KONZERTBETRIEB Der Halbgott in Schwarz
Bis er kommt, harren alle seiner Erscheinung. Wenn er kommt, schlägt die Stunde der Erbauung.
Dann geht die Tür auf; Applaus. Mit federnden Schritten eilt der dunkel Gewandete zum Podium. Bückling; verstärkter Beifall. Schließlich kehrt Ruhe ein, und nach einer halben Drehung zeigt sich die Erscheinung nur noch von hinten. Millionen Konzertgänger blicken Abend für Abend fasziniert auf die Rückseiten von Dirigenten.
Und die fuchteln und hampeln, wirbeln, wippen, wuseln. Sie malen Pirouetten in die Luft; der Kopf kreiselt, die Hüften schaukeln, die Frackschöße schwingen. Bei schönen Stellen geben sie den Einsatz auch mal per Handkuß, und zur vollen Dröhnung des Orchesters machen sie gern einen Hüpfer in die Luft: hopsa, eine Kultfigur auf dem Sprung ins Pantheon.
Der Animateur auf dem Podium darf weder tuten noch blasen, er streicht keine Saiten und haut auf keine Pauke. Aber er macht im Gewerbe den meisten Wirbel. Das Podium ist der Sockel dieses Idols, der Kopf des Idols das Oberhaupt des Musikbetriebs, der Taktstock ein Zepter: Seine Majestät der Dirigent.
So, erleuchtet wie ein Hohepriester und beweglich wie ein Gummibärchen, stellt sich der Dirigent als Allmächtiger dar, als stummer Diener der Tonkunst und lauter Diktator der Tonkünstler, als Schöngeist und Showmaster, als Magier klingender Spezereien und als Dealer sinfonischer Räusche. Auf der klassischen Szene gebietet der Herr Kapellmeister.
Was heißt hier Kapellmeister? Der ehrbare Titel ist längst démodé wie Stall- oder wie Rittmeister. Generalmusikdirektor ist das mindeste, und wenn es schon nicht, wie bei Karajan, zum »Wunder« reicht, gehört sich gefälligst Maestro. Maestro - das ist der Halbgott in Schwarz.
Der Maestro wird geadelt: Sir Georg Solti, Sir Simon Rattle. Der Maestro wird dekoriert: Karajan mit dem Doktorhut von Oxford und dem Weihwasser aus der Hand von Papst Johannes Paul II., Bernstein von der französischen Ehrenlegion, ausgerechnet Riccardo Muti, der feine Pinkel, als Sonderbotschafter des Uno-Hochkommissars für Flüchtlingsfragen.
Der Maestro macht Staat, und der Staat macht ihm Honneurs. Als der österreichflüchtige Karajan nach Wien gelockt werden sollte, diente sich Bruno Kreisky so untertänigst dem Zaudernden an, daß Wiens Bürgermeister Leopold Gratz den Kotau 1977 als »Kniefall der Republik« geißelte.
Jahrelang war Maestro Mstislaw Rostropowitsch Stammgast im Weißen Haus. Zu seinem 60. Geburtstag im März 1987 machten ihm US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger und der frühere Weltbankpräsident Robert McNamara ihre Aufwartung; First Lady Nancy Reagan dirigierte im giftgrünen Festkleid »Happy Birthday«; die Regierung von Singapur ließ 1000 Orchideen einfliegen.
In den Wirbeln der deutschen Wende wurde Maestro Kurt Masur als künftiger Bundespräsident gehandelt. Über Maestro Gerd Albrecht, bis 1996 Chef der Tschechischen Philharmonie, kam es nach politischen Turbulenzen zur Krise in Prag. Zu Ehren des toten Maestro Sergíu Celibidache wollte die CSU im August 1996 allen Ernstes ganz München halbmast beflaggen.
Ganz gleich, ob großer Zauberer oder kleiner Taschenspieler - das Buhlen um die Machthaber des Musikbetriebs ist längst absurdes Theater, und nirgends spielen sie das verrückter als in der Bundesrepublik. Im gelobten Land der Musik und der Mark, mit seiner beispiellosen Vielzahl von Orchestern und einer immer noch beispielhaften Subventionspolitik, hängt der Himmel voller Gagen, und mit der Gage wächst die Gloriole.
Monatelang - erst in Geheimdiplomatie, dann in offener Schlammschlacht - feilschte Musik-München jüngst um die Berufung des Amerikaners James Levine zum neuen Chef der städtischen Philharmoniker (SPIEGEL 46/1997).
Nun ist es amtlich: Der umstrittene Maestro läßt sich herab, und seine Güte zahlt sich aus: 500 000 Mark Grundgehalt, 60 000 Mark für jeden der 24 vereinbarten Auftritte, Sonderhonorar auf Tourneen und bei jeder Visite am Ort drei Hotelsuiten zur kostenfreien Belegung.
Per Fax besiegelte Levine vergangene Woche den Kontrakt und wünschte »allen glückliche und gesunde Feiertage«. Münchens Kulturreferent Siegfried Hummel ernannte die weißblaue Metropole umgehend zur »Musikstadt Nummer eins in der Welt«.
Nicht nur München pokerte: Ende November stellte der WDR den aus St. Petersburg stammenden Dirigenten Semyon Bychkov als neuen Chef des Kölner Rundfunk-Sinfonieorchesters vor. Dieser Maestro, so WDR-Intendant Fritz Pleitgen, werde den sendereigenen Klangkörper auf Weltniveau liften - nach dem Einstand mit einer vulgär hingeknallten Mahler-Sinfonie wohl ein frommer Wunsch.
Macht nichts; Hauptsache, das Salär ist opulent: Rund 100 000 Mark im Monat, behaupten Insider der Anstalt. Dazu kommen, ab 1999, die Bezüge als Chefdirigent an der Dresdner Semperoper, auch kein Kleingeld. Schließlich ergibt sich bei einem Abendhonorar bis zu 45 000 Mark aus diversen Gastspielen zwischen Berlin und Washington noch ein sattes Zubrot.
Ämterhäufung und Gagenrekorde gelten unter Dirigenten längst als Beweise künstlerischer Bedeutung; schneller Stabwechsel ist an der Tagesordnung. 1991 trat der Engländer John Eliot Gardiner beim NDR in Hamburg als Chefdirigent an. Kaum hatten sich die Hanseaten mit ihm angefreundet, verließ ihn die Laune, »wohl weil der Umworbene nicht mehr Zeit oder Lust hatte, sich Elbsand in das genau austarierte Getriebe seiner Karriere zu schütten« ("Süddeutsche Zeitung").
Auf Gardiner folgte der Schwede Herbert Blomstedt. Aber auch den hielt es nur so lange, bis ihn das Gewandhausorchester nach Leipzig holte. Nun kommt nächstes Jahr Maestro Christoph Eschenbach nach Hamburg, der gleichzeitig Boß beim Houston Symphony Orchestra und Direktor des amerikanischen Ravinia Festivals bleibt und künftig auch noch an der Spitze des Schleswig-Holstein Musik Festivals mitmischen dürfte.
Der Amerikaner James Conlon wirkt seit 1990 als Generalmusikdirektor in Köln und ist Darling der Stadt. Doch zwischenzeitlich hat der kleine Maestro seine große Liebe zur Pariser Bastille-Oper entdeckt, und in Köln tritt er kürzer. So begab sich Generalintendant Günter Krämer auf die Suche nach einem neuen Opernmacher, was Conlon erst recht vergrätzte. Nun droht er mit völligem Liebesentzug, und der Klüngel blüht.
Das Zweckbündnis zwischen den prestigewütigen Maestros und ihren repräsentationssüchtigen Arbeitgebern hat die Konzert- und Musikhallen längst in Industrie- und Handelskammern umgewandelt, und nach dem Vorbild von Karajans Imperium machte so mancher Taktierer seinen eigenen Laden auf:
Bernstein unterhielt in New Yorks nobelster Lage die Amberson Productions (zu deutsch: Bernstein & Sohn). Lorin Maazel firmiert als Curator Spiritus France. Rostropowitsch hat im US-Staat Delaware Pooks Concerts Inc. aufgezogen, benannt nach seinem Langhaardackel Pooks.
Für vier Monate Anwesenheit jährlich kassiert Daniel Barenboim in der Berliner Staatsoper Unter den Linden 280 000 Mark fix und 24 000 Mark für jeden der 30 Auftritte. Extras gehen extra. Zusammen mit seiner Chefrolle beim Chicago Symphony Orchestra und dem Erlös aus globalen Rundreisen dürfte der wendige Maestro leicht auf vier Millionen Mark kommen.
Da hat Kollege Levine jetzt wenigstens gleichgezogen. Neben den rund zwei Millionen Mark für seinen Münchner Posten bezieht er als Leiter der New Yorker Met noch einmal dieselbe Summe, Kleinkram aus weltweitem Getingel gar nicht erst gerechnet.
Doch das alles ist noch harmlos im Vergleich zu den Einkünften von Lorin Maazel, der Galionsfigur des Bayerischen Rundfunks. Um sich den alerten Star zu sichern, schnürte der Sender ein Paket, in dem Anstaltsgebühren und Sponsorengelder gebündelt sind: Wenigstens drei Millionen sollen es sein, vermutlich mehr.
Aber das ist bloß das Standbein der dicken Marie. Als Maestro beim Pittsburgh Symphony Orchestra bezog Maazel noch einmal eine Million Dollar im Jahr. Wenn er, wie so oft, andere Orchester beehrt, werden auch schon mal 120 000 Mark Abendgage fällig, und neuerdings macht der Dirigent noch als Komponist Kasse. Unter den Kapitalisten der Branche dürfte er der Krösus sein.
Nun ist Geldverdienen nicht kriminell. Aber längst lesen die Maestros an der Meßlatte ihrer Einkünfte ihren Marktwert ab und halten diesen für einen Indikator ihrer künstlerischen Potenz - oft ein peinlicher Irrtum. Andererseits machen die Geldgeber die Preistreiberei mit, weil sie sich im Glanz der Prominenz sonnen - und das ist nicht weniger peinlich.
Denn der Höhenflug der Honorare ist inzwischen mit dem Niedergang der Zunft synchronisiert. Im Overdrive der Geschäftemacherei, wo Sinfonien in rascher Folge und mit links erledigt werden, haben die Dirigenten den einst blühenden Individualklang der großen Orchester zum globalen Einheitssound planiert und ihr künstlerisches Ausdrucksprofil bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht.
Kaum einer der teuren Taktierer hat heute noch die künstlerische Autorität, die visionäre Kraft und jene tiefsinnige Hochachtung vor der Musik, die aus Klängen erst Kompositionen formt und daraus Kunststücke macht.
Claudio Abbados Philharmoniker in Berlin klingen heute zum Verwechseln ähnlich wie die Mannschaften von Boston oder Cleveland - alles ist perfekt, schnittig, mit virtuoser Sorgfalt dezent unterkühlt. Und die Dirigenten machen es vor: Auch sie zeigen lieber Brillanz als Emotion und geben sich lieber schmissig als sinnlich.
Vorbei ist die Belle Époque der Klemperers, Furtwänglers, Toscaninis, der wahren Maestros, denen bei bescheidener Bezahlung Sternstunden glückten und nicht bloß Starauftritte im Goldregen.
Der letzte Imperator des Konzertsaals, der genialische Carlos Kleiber, versagt sich schon lange dem Betrieb, und er weiß auch, warum: Als besessener Exeget und begnadeter Musikant steht er in stolzer Höhe auf verlorenem Posten.
Statt dessen lassen sich neuerdings immer mehr Paradiesvögel auf den Podien nieder. Der angerauhte Tenor Plácido Domingo spielt sich als Dirigent auf; der Ex-Geiger Yehudi Menuhin führt rührend das Staberl; Justus Frantz schlägt den Takt - oder was er dafür hält - über einer mediokren »Philharmonie der Nationen«.
Sogar Amateure greifen zum Stock, umjubelt auch sie. Mit Tokios Philharmonikern und 170 Choristen aus seiner Belegschaft hat Sony-Chef Norio Ohga Wagner-Werke aufgeführt. Seit Jahren tourt der amerikanische Ex-Verleger und Millionär Gilbert Kaplan durch die Musikzentren und empfiehlt sich als Mahler-Spezialist. Ist Dirigieren womöglich nur mehr Schaumschlägerei?
Jedenfalls wird im Concerto grosso von Profis und Laien das Berufsbild des Maestro noch weiter verwässert. Viele Dirigenten, kritisiert Dirigent Nikolaus Harnoncourt, seien »ziemlich schlampig«. Bei dem weltweiten Bedarf an Stabführern, ketzert der englische Hornist Kriss Rusmani, konnten »inkompetente Leute jahrelang überleben«.
»In unserem Beruf«, gesteht der dirigierende Nachwuchsstar Esa-Pekka Salonen aus Helsinki, »kann es ein Scharlatan ziemlich weit bringen.« Heutzutage gebe es »genügend Menschen«, klagt auch Mega-Maestro Maazel, »die sich Dirigent nennen, nur weil sie einen Taktstock vor einem Orchester bewegen; in der Musik bewegen sie nichts«.
Wahrscheinlich hat der Guru Celibidache gewußt, warum seinesgleichen in eine Krise schlittert: »Dirigenten«, murrte der Alte, seien »sehr primitive Leute und unter allen Musikern diejenigen, die am wenigsten Kultur haben«.