DEBATTE DER IDEALE KANDIDAT
Kurz vor dem Autobahnkreuz Kassel-Ost klingelte das Handy. Nach 500 Kilometern Autobahn waren mein alter Suzuki und ich für jede Abwechslung dankbar. »Ich hab von morgen auf übermorgen eine halbe Seite frei!«, hörte ich Malte schreien. »Haste einen Text für mich?« »Ich denk mir was aus!«, brüllte ich zurück. Bei Wünnenberg-Haaren verließ ich die A 44 in Richtung Paderborn. Im Waldhotel Nachtigall war noch ein Zimmer frei. Am nächsten Morgen stand ich relativ früh auf und setzte mich an meinen Computer. Gegen Mittag war die Geschichte fertig und abgeschickt, ich schaute mir in aller Ruhe Paderborn an und machte mich auf den Weg nach Westen.
Kurz vor fünf rief Malte wieder an. »Geh mal ins Netz, da geht die Post ab!« Ich bog bei Ibbenbüren ab und fand tatsächlich neben dem Döner-Imbiss »Aladin« ein Internetcafé.
Meine Ankündigung, mich um das Amt des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland zu bewerben, stand auf der Homepage des »Tagesspiegel«, Agenturen zogen mit Meldungen nach; es gab schon die ersten Stellungnahmen von Zeitgenossen, die es nicht fassen konnten, dass ich den Straftatbestand der Holocaust-Leugnung abgeschafft sehen wollte, weil er nur Psychos wie Horst Mahler und David Irving nützt. »Das kann ja heiter werden«, dachte ich, während ich wieder auf die A 30 rollte. Um acht wollte ich in Haarlem sein, wo mich eine indonesische Reistafel erwartete.
Hätte ich geschrieben, dass ich mich in Peschawar zum Taliban ausbilden lassen will oder dass in Wahrheit ich es war, der neulich als Wallraff mit Kraushaarperücke dem Rassismus in Deutschland nachspürte, nichts wäre geschehen. Aber offensichtlich hatte ich den politischen G-Punkt der Deutschen getroffen:
Wer darf und soll für die Juden in Deutschland sprechen?
Die folgenden zwei Tage verbrachte ich im Trainingsanzug an zwei Telefonen zugleich. Nach dem zehnten Interview hatte ich mich von der Idee, Präsident des Zentralrats werden zu sollen, selbst überzeugt, nach dem zwanzigsten wusste ich, dass ich der ideale Kandidat war. Und spätestens als ich von einer australischen Zeitung angerufen und gefragt wurde, ob ich es ernst meinen würde und wie gut oder schlecht meine Chancen seien, war mir klar, dass ich den point of no return überschritten hatte.
Tatsächlich ist die Frage, wer die Juden in Deutschland repräsentieren soll, nicht so banal, wie sie sich anhört. Vor allem für die - wie sage ich es korrekt? - Bundesbürger ohne Migrationshintergrund, die sich manchmal als »nicht jüdische Deutsche« bezeichnen, wenn es darum geht, über Juden und Deutsche zu sprechen. Sie könnten auch christliche Deutsche sagen, aber sie sagen nicht jüdische Deutsche, so als ob Judesein der normale Aggregatzustand des Menschen ist. Für mich klingt das, als würde sich ein Mann als »Nicht-Frau« bezeichnen.
Bis zur Wende vertrat der Zentralrat etwa 30 000 Juden, eine Minderheit so winzig, dass sie statistisch kaum erfassbar war, 0,05 Prozent der Bevölkerung. Dennoch war der Zentralrat eine Instanz, der Lackmustest dafür, ob Deutschland die eigene Vergangenheit erfolgreich bewältigt hatte. Wenn man als Jude »im Land der Täter« leben konnte, hatte auch der Rest der Welt keinen Grund, den Deutschen zu misstrauen. Jede Eröffnung eines jüdischen Kindergartens, jedes Konzert einer Klezmer-Gruppe aus Reinickendorf galt als Beweis für die »Rückkehr zur Normalität«. Wurde gar eine neue Synagoge eingeweiht, für die es keinen Bedarf gab, konnte man selbst die Zierpflanzen murmeln hören: »Wer baut, der bleibt.«
Die Juden nahmen sich der Aufgabe, Deutschland zu rehabilitieren, gern an, hatten sie doch nun das Gefühl, ernst genommen zu werden - weit über ihr tatsächliches Potential an Masse und Klasse hinaus. Die Angehörigen und Nachkommen der Opfer attestierten den Nachlassverwaltern der Täter immer wieder den Willen zur Besserung und gute Führung - dafür wurden sie wiederum mit Bundesverdienstkreuzen geehrt und durften bei den Feiern zur Woche der Brüderlichkeit immer in der ersten Reihe sitzen. Das änderte sich erst mit dem Fall der Mauer und mit der Wiederherstellung der vollen deutschen Souveränität. Deutschland war rehabilitiert und auf die Fürbitten der jüdischen Bewährungshelfer nicht mehr angewiesen. Spätestens mit dem Einzug von Gerhard Schröder ins Kanzleramt hatte auch der letzte Synagogendiener in Mecklenburg-Vorpommern begriffen, dass die Nachkriegszeit vorbei war. Schröder wünschte sich ein Holocaust-Mahnmal, »zu dem man gern hingeht« - und ging ansonsten auf Distanz zu lebenden Juden, vor allem zu denen in Israel, wofür er nach seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt mit dem Ehrenvorsitz des Deutschen Nah- und Mittelostvereins belohnt wurde.
Parallel dazu entwickelte sich jüdisches Leben außerhalb des Zentralrats. Es gab Gemeinden, die den Zentralrat verließen, und solche, die gar nicht erst aufgenommen werden wollten. In Berlin wurde schon Ende der achtziger Jahre unter obskuren Umständen eine von den Nazis liquidierte orthodoxe Gemeinde wiederbelebt, Adass Jisroel, ausgerechnet von einem ehemaligen SED-Sympathisanten und mit Hilfe Lothar de Maizières. Später etablierten sich jüdische Organisationen wie das American Jewish Committee, das dem Zentralrat Konkurrenz macht als Anlaufstelle für ausländische Politiker, die den Stand der Vergangenheitsbewältigung begutachten wollen. So büßte der Zentralrat nach und nach seinen Alleinvertretungsanspruch und auch seine Autorität ein. Es ging ihm dabei nicht anders als der SPD, die einen Teil ihrer Klientel an die Grünen und die Linke abgeben musste. Nur dass die Funktionäre des Zentralrats noch länger brauchten, um den politischen Klimawandel zu bemerken.
Der Zentralrat geriet in eine Zwickmühle. Einerseits musste er immer lauter und öfter auf die Pauke hauen, um gehört zu werden, andererseits inflationierte er seine Präsenz durch häufige Wortmeldungen - oft aus nichtigem Anlass oder aus Verkennung seiner tatsächlichen Bedeutung. Mal forderte man den Rücktritt der Ministerpräsidenten Wulff (Niedersachsen) und Oettinger (Baden-Württemberg), mal die Einführung eines Fachs »Holocaust-Erziehung«, um sich wenig später kleinlaut von den eigenen Forderungen zu verabschieden. Im Zuge der Williamson-Affäre drohte man lärmend, mit dem Vatikan nicht mehr reden zu wollen, und rückte dann leise wieder davon ab. An der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz am 27. Januar im Bundestag nahmen keine Vertreter des Zentralrats teil, weil sie nicht »wie Zaungäste behandelt werden« und auf der Zuschauertribüne Platz nehmen wollten. Viel Mut zum politischen Harakiri bewies der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer, als er den Berliner Ex-Senator Thilo Sarrazin wegen dessen Äußerungen über Migranten in Berlin mit Hitler und Goebbels in eine Reihe stellte, ohne dass ihn jemand öffentlich zur Ordnung rief.
Um den Bedeutungsschwund zu kompensieren, suchte der Zentralrat nach neuen Verbündeten. Es kam zu einer Allianz mit der Türkischen Gemeinde, wobei nicht klar war, wer wen huckepack nahm, der jüdische Winzling den türkischen Riesen oder umgekehrt. Die erste gemeinsame Veranstaltung war eine Podiumskonferenz über »Antisemitismus, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit«; sie basierte auf einem doppelten Missverständnis. Wenn der Zentralrat die Existenz eines Phänomens namens »Islamophobie« anerkennt und in einen historischen Zusammenhang mit dem Antisemitismus rücken würde, so hofften die Juden, würden sich die Türken erkenntlich zeigen und dem Judenhass in ihren Reihen den Kampf ansagen. Den Türken dagegen kam es darauf an, sich mit Hilfe der Juden als die Juden von heute zu positionieren - eine diskriminierte und verfolgte Minderheit, der das bevorstehen könnte, was die Juden nach 1933 erleiden mussten. Ganz so weit mochten die Juden den Türken nicht entgegenkommen, immerhin machten sie den diffusen Begriff »Islamophobie« koscher. Man ging ein wenig enttäuscht auseinander, vereinbarte aber, die Zusammenarbeit fortzusetzen.
Inzwischen vertritt der Zentralrat 120 000 Juden. Wahrscheinlich sind es insgesamt 200 000, die heute in Deutschland leben. Das ist wenig im Vergleich zu den 3 Millionen Türken. Anders als die Türken haben die Juden dagegen den Schritt von der Integration zur Assimilation längst getan. Deswegen denken sie über eine Umbenennung nach: Aus dem Zentralrat der Juden in Deutschland soll der Zentralrat deutscher Juden werden.
Es ist also nichts mehr so, wie es noch vor 10 oder 20 Jahren war. Nur die Rituale sind dieselben: 27. Januar, 9. November, Woche der Brüderlichkeit, wehret den Anfängen, nie wieder 33! Und zwischendurch ein Bekenntnis zur »besonderen deutschen Verantwortung für Israel«, die allerdings nicht so weit geht, den Handel mit Iran einzustellen.
Vor diesem Hintergrund hielt ich es für eine gute Idee, den Zentralrat ein wenig aufzumischen. Um mit Herbert Achternbusch zu sprechen: »Du hast keine Chance, aber nutze sie!« Und wenn man in Deutschland etwas in Gang setzen will, muss man eine Personaldebatte entfachen, obwohl natürlich alle so tun, als wären sie an Sachfragen interessiert. Hätte ich geschrieben, der Zentralrat wäre ein Verein von Schnarchnasen, denen es vor allem darauf ankommt, nicht unangenehm aufzufallen und zum nächsten Sommerfest des Bundespräsidenten eingeladen zu werden, wäre nicht einmal die Bürochefin von Charlotte Knobloch beleidigt gewesen. Ein Außenseiter aber, der gleich die ganze Firma übernehmen möchte, bringt die Ordnung durcheinander und sorgt für Panik auf dem deutsch-jüdischen Jahrmarkt der Eitelkeiten.
Ich hatte damit gerechnet, dass ein paar alte Freunde die Gelegenheit nutzen würden, um offene Rechnungen zu begleichen. Michel Friedman ("gegelte Nervensäge"), Rafael Seligmann ("Vertreter des Landjudentums"), Micha Brumlik ("Professor Unrat der Grünen") gaben einstimmig zu Protokoll, ich sei für das Amt ungeeignet. Auch Kollegen und Mitbürger ohne eigene Interessen reagierten verstört. Wieso der? Wieso jetzt? Und warum überhaupt? Von der »FAZ« bis zur »taz«, von der »Kulturzeit« auf 3sat bis zum »Neuen Deutschland« sorgten sich alle um das Wohl des Judentums. Den philosemitischen Vogel schoss die »SZ« ab: »Da werden sich die Aktivisten der Neonazi-Szene aber bedanken, dass sie jetzt offen ihr Gedankengebräu verabreichen können. Alle, die den Holocaust überlebt haben, wundern sich.« Wie die Reporter der »SZ« das nun genau recherchiert und herausgefunden haben, kann ich nicht beurteilen. Meine große Schwester jedenfalls haben sie nicht gefragt. Weniger als »alle« aber wäre nicht genug gewesen.
Die Reaktionen zeichneten sich nicht nur durch eine radikale Humorallergie aus, viele Kommentatoren schienen geradezu beleidigt, dass sie nicht konsultiert worden waren. Deutschland liebt Unruhestifter, Querdenker und Seiteneinsteiger, aber nur so lange, wie sie darauf achten, dass alles so bleibt, wie es ist.
Zugleich scheint der Übergang zwischen echtem Leben und virtueller Welt immer einfacher zu werden. Die Linke nominierte für das Amt des Bundespräsidenten einen TV-Kommissar, der davon träumt, Banker eigenhändig zu verhaften. Schauspieler, die in Soaps Ärzte spielen, machen in Talkshows Vorschläge zur Optimierung der Gesundheitsreform. Der FDP-Veteran Rainer Brüderle traut sich zu, den Wirtschaftsminister zu geben. Da könnte auch Boris Becker Familienminister werden und ich - Präsident des Zentralrats der Juden.
Keine Sorge. Ich mache es nicht. Ich bin weder größenwahnsinnig noch vergnügungssüchtig.