Der Kaiser ist tot, es lebe der Kaiser
Etwa so lange wie die Queen Victoria über das britische Empire hat die Kaiserinwitwe Tse Hsi über China geherrscht. Sie war bizarr, verschwenderisch, verrückt, deshalb lebt sie noch achtzig Jahre nach ihrem Tod als fabelhaftes Ungeheuer in der chinesischen Volksmythologie fort; auch Bernardo Bertolucci bekommt funkelnde Augen, wenn er von ihr erzählt.
Tse Hsi hatte sich, Mitte des letzten Jahrhunderts, vom Rang einer Konkubine dritten Grades, wovon es laut Hofzeremoniell 27 Stück gab, zur Favoritin des Kaisers emporgearbeitet, weil sie als einzige ihm einen Sohn gebar. Deshalb gab es auch heimliche Zweifel an dessen Legitimität. Als der Kaiser starb, bugsierte Tse Hsi resolut ihren sechsjährigen Jungen auf den Thron und übernahm die Regentschaft. Wo Intrigen nicht halfen, half Dolch oder Gift.
Der junge Kaiser aber starb recht plötzlich, sogar sehr plötzlich, als er eben alt genug geworden war, um selbst die Macht zu übernehmen, und Tse Hsi inthronisierte rasch einen neuen Jungen aus ihrer Sippe, diesmal einen Fünfjährigen, damit sie ungestört weiterregieren konnte. Auch dieser zweite Vorzeige-Kaiser entwickelte, als er herangewachsen war, Eigensinn und den Wunsch nach eigener Macht. Tse Hsi mußte viele Köpfe rollen lassen, um am Ruder zu bleiben; den Kaiser sperrte sie für die elenden letzten zehn Jahre seines Lebens in einen Pavillon mit vermauerten Fenstern im Palastpark. Jeden Monat einmal ließ sie ihn antreten und sich ihr im neunfachen Kotau zu Füßen werfen.
Tse Hsi hatte ein halbes Jahrhundert lang Zeit, China zugrunde zu regieren. In ihren jungen Jahren sollen die stämmigen Burschen, die sie sich abends in den Palast bringen ließ, jeweils in der Morgenfrühe ohne Kopf im Wassergraben um die »Verbotene Stadt« versenkt worden sein. Im Alter ließ sie sich von ihren Höflingen als Inkarnation des Buddha verehren, als Gottheit der Gnade, und es scherte sie nicht, daß seit Jahrhunderten der Dalai-Lama von Tibet Anspruch auf solche Göttlichkeit hatte. Tse Hsi hielt sich für unsterblich, und sie schreckte vor nichts zurück.
In Bernardo Bertoluccis Film »Der letzte Kaiser« hat Tse Hsi eine einzige, aber grandiose Szene. Da sitzt sie in ihrem mit riesigen Drachen verzierten Bett, umringt von weihrauchkübelschwenkenden Hofschranzen, eine grell geschminkte, schon sterbende Greisin, weniger Buddha als Inkarnation aller Märchenhexen der Welt. Mit den spannlangen Jadekrallen an ihren Fingern lockt sie einen staunenden kleinen Jungen zu sich ans Bett und offenbart ihm, daß sie ihn zum neuen Kaiser von China ernannt habe, zum Sohn des Himmels, zum Herrn über zehntausend Jahre.
Der kleine Junge namens Pu Yi, der dritte und letzte Kind-Kaiser, den die alte Hexe auf den Thron gesetzt hat, Ende 1908, hat kaum mehr als drei Jahre »geherrscht": Kurz nach seinem sechsten Geburtstag mußte er abdanken, Opfer der ersten chinesischen Revolution - ihr Anführer war ein grimmiger alter Spießgeselle von Tse Hsi, der sich nun zum ersten Präsidenten der Republik machte und bald darauf sann, selbst Kaiser zu werden.
Den kleinen Pu Yi aber hat der Fluch des Kaiser-sein-Müssens und Kaisersein-Wollens sein Leben lang verfolgt; dieser Wahn trieb ihn in den dreißiger Jahren dazu, Chinas prominentester Landesverräter, Kollaborateur mit dem Erzfeind Japan und Kriegsverbrecher zu werden. Die Kommunisten haben ihn dafür nicht hingerichtet, sondern in einem speziellen Gefängnis geduldig zu Mao und Marx bekehrt: Pu Yi sollte beweisen, daß auch aus dem faulsten und schädlichsten Glied der Gesellschaft ein nützliches werden könne.
»Eigentlich hat er niemals Geschichte gemacht, weil er nie wirkliche Macht hatte«, sagt Bertolucci, »er war wie ein leichtes Blatt, das immer mitten im Strom der Geschichte obenauf schwimmt. Deshalb ist sein Leben so absurd und so exemplarisch.«
In seinen letzten Jahren fuhr Pu Yi auf dem Fahrrad in einer grauen Mao-Jacke durch Peking, er war Gärtner, Historiker des Kaisertums, treuer Bürger des neuen Staates geworden - ob er sich aber nicht im Traum immer noch manchmal als Sohn des Himmels erlebt hat, als irdische Verkörperung des großen Drachen, weiß niemand, auch Bertolucci nicht. »Man muß ihm sein Geheimnis lassen.«
Dreieinhalb Jahre lang war Pu Yi die Hauptfigur in Bertoluccis Leben, kreiste seine Phantasie um Pekings »Verbotene Stadt«, um »das einsamste Kind der Welt«, das in diesem Luxus-Gefängnis heranwuchs, ohne Mutter, ohne Spielgefährten, von 1500 Eunuchen verhätschelt, belogen und betrogen.
Jetzt ist Bertolucci heimgekehrt in seine »Höhle« in Trastevere, wo für ihn Rom am schönsten ist, kleinstädtisch eng, vollgestopft mit Kirchen und Kneipen. Die Hinterhofwohnung, die von außen nach nichts aussieht, öffnet sich im Innern erstaunlich weit und hoch. Bertolucci schaut über Dächer ins Grün des Botanischen Gartens. Der Heimkehrer wirkt überhaupt nicht erschöpft, sondern neugierig, wach, voller Vitalität, mit 47 Jahren gewissermaßen durch China verjüngt. Pu Yis Geschichte fing mit Tse Hsi an, und wie hat seine Pu-Yi-Geschichte begonnen?
Seine frühesten Kindheitseindrücke, die sich mit China verbinden, sagt Bertolucci, waren Bilder in einem alten Völkerkundebuch, die ihm die »beispiellos raffinierten Torturen« der Chinesen vor Augen führten- und natürlich hat er irgendwann von dem Märchenkaiser gehört, der ein demütiger Gärtner und Kommunist geworden sei. Doch sein wirkliches China-Abenteuer entsprang einem Moment der Wut und Enttäuschung: Sein Versuch, Amerika zu erobern
mit einem Film nach Dashiell Hammetts Gewerkschafts- und Korruptionskrimi »Rote Ernte«, war am Mißtrauen der Geldgeber gegenüber dem Kommunisten Bertolucci gescheitert.
»Zwei Jahre meines Lebens hatte ich damit verloren, da beschloß ich, mich dem anderen Ende der Welt zuzuwenden.« Sein erster Plan war, Andre Malraux' China-Roman »La condition humaine« zu verfilmen. Doch dann legte ihm ein Freund, ganz beiläufig, die Autobiographie von Pu Yi auf den Tisch, und als Bertolucci im Frühjahr 1984 nach China fuhr, um Film-Möglichkeiten zu prüfen, hatte er seinen Helden, seinen Antihelden gefunden: Das wollte er machen, obwohl alle »realistischen Branchenkenner« ihn warnten, er werde nur abermals Jahre an einen unmöglichen Traum verschwenden.
Ihn faszinierten die Märchenpracht dieser Kindheit, die scheinhafte Erfüllung aller infantilen Allmachtsträume der Größenwahn, der daraus entsprang und ihn faszinierte die dramatische Umdrehung des Themas: die Prozedur der »Umerziehung«, die Pu Yi »befreite« und »heilte« - wenn es denn so war.
»Mao selbst hat ja den Begriff 'Gehirnwäsche' benutzt«, sagt Bertolucci, »aber man kann die Behandlung Pu Yis durch einen sehr geduldigen Gefängnisdirektor, zehn Jahre lang, auch mit einer Psychoanalyse vergleichen: Er wurde zu einer gewissen Selbsterkenntnis geführt. Pu Yi war sein Leben lang ein Gefangener, immer von anderen manipuliert und zu ihren Zwecken benutzt, auch von den Kommunisten. Deshalb denke ich, er ist nicht durch die Umerziehung verändert worden, sondern durch die Freiheit. An dem Tag im Jahr 1959, als er zum ersten Mal als freier Mensch in Peking auf der Straße stand, war er ein anderer.«
Bertolucci kam für die Chinesen, im richtigen Augenblick: Sie waren begierig, mit dem Westen ins Filmgeschäft zu kommen. Daß sie »La condition humaine« ablehnten, überraschte ihn kaum, schließlich handelt das Buch von einer der schrecklichsten Niederlagen der Kommunisten. Über Pu Yi jedoch wurde man sich leicht einig. Bertolucci meint, sein Ruhm, sein Prestige im Westen sei den Chinesen wichtig gewesen, aber nicht, daß er Kommunist sei, und noch weniger, was er für Filme gemacht habe. »Erst viel später hat mir ein hoher Kulturfunktionär ganz geheimnisvoll anvertraut, daß er zu Hause den 'Letzten Tango' auf Videokassette hat - das ist in China noch immer eine sehr heiße und sehr verbotene Ware.«
Die Chinesen offerierten ihm ihr Kostbarstes, ohne das sein »Letzter Kaiser« ein unmöglicher Traum geblieben wäre: die »Verbotene Stadt«, in deren heiligen Hallen, Höfen und Gärten noch nie ein Spielfilm gedreht worden war. Für Bertolucci ist dieser hochummauerte Palastbezirk mit seinen Marmorbalustraden, roten Säulen und kaiserlich gelben Dächern
»die großartigste Dekoration, die man je für eine Inszenierung gebaut hat« - und er meint damit nicht seinen Film. Er hat seit je und immer wieder das Leben, die Politik, die Geschichte als Spiel, als Schau, als barockes Theater zugleich entzaubert und gefeiert.
Im überreichen ersten Teil des »Letzten Kaisers« scheint Bertolucci mit seiner schwelgenden, schwebenden, sensationssüchtigen Kamera manchmal der Pracht des Schauplatzes zu erliegen. Doch dieser goldene Überschwang macht den Sturz um so schneidender, schärfer, wenn die Geschichte als blutige Farce wiederkehrt. 1934 läßt sich Pu Yi von den Japanern in der eroberten Mandschurei als »Kaiser« von ihren Gnaden inthronisieren: Da steht er - die Szenen haben einen eisigen Blauton - in einer abscheulich faschistischen Uniform in einer abscheulich faschistischen Dekoration, ohnmächtig und verblendet, kein großer Diktator und auch kein kleiner, nur ein Hampelmann.
Natürlich hat Bertolucci, von Freud so stark wie von Marx geprägt, seinen Pu Yi gründlich analysiert: War er trotz Kaiserinnen und Konkubinen impotent? Oder gab es in seinem Gefolge jeweils einen Pagen, den der Hofklatsch »die männliche Konkubine« nannte? Und woher kamen die sadistischen Obsessionen, von denen Pu Yi in seiner Autobiographie erzählt? »Ich könnte mir auch einen Film vorstellen, der ihn als schlimmen Psychopathen zeigt«, sagt Bertolucci, »aber ich habe anders gewählt. Mir ging es um die große Bewegung dieses Lebens, um das Phantastische, Illusorische. Eigentlich war er ein Kind.«
So steht im Film für alle Opfer, die Pu Yis Wahn forderte, nur eine Figur: die schöne Kaiserin (Joan Chen), die ihren Kaiser (John Lone) unbeirrbar liebt, ihm in allen Erniedrigungen die Treue hält und auf schreckliche Art daran zerbricht, langsam und leise wie ein kostbares Stück Porzellan. »Ihr Leben war ein Melodram, und ich wollte es als großes Melodram.«
»Der letzte Kaiser«, sechs Jahrzehnte umspannend, gewissermaßen Bertoluccis »1900« auf chinesisch, ist natürlich die Chinoiserie eines Europäers. »Solange ich sehe, kann ich nur mit meinen Augen sehen.« Es ist ein sattes, richtig majestätisches Kino-Ereignis, ein »Monumentalfilm« voller Raffinement, wie es dergleichen kaum mehr geben wird, wenn denn die Zukunft des Kinos der Videoclip ist - eine leicht überzüchtete und um so üppigere späte Blüte.
Bertolucci hat sich in die Chinesen, »ein Volk an der Schwelle zur Coca-Colonisierung«, verliebt. »Sie sind witzig, beweglich, weich, geradezu weiblich, ganz im Gegensatz zum 'machismo' der Japaner. Aber deshalb haben die Japaner den Krieg verloren und die Chinesen die Revolution gewonnen.« Für Bertolucci ist sein Film auch eine Liebeserklärung an China, und er wünscht sich sehr, daß er dort gezeigt wird. »Vor ein paar Tagen war der Kulturminister hier in Rom und hat ihn sich angeschaut. Es wurde ein herzliches Fest daraus, mit meiner ganzen Familie. Und in Peking war vorgestern eine Vorführung für Funktionäre und für die kaiserliche Familie. Pu Yis jüngerer Bruder, der ja im Film als Figur vorkommt, soll ganz begeistert gewesen sein. Aber...«
Bertolucci schaut ins Grüne und schüttelt den Gedanken ab, daß die Chinesen seine Liebeserklärung verschmähen könnten. Ein Gefeilsche um Details wird es wohl geben. »Ich glaube, daß ihnen der fanatische Gegenspieler des Gefängnisdirektors nicht gefällt. Und meine Art von Erotik, obwohl sie für unsere Begriffe sehr lyrisch und sehr diskret ist. In chinesischen Filmen gibt es keine Küsse, und es gibt keinen nackten Frauenfuß. Sogar im Hochsommer sieht man in Peking auf der Straße keine Chinesin, die nicht wenigstens weiße Söckchen trägt. Die Chinesen sind die größten Fuß-Erotiker, die ich kenne.«
»Der letzte Kaiser« ist keine pingelige historische Nacherzählung, vielmehr die Vision einer Lebensbahn; das gibt dem
Film seinen Schwung, seinen mächtigen Atem. Doch im Gespräch beharrt Bertolucci lebhaft auf der Tatsächlichkeit seiner Bilder; auch Details, die man für wunderbare Erfindungen hält, seien belegbar. Nur zwei Ereignisse, sagt er, habe er »konstruiert«, als »dramatische Verdichtungen« einer Situation: zu Beginn des Films den kläglichen Selbstmordversuch von Pu Yi und am Ende die Wiederbegegnung zwischen Pu Yi und seinem väterlich-gütigen »Umerzieher«, dem Gefängnisdirektor, im Chaos der Kulturrevolution.
Es ist wahr, Pu Yi, schon sterbenskrank, ist 1967 von den Roten Garden schlimm malträtiert worden, wie der Journalist Li Wenda, der Pu Yis Memoiren in Buchform gebracht hat, wie der Schauspieler Ying Ruocheng, der den Gefängnisdirektor im Film spielt, und wie der wirkliche Gefängnisdirektor: Der wurde, bevor man ihn in ein Arbeitslager schickte, zu tausend Kotaus vor einem Mao-Bildnis gezwungen. Auch die Roten Garden hatten ihre »beispiellos grausamen Torturen«.
Im schönen Frühjahr 1968 hat Bertolucci seinen Film »Partner« gedreht, der so direkt wie sonst nur Godards »La chinoise« auf die europäische »Kulturrevolution« jener Jahre reagierte. Auch bei Bertolucci wurden eifrig die kleinen roten Mao-Bibeln geschwenkt - doch nur zum Spaß. »Maoist war ich nie. China als Projektionsfläche für unsere konfusen Utopien, daran habe ich nie geglaubt. Mir gefiel die Ästhetik der Kulturrevolution, ich sah sie als riesiges Straßentheater: Millionen Komparsen, von dem genialen Regisseur Mao in Szene gesetzt. Doch ihr Fanatismus machte mir angst. Erst heute kann ich sagen, was mir da fehlte.« Bertolucci sagt es mit einem Filmtitel von Bunuel: »Das Gespenst der Freiheit.«
Im Film gerät der Radfahrer Pu Yi 1967 in einen Umzug der Roten Garden und sieht, daß sie seinen Gefängnisdirektor als Gefangenen durch die Straße zerren. Pu Yi greift ein, zum erstenmal frei, spontan, getrieben von einem Gefühl für das Rechte, um seinem Helfer zu helfen, und bezieht ebenfalls Prügel. »Was die Kulturrevolution für ein Alptraum war, haben wir alle erst viel später begriffen«, sagt Bertolucci. »ICH wollte sie zeigen, wie sie mir damals erschien, von Kindern dargestellt, naiv, mit Tanz und Gesang, halb Living Theatre, halb wie von Pina Bausch inszeniert. Um so grausamer sind die Prügel: Das ist die letzte Umkehrung, die letzte Ironie, der letzte böse Streich, den die Geschichte Pu Yi spielt.«
Die Wände in Bertoluccis weitem Wohnraum sind bis zur Hälfte der Höhe kräftig gelb gestrichen, parmagelb, kaisergelb, darüber blaßblau. Unten die Wüste, oben der Himmel. Irgendwann möchte Bertolucci noch einmal in China filmen, »La condition humaine« ist nicht vergessen. Doch jetzt zieht es ihn in die Wüste, nach Nordafrika: Sein nächster Film, nach einem Roman von Paul Bowles, soll »The Sheltering Sky« heißen.
Den »Letzten Kaiser« hat er aus seiner Obhut entlassen und ist nicht einmal zur Uraufführung Anfang Oktober bei den Filmfestspielen in Tokio gefahren; der muß nun, wenn er in diesen Wochen in die europäischen und amerikanischen Kinos kommt, seinen Weg allein machen. Es stecken in diesem ziemlich einzigartigen Kino-Abenteuer drei Jahre Lebenskraft eines großen Filmemachers, seine immense Schaulust und Phantasie, sein mit Freud und Marx gefütterter Kunstverstand, seine Leidenschaft: viel von ihm selbst. Bertolucci lacht: »Wenn man so will, könnte ich sagen: L'empereur c'est moi!«