Der Mandarin im Supermarkt
Auf nächtlichem Heimweg reißt Loser, vom Dienst freigestellter Lehrer für alte Sprachen, Gelegenheitsarchäologe, von seiner Familie getrennt lebend, Holzgestelle mit Wahlplakaten, deren »Slogans ... einem dann taglang nicht aus dem Kopf gehen«, aus dem Boden und wirft sie in den Kanal. Danach sind ihm Welt und Gehirn ein Weilchen frei für Landschaft und Verse.
Radikales Leerräumen der Literatur vom Gerümpel der Tradition war das Verdienst des »nouveau roman«, und wie kaum ein zweiter deutschsprachiger Autor hat Peter Handke zu Beginn seiner Arbeit von dessen Tabula-rasa-Effekt, der den Aufbau einer eigenen poetischen Welt erleichterte, profitiert.
Seither suggerierte Handke mit jedem Buch, Witterung von etwas äußerst Wichtigem aufzunehmen, wobei er nicht das sogenannte Existentielle zu seinem Thema machte, sondern die Literatur als Herzklopfen verursachendes Existentielles spürbar werden ließ.
Auch in den letzten Jahren blieb aufregend, was er andeutend zu Tage brachte: Die wiederentdeckte Brisanz der Dinge ("Die Stunde der wahren Empfindung"), das »nüchterne Gefühl eines überindividuellen Glückes«, wie er es schon 1975 in einem Text über Hermann Lenz nennt, die Poesie als kämpferische Verbündete des Menschen ("Über die Dörfer"). Allerdings handelte es sich stets weniger um Konkretisierungen als um provozierende Versprechen.
Motor des neuen Handke-Buches ist die Sehnsucht nach dem Aufleuchten der Dinge statt einer vor sich hinbrütenden Welt voller Sachen, die nichts als vorhanden sind, nach »jener Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungskraft«, nach poetischem Welterlebnis als Lebensnotwendigkeit: wiederum, zweifellos, ein äußerst wichtiges, ja, geradezu elektrisierend fälliges Thema!
Es geschieht gleich zu Anfang: Eine »wärmende Leere«, durch den Satz eines Entgegenkommenden hingezaubert, verdrängt Losers behäbig angelegte, den geologischen Signalen der Landschaft folgende Panoramabeschreibung einer Neubausiedlung bei Salzburg. Die »Erzählung« bricht aus und versetzt die fortlaufenden Ereignisse der Gegenwart, durch das Buch hindurch, in die Vergangenheit, als Brückenschlag zu einer gewandelten Gegenwart von Neubausiedlung und Kanal am Schluß.
Ein überzeugendes Konzept: Den subjektiven Wahrnehmungen des Erzählers Loser im entrückenden »Es war einmal«-Ton stehen die unverrückbaren, aus dem Raum seiner »Erzählung« ragenden, eingeschobenen Präsens-Angaben über stabile örtliche und familiäre Verhältnisse gegenüber. Erst im Epilog (und einmal im Augenblick einer Liebesnacht), in der Schilderung des Kanals, seiner Brücke und der sie überquerenden Menschen, werden, durch poetische Veränderungsmacht, Gegenwart und hochpersönliche Wahrnehmung eins.
Handkes beobachtender Blick sucht diesmal nicht die Nischen des Noch-nieso-Beschriebenen. Im Gegenteil!
Wenn Loser sich durch menschliche Ansiedlungen oder durchs Gebirge bewegt, ob er zu Boden oder zum Himmel sieht: Seine archivarische Wahrnehmung rückt stammelnd, wie durch »Schwellen« jedesmal zum aufmerksamen Einhalten gezwungen, von Fliederknospe zu Rabe, auch zu Kühlschrank und Tennisball, eine »Staffel« von einfachem Ding zu einfachem Ding, das jeweils eben erst in jene »Leere« gestellt zu sein scheint. Es gibt unter anderen die Gestalten-Staffel eines Spatzes (eine Metamorphose über Maus, Krähe, Hahn, Löwe, Delphin), die großartige Geräusch-Staffel eines Zugsignals bis zu Hundegebell, zu Baum- und Regenrauschen, den rund um den Globus hüpfenden Austausch von Orten (zum Beispiel Salzburger Gartenterrasse-Westjordanland).
Leider erfüllt diese poetische Praxis der bloßen Betrachtung Losers Wunsch nach einer schöneren Welt längst nicht so zuverlässig wie die Übereinstimmung eines Gegenstands mit einem Zitat aus antiker Literatur. Dann, nur dann, erhalten nicht allein Weinstock, Ostwind und Geschlechtsverkehr einen verklärenden Glanz, auch das Auto schimmert »dank der. Verse Vergils jetzt von einem besonderen Blau«.
Losers Beobachtungsketten werden regelmäßig gestoppt durch halb-philosophische Erwägungen. Interpretationsbemühungen kann man sich schenken. Das übernimmt Handke in einem Hagel von Erkenntnissen selbst. Außerdem wird man von ihm eigens dazu autorisiert: »Die Lehre«, heißt es über Vergils »Georgica«, »auf die es mir ankommt, entnehme ich aber nicht diesen Regeln, sondern der Begeisterung über die Dinge.« Hier jedoch ist, wenn man sich dem Weisheiten-Bombardement verweigert und nur ans materiell Konkrete hält, kein »Gedicht«, kein »Gesang«, keine »Erzählung« entstanden, vielmehr, obwohl etwas anderes vorgetäuscht wird, ein Traktat!
Ein Traktat aus lauter Dingen, Stimmungen, Entwicklungsschritten, die sich einspruchslos der Argumentation Handkes unterwerfen. Ob Loser jemanden umbringt oder sich eine Liebste wünscht, die prompt aus dem Himmel einschwebt, ob sich ihm die Welt plötzlich »verjüngt«, es geschieht nicht durch formende Überredungskunst, sondern auf rücksichtslosen Befehl des Autors.
Damit der Beweisgang stimmt, wird Loser von Wildfremden leitmotivisch »Chinese«, »Indianer« genannt, vollbringt die Ehefrau - und sie nicht allein -, mit der ihn doch die ganze Zeit nichts verbindet, gegen Ende, kaum daß sie auftaucht, aus dem Stand stichwortgebende lyrische Hochleistungen: es habe sie »gefröstelt vor Geborgenheit«.
Losers unterschiedliche Zustände wirken wie nachträgliche Einfälle zur Exemplifizierung einer vorgefaßten Idee. Ein Widerstand der Realität wird nicht sichtbar, was auf der Ebene der poetischen Anschauung zunehmend den Eindruck wabernder Beliebigkeit erweckt.
So passiert es, daß man es weder als frivol noch als schwelende Beunruhigung empfindet, wenn Loser einen Mann erschlägt und zunächst weiter Wahrnehmungen
botanisiert, dann bei einem Kartenspiel unbeschwerte Glückserlebnisse hat. Es ist einfach egal, es macht nichts. Hier ist ja alles möglich.
Natürlich, im Sinne des Traktats hat der »Betrachter« (Loser), hundertprozentig, seine Tat getan. Um aber ein aus den Details der Realität gebildetes Märchen zu sein, fehlt die archaische Zwangsläufigkeit der diktierten Wunder.
Das seltsame Unglück, das aus den vielen, zum Teil hinreißenden Einzelbeobachtungen insgesamt nur ein schemenhaft-vages Wogen und Schwanken der Ereignisse wird, rührt zudem von einem beduselnden Altväterton her, der die scharfen Konturen der Wirklichkeit allzu erfolgreich harmonisiert. Der »Grenzschwindel«, das beklagte »Vertuschen« der »Schwellen« zwischen den schroffen Gegebenheiten der Welt wird vom Autor selbst verübt durch Geschwollenheit, durch Einfachheit auf silbernem Tablett.
In einer Spelunke schlachten nackte Männer Unbewaffnete ab. Sind die Opfer in Stücke zerteilt, werden sie von den chinesischen Gästen des Lokals unverzüglich verschlungen. Das träumt Loser während eines tagelangen Ohnmachtsanfalls der Un-Poesie. Kein »wippender Vogel« hilft, kein Vergil. Der Traum demonstriert schaurig-sinnfällig, was für Menschen aus der Welt werden, wenn der wahrnehmend-schöpferische Blick sie verläßt: Reduktion auf das schiere Material, Zerstückelung, Namenlosigkeit.
Aber selbst in diesem Zusammenbruch gibt es nur eine einzige Störung des sonst immer moderaten, behaglichen Erzähltons. Auf den eingebildeten Anwurf: »So sag doch einmal, daß dir die Liebe fehlt!« gerät Loser in Rage: »Welche Liebe meint ihr nur immer? Die Geschlechterliebe? Die Liebe zu einem Menschen? Die Liebe zur Natur? Die Liebe zum Werk?«
Die Entgleisung, das unvermutet Schrille, dieses Haar in der Suppe, könnte es auch ihr Salz sein, das Loser vorher so gepriesen hat? Gewiß nicht, ein Satz-Körnchen reicht nicht aus, um das ganze Gericht durchzuwürzen. Das altertümliche Raunen eines imaginären. 19. Jahrhunderts nimmt weiter seinen Gang, wobei die extreme, theorielose Konsequenz des Stifterschen »Witiko«, die unerbittliche Tiefenschärfe Kellers einem nur in den Sinn kommen, weil Handke beide Dichter nach eigener Bekanntmachung so nachdrücklich gelesen hat.
Als Loser in seiner schwärzesten Stunde auf den Trost österlicher Glocken wartet, muß dieser unselige Mandarin des Schmerzes den Satz einer Verkäuferin: »Wir stehen im Moment sehr im Ostereier-Druck!« anhören. Erlöst wird er beim Anblick einer Hibiskusblüte, wieder fernöstlich also. Auch Vergil ist erneut zur Stelle. Hätte er doch statt dessen dieses eine Mal der Frau neugierig zugehört! Erhellt ihr O-Ton nicht viel leuchtender unsere Wirklichkeit als - Schöpfung des Autors - ein Wort wie »Daseinsbedingungsbejahung«?
»Der Berg soll leer sein!« schreit Loser nach seinem tödlichen Steinwurf auf einen Hakenkreuzsprayer. Peinlich-sperrig steht das »Hakenkreuz« in der Gegend wie das »SPAR« des Supermarkts, über dem er wohnt und wie das »McDonald« seiner Kinder.
Handke weiß, daß poetische Kraft sich am angeblich Trivialen messen muß, darum präsentiert er es ostentativ, aber immer mit spitzen Fingern. Insgeheim hat er es aus der besseren Welt bereits aussortiert, so wie Loser mit seinem Opfer verfährt, das er, ohne hinzusehen, zum »Bösen« macht und kurzerhand mit einem Steinwurf aus ihr herausbefördert.
Hier steckt der grundsätzliche Irrtum, die Ursache für die, am Vorhaben gemessen, hoch verspielte Chance. Solche »Leere« ist nicht die am »Beginn des Epos«, sondern das ängstlich errichtete Freigehege einer defensiven, daher desavouierten Poesie. Loser durchdringt nicht die Trivialität, er beschwichtigt, betäubt sie höchstens. Er stößt nicht durch zu ihrem verborgenen Schimmer.
Es ist nichts anderes als Altphilologen-Tourismus, wenn Vergils Geburtsort sich durch Ähnlichkeit mit den Beschreibungen des Dichters legitimiert. Das hat kein Ding, keine Landschaft der Welt nötig. Das geht immer nur umgekehrt.
Um die Wirklichkeit unseres wie jedes Jahrhunderts poetisch an sich zu reißen,
braucht man, wie es am schönen Schluß vom Wasser des Kanals heißt, »Geduld«. So weit, so asiatisch. Mehr aber noch braucht man, wovon dieser voreilig weise Chinese mit Zopf, jedoch ohne brennenden Schmerz, kaum ein Fünkchen zeigt: Feuer!