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FILM Der Mann im Mantel

»Nostalghia«. Spielfilm von Andrej Tarkowski. Italien 1983; 122 Minuten; Farbe. *
aus DER SPIEGEL 4/1984

Wenn die Kamera träumt und dennoch die Linse nicht schließt, wenn sie durch abgestorbene Zwischenzonen tastet und dem Dreck der Welt matten Glanz verleiht, wenn jede Nähe schwierig und doch einfach scheint, dann bleibt nur eine Sicherheit: Dahinter steht der sowjetische Filmregisseur Andrej Tarkowski.

Er betreibt das Kino als Feuer- und Wasserprobe des bislang Ungesehenen. Er zeigt in seinen Bildern jenen Vorraum, in dem der Zuschauer Abschied nehmen muß von lauten Farben. Denn auf der Schattenseite lockt das Leben nach dem Tod. Die Katastrophen der Umwelt liegen schon hinter uns. Es bleibt die Erkundung der Ödnis durch die Überlebenden.

Tarkowski zeigte in seinem Sciencefiction-Film »Solaris« (1972), daß auch in der größten Entfernung vom sozialen Leben die Gefühle überleben und die Erinnerungen sich sogar verkörpern können. Sein letzter in der Sowjet-Union gedrehter Film »Stalker« (1979) eröffnete die Expedition der Reisen ins Innere. Die neue Station »Nostalghia« setzt sie

fort. Die Firma Gaumont-Italien unter dem Rossellini-Sohn Renzo produzierte, Francesco Rosis Drehbuchautor Tonino Guerra assistierte Tarkowski beim Schreiben, die Frau eines der Taviani-Brüder entwarf die Kostüme: Überall offene Arme für den noch nicht Exilierten.

Der Schauplatz ist Italien, und doch wird kein Sinnenfest gefeiert, das spektakuläre Schönheit abgraste. Hier wird Italien gleichsam als innerer Schauplatz eines Fremden erfahren, der im Ausland eher sich als dem ihm Fremden ausgeliefert ist. Ein Mann namens Andrej (Oleg Jankowski - in Tarkowskis autobiographischem Film »Der Spiegel«, 1974, spielte er den Vater des jungen Erzählers) reist auf den Spuren eines russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, dessen Biographie er schreiben will. Nur schreiben sieht man ihn nie.

Nicht einmal seinen Mantel legt er ab. Er bekundet vollkommene Gleichgültigkeit dem Klima, dem Umfeld und seiner mitreisenden Dolmetscherin Eugenia (Domiziana Giordano) gegenüber. Sie ist ihm als Vertreterin der tüchtigen Realität beigegeben. Sie wird ihn bald enttäuscht verlassen. Denn auch ihr gelingt es nicht, Andrej, diesen Geheimnisträger, zur Preisgabe seines Geheimnisses zu zwingen.

Der Mann hat eine Aura, deren Zeichen sein dunkles Gesicht und die helle Strähne im Haupthaar sind. Aus der Ferne gesehen könnte man diesen Albino-Fleck auch für die Tonsur eines Mönches halten.

Andrejs Gefährte im Orden der Entrückten wird, da die Kommunikation mit der Berufsübersetzerin versandet, der irre Domenico (Erland Josephson). Dieser war Mathematiker und gilt als verrückt, weil er seine Familie einsperrte, um sie vorm Weltuntergang zu retten. Die Herrschenden halten es ja eher umgekehrt. Seither versuchen die Normalen, Domenico zu retten. Das mißlingt. Er hält eine flammende Rede zur Befreiung seiner Krankengenossen (Gruß an Basaglia!) und endet, zu Beethovens hymnischer Ode »Freude, schöner Götterfunken«, in demonstrativer Selbstverbrennung.

Der fremde Freund aus Moskau übernimmt seinen mystischen Auftrag und durchquert mit brennender Kerze das leere Bassin eines italienischen Heilbades. So besteht Andrej die Feuer- und Wasserprobe des unbedingten Gefühls, das in diesem Fall Vertrauen hieß, aber vielleicht überlebt er sie nicht. Erotische Interessen, wie sie ihm seine engelsschöne Dolmetscherin anträgt, liegen ihm fern. Literarische Interessen gelten nicht Petrarca, sondern den Gedichten von Arsenij Tarkowski, dem Vater des Regisseurs, dessen Lyrik der Sohn schon in früheren Filmen Reverenz erwies.

Dieser Mann im Mantel wird auf seiner Reise Beute der Vergangenheit. Rückblenden in Schwarzweiß rufen ihm seine Frau, seine Kinder zurück. So stark ist seine Geschichte, daß man von Rückblenden nicht reden mag. Denn sie behaupten so viel Gegenwart, daß sie den aktuellen Schauplatz nach und nach verdrängen, ja, in ihn überblenden. Die Landschaft um Bologna, das Kapitol in Rom, eine mittelalterliche Kathedralenruine in der Provinz Siena, sie werden zu Phantasmagorien, die dem Blick Andrejs entgleiten.

Lieber hält er sich in den Zwischenzonen auf, wo Wasserdampf mit Wolken eins wird. Tückisches Gelände betritt er, wohin er sich wendet. Innenräume werden zu Schlammlandschaften, Bäche zu Spiegeln von Gaukelbildern. Das Wasser tropft und sprudelt allerorten wie ein Klangteppich, den ein Ungeborener hören mag. Die Höhlen, die Andrej mit den Ohren voran und den Füßen hinterher betritt, sucht er wie einen schützenden, nährenden Mutterleib.

»Nostalghia«, das scheint eine Sehnsucht zu sein, die Welt, die man kennt, noch einmal von innen heraus zu erwarten.

Diese Reise endet an einem Ort, der Rußland und Italien in ein symbolisches Bild faßt. Inmitten der gewaltigen Kirchenruine liegt das russische Holzhaus, der Mann im Mantel und sein Hund liegen davor. Das Neue schließt das Alte ein und die Historie umfaßt jetzt Andrejs Geschichte. Die hohen Pfeiler der Kathedrale aber lassen die Datscha wie ein Spielzeughaus erscheinen. Der Mann ist angekommen: in seiner Kindheit. Den Mantel wird er nicht mehr brauchen.

Nicht die Dialoge des Films thematisieren die unüberbrückbare kulturelle Differenz, sondern die Bilder zwischen Herkunft und Zukunft. Selten bewegt sich die Kamera in die Tiefe des Raumes. Ihre Bewegung ist der parallele Gang, das distanzierte Begleiten, das Freiraum um die Figuren im Bild schafft. Nicht auf Verdichtung zielt Tarkowski, sondern auf Erweiterung. Die Ambivalenzen sollen größer werden und die Sicherheit der Begriffe in den Zweifel der Gefühle stürzen.

Bleibt der Regisseur in Italien, wo er an einem neuen Drehbuch schreibt, dann wäre er dort der Größte: Fellini minus Barock, Bertolucci ohne Mondänität und Antonioni seiner Larmoyanz entledigt. Davon hat man sich bisher nicht träumen lassen. Karsten Witte _(Domiziana Giordano und Oleg Jankowski. )

Domiziana Giordano und Oleg Jankowski.

Karsten Witte

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