagegen gewehrt; das Alibibegehren, das sich dahinter zeigte, hat ihm nie behagt.

Und doch konnte er es nicht verhindern, daß viele von uns gespannt und manchmal auch besorgt nach Köln horchten, wenn Ereignisse einen Zwischenruf forderten, einen Einspruch, einen Kommentar nahelegten. Fast hatten wir es uns angewöhnt, auf seine Stimme zu warten, ehe wir selbst das Wort ergriffen; denn stillschweigend hatten wir uns längst darauf geeinigt, ihn mit unseren Hoffnungen zu betrauen. In seiner Empfindlichkeit und Güte fühlten wir uns so aufgehoben, daß wir ihn, ohne sein Einverständnis, zu unserem Sprecher gemacht hatten, selbst wenn mitunter zu erwarten war, daß wir in der Nuance nicht übereinstimmten. Seine Autorität ruhte in seiner Gerechtigkeit, und es war bezeichnend für ihn, daß er sich selbst bei manchem kritischen Gang nicht ausnahm.

Wir können nichts tun gegen die Gleichgültigkeit, mit der der Tod seine Wahl trifft. Durch Erinnerung aber können wir ihm begegnen. Heinrich Böll, der Schriftsteller, der in seinem Werk lediglich seine Zeit darstellen wollte und damit für alle Zeiten schrieb, wird nicht in Vergessenheit geraten. Es ist zu wünschen, daß auch der Mensch im Gedächtnis bliebe, der hinter diesem Werk steht, der immer teilnahmsvolle Zeitgenosse, der keinem seine Aufrichtigkeit ersparte, der große Kumpel, dessen Humor und Wärme einfach glücklich machten, der Freund der Stimmlosen und Ungedeckten, der sich verzehrte in Hilfsbereitschaft. Kaum auszumachen, wie viele ihm Dank schulden.

Siegfried Lenz

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