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Pop Der Pate der Verweigerer

aus DER SPIEGEL 9/1995

Seine Augen sehen aus wie zwei blaue, traurige Fragezeichen. Er will keinen Hummer und keinen Lachs, und auch sonst kann ihm alles gestohlen bleiben, was die Karte des »Maria Cristina« bietet. Michael Stipe, Sänger der amerikanischen Band R.E.M., sitzt in seiner 1000-Mark-Suite und will eine Gemüsepizza. Die gibt es hier nicht. Also trabt wenig später ein Pizza-Kurier über die weinroten Teppiche des Luxushotels.

Stipe greift in den Karton. Mit der anderen Hand wurstelt er in einer alten weißen Plastiktüte, zieht ein Stück zerknittertes Papier heraus, kritzelt darauf herum und deckt das Ganze mit seiner Pizza-Hand ab. Dann stopft er sein Werk zurück in den Plastiksack. »Ein neuer Song«, murmelt Stipe und fragt, ob seine blau lackierten Fingernägel gut aussehen.

Seltsam - aber für einen wie Stipe noch nicht seltsam genug.

Als er drei Stunden danach zur Europapremiere auf die Bühne des Radrennstadions von San Sebastian steigt, ist alles noch viel seltsamer. Da sieht er aus wie ein Vampir auf Grönland: kahlrasierter Kopf, Mütze, dicker Mantel, weiße Sonnenbrille - sehr, sehr scheu. »Hi«, sagt Stipe zur Begrüßung. Sekunden vergehen. Schließlich »hello«. Seine dicke Verpackung soll ihn erst einmal vor den Blicken des Publikums schützen.

Stipe ist nicht gerade das, was man einen klassischen Entertainer nennt: Er sonnt sich nicht unter Scheinwerfern, und die Mädchen, die ihn anhimmeln, wollen nicht mit ihm ins Bett. Sie lesen ihm ihre Gedichte vor.

Der Mann gilt als Sphinx des Rock''n'' Roll. Alles, was er tut, scheint rätselhaft. Das sorgt für Gerüchte: Jahrelang hieß es, er habe Aids, er sei heroinabhängig, er habe die Underground-Heldin Courtney Love geschwängert, er sei vor zwei Jahren bei einem Autounfall in Los Angeles ums Leben gekommen. Stipe dementierte nicht, er bestätigte nicht, er schwieg. Daß er schwieg, wußte man wenigstens sicher. Denn er sprach drei Jahre lang mit Journalisten kein Wort.

Heute gibt er ab und zu Interviews, aber mysteriös bleibt er trotzdem. Im Hotel wäscht er seine Kleidung selbst, er bekennt offen, bisexuell zu sein, und bemerkt lakonisch, daß er noch nie verliebt war. Als das amerikanische Magazin Details seine Bandkollegen fragte, was Stipe wahrscheinlich noch alles nicht tun würde, antwortete Gitarrist Peter Buck: »Schweinefleisch essen«, Bassist Mike Mills: »Golf spielen« und Schlagzeuger Bill Berry: »Brooke Shields heiraten«. Stipe behält auch hier das letzte Wort: »Alles ist möglich.«

Mit dieser Mischung aus Lakonik, Verwirrtheit und Normalität wurde Michael Stipe zu einem der charismatischsten Rockstars der neunziger Jahre, seine Gruppe R.E.M. feiern Zeitschriften wie der Rolling Stone als »die beste Rock''n''Roll-Band Amerikas«.

Die karge, melodische Musik der Gruppe und Stipes brüchige, aber warme und kraftvolle Stimme ebneten den Weg für Nirvana, Pearl Jam und andere Underground-Bands, die statt der hedonistisch bunten Was-kostet-die-Welt-Klänge der Achtziger einen neuen Sound in die Hitparaden brachten; Songs voller Schmerz und Zweifel und trotzdem voll von Beharren und Zauber - Musik von sicheren Verlierern, die dennoch zu Gewinnern wurden, aber die sich deshalb noch lange nicht in Talk-Shows setzen oder nach Beverly Hills ziehen. Musik von Verweigerern.

Stipe ist der Pate dieser Verweigerungshaltung. Mit Nirvana-Sänger Kurt Cobain war er so gut befreundet, daß dessen Witwe Courtney Love heute noch klagt: »Man hätte ihn zu Michael und nicht in die Entzugsklinik bringen sollen, er betete Michael an.« Auch mit dem anderen berühmten Toten, River Phoenix, verband ihn enge Freundschaft. Als nach dem Selbstmord von Cobain eine Menge Leute bei Courtney Love die Schuld suchten, begleitete Stipe sie zur Verleihung der MTV-Awards, was in der Szene einer Rehabilitierung gleichkam und Love zu der melodramatischen Bemerkung veranlaßte: »Er hat mir das Leben gerettet.« Für den Regisseur Richard Linklater, den Schriftsteller Douglas Coupland und den Schauspieler Ethan Hawke zählt Stipe zu den »integersten und besten Sängern unserer Generation«.

Die Bedeutung von Stipe beschränkt sich nicht auf die Popkultur. Er engagierte sich im US-Wahlkampf für Bill Clinton, später hielt er eine Rede auf der Inaugurationsfeier - ein Echo seiner früher politisch gehaltenen Songtexte gegen Exxon und Reagan, die der Sänger Anfang der Neunziger aufgab. »Damals wurde ich schon morgens angerufen und sollte mich zu Spezialfragen über die Giftmüllbeseitigung äußern.«

Natürlich taugt so ein Bursche noch zu ganz anderen Dingen, und so ist es kein Wunder, daß er von den Medien zum Sprecher seiner Generation gemacht werden soll. Für solch eine Aufgabe hat Stipe nur Spott übrig. »Kein Interesse«, wehrt er ab und kramt wieder in seiner alten Plastiktüte, »ich will diesen Preis nicht. Ich habe dazu nichts zu sagen. Ich bin bloß der Sänger einer Rock''n''Roll-Band.«

Stipe kritzelt wieder ein paar Worte aufs Papier. Langatmigen Erklärungen mißtraut er, eindeutige Erzählungen langweilen ihn - allein Fragmente und Brocken läßt er gelten, und so gleichen die meisten seiner Texte Gefühls-Puzzles voll Sehnsucht, Besessenheit und charmanten Kindereien, die allein durch die Musik zusammengehalten werden. »Sollen wir uns übers Wetter unterhalten oder über die Regierung?« fragte er, anspielend auf die Oberflächlichkeit des Showbusiness in seinem Hit »Pop Song 89«. Stipes Texte funktionieren als Alltagsenzyklopädie der Popkultur: Brettspiele, Sport, Tütensuppen, CNN.

Als Stipe 1980 mit Gitarrist Buck R.E.M. gründete, wollte er in einen Bus steigen, durchs Land fahren und ab und zu anhalten und auftreten - mehr nicht. Er hatte, wie Buck, »On the Road« von Jack Kerouac gelesen, und daß die Zeit der Beatniks längst vorbei war, störte ihn nicht besonders, schließlich lebte er in einer Kleinstadt namens Athens, Georgia. Wenn einer wissen wollte, wie liberal diese College-Enklave wirklich war, dann brauchte er sich nur, wie Stipe, in Frauenkleidern in irgendeine Redneck-Bar zu setzen. Er mußte nicht lange auf Prügel warten.

Stipe, der Kunsthochschüler, war schon damals so etwas wie ein freundlicher Provokateur. Und es half, daß Ende der siebziger Jahre Punk über die fett und dröge gewordene Popindustrie hereinbrach. Daß Sängerinnen wie Patti Smith Songs schrieben, die Fieberhalluzinationen glichen. Und daß Bands wie Television finstere Lieder über Großstadtangst und andere reale Gefühle produzierten. Pop wurde wieder zu einem situationistischen Spektakel - und obwohl sich R.E.M. eher als klassisch-amerikanische Folk-Rock-Songschreiber hervortaten, verleugneten sie doch nie ihre Ursprünge: ein Haufen nervöser Jungs, der statt in einer Garage in einer alten Kirche übte, auf Ärger aus war und trotzdem Abba ganz gut leiden konnte.

Von jeder LP verkauften sie mehr als von der vorigen, hielten den Ball flach und avancierten zur politisch korrekten College-Radio-Band. Die Loyalität der alten Underground-Fans brach auch nicht ab, als sie 1988 bei Warner Brothers unterschrieben. Es wurden nur ein paar mehr. Und auf einmal galten R.E.M. und Stipe im Untergrund als Symbol dafür, daß man im Mainstream landen kann, ohne zum selbstgefälligen Geldtrottel oder zum randalierenden Talk-Show-Clown zu werden.

Wenn Stipe und seine Band heute ein Hotelzimmer betreten, dann öffnen sie vielleicht die Fenster, aber sonst verlassen sie die Räume so, wie sie sie vorgefunden haben. Das, finden sie, sei ein gutes Prinzip. So sollte man es auch mit der Erde machen.

Auf dem Hoteltisch liegt ein Magazin, das Schwarzweißaufnahmen von Stipe in Los Angeles zeigt. Irgendwer sagt, daß sie ziemlich glamourös aussehen, und schon fangen die Augen dieser schlichten Diva vor Freude zu leuchten an. Schnell findet er zu seinem leicht verstörten Normalzustand zurück und bemerkt, er selbst fotografiere auch, und zwar sehr gut.

»So gut, wie Sie singen?«

»Nein, viel besser.«

»Für welches Magazin würden Sie arbeiten?«

»Bei einer Provinztageszeitung wahrscheinlich. Bei vornehmen Magazinen gibt es für Typen wie mich keinen Platz.« Y _(* Bei der Verleihung der MTV-Awards ) _(1994. )

Popstar Stipe: Nicht in Talk-Shows oder nach Beverly Hills

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Freunde Stipe, Love* »Er hat mir das Leben gerettet«

DMI / INTERTOPICS
*VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Als Galionsfigur *

der Gruppe R.E.M. gehört Sänger Michael Stipe zu den geheimnisvollsten Rockstars. Er gilt als Pionier der neuen Undergroundkultur, aus der Bands wie Nirvana und Pearl Jam hervorgingen. Allein die letzten drei R.E.M.-CDs verkauften sich über 20 Millionen Mal. Vorige Woche erhielt die Gruppe, zur Zeit auf Europatournee, den Brit Award als »Beste Band des Jahres«.

* Bei der Verleihung der MTV-Awards 1994.

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