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Der Rausch ist vorüber, der Lärm verebbt

In Amerika beginnt eine melancholische Popmusik die phonstarken Rock-Orgien abzulösen. Statt Sex, Marihuana und Revolution propagieren Musiker und Sänger den Rückzug in die beschauliche Vergangenheit. Das führende Ensemble dieses sogenannten Folkrock, »The Band«, kommt in dieser Woche in die Bundesrepublik.
aus DER SPIEGEL 21/1971

Fünf bärtige Musikanten, die aussehen, als seien sie einem verblichenen Photo aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs entsprungen, singen vorn »Korn auf den Feldern« und vom »Rascheln der Reishalme, wenn der Wind über das Wasser weht«.

Die fünf Musiker, die sich in einem Ensemble mit dem schlichten Namen »The Band« zusammengefunden haben. sind auf dem Lande zu Hause -- und in der beschaulichen Vergangenheit. Denn die meisten ihrer Lieder sind sehnsüchtige Reminiszenzen an die Zeit Abraham Lincolns und Mark Twains, als noch Raddampfer auf dem Mississippi schaukelten und Vaudeville-Truppen mit »Heiligen und Sündern. Verlierern und Gewinnern« durch die Südstaaten zogen.

Wenn die »Band« aufspielt, dann klingt es, als öffne sich ein amerikanisches Volksmusik-Archiv: Ein Ragtime-Klavier scheppert, Hillbilly-Geigen fiedeln, eine Dixieland-Band bläst. Rock 'n' Roll ist mit Folksongs und anglikanischen Chorälen verflochten -- und das so gekonnt, daß Kritiker die »Band« mit den Beatles in ihren besten Tagen vergleichen und von »totaler Faszination« sprechen.

Die Faszination wird von den Gitarristen Robertson und Danko, dem Organisten Hudson, dem Pianisten Manuel und dem Schlagzeuger Helm, die allesamt auch singen, auf einfache Weise erzeugt: Die »Band« verzichtet im Konzertsaal auf alle Show-Effekte und bei Plattenaufnahmen auf Montagen und elektronische Tricks.

Ihre erste Langspielplatte »Music from Big Pink« produzierten die Musikanten im Keller ihres rosarot gestrichenen Holzhauses in den Bergen bei Woodstock auf einem simplen Heim-Tonbandgerät. Und als sie für ihre zweite Platte einen Echo-Effekt benötigten, machten sie einfach die Badezimmertür auf.

Mit folkloristischer Kammermusik. wie die »Band« sie bietet, werden gegenwärtig in den USA die 100-Phon-Orgien der psychedelischen Rock-Bands abgelöst. Der Lärm der Gitarren verebbt, der Rausch ist vorüber, der Drogentraum ausgeträumt. Melancholie ist in die Popmusik eingekehrt.

Während die erwachsenen Amerikaner die Nachrichten aus Vietnam, von der zunehmenden Kriminalität, von verschmutzter Umwelt und kollabierenden Städten immer häufiger mit sentimentalen Evergreens à la »I want to be happy« und alten Broadway-Musicals übertönen, zieht sich die Rock-Jugend in eine Wollpullover- und Blockhütten-Romantik zurück.

Dafür gibt es mehrere Gründe: Seit die Rockmusik zu einem gigantischen Schallplattengeschäft ausgeufert und der Hippie-Look zur äffischen Mode geworden ist, wollen die politischen Aktivisten unter der Jugend damit nichts mehr zu tun haben. Seit die Sängerin Janis Joplin an einer Heroin-Vergiftung starb und die Pop-Festivals zusehends zu Mord-Arenen und Umschlagplätzen für harte Drogen wurden, traten an die Stelle der Rock und Rauschmittel-Euphorie Verzweiflung und Resignation.

Immer mehr Jugendliche erkennen, daß der »Love and peace«-Traum einer Alternativgesellschaft zum American way of life eine Illusion war; sie begeben sich deshalb auf den »Weg zurück zur sogenannten Realität« (John Lennon). begleitet von den sanften Tönen neuer Troubadoure.

Die »Band« freilich, die mit fast vier Millionen verkauften Langspielplatten so plötzlich zur »führenden Rock-Gruppe Amerikas« (Bob Dylan) geworden ist, war immer schon auf diesem Weg.

Jahrelang zogen die Musiker in Kanada und in den amerikanischen Südstaaten von Dorf zu Dorf, »atmeten den Blues ein, lernten Menschen, Bäume und Straßenschilder mit seltsamen Namen kennen« und musizierten für Holzfäller, Lastwagenfahrer und Farmer in Kneipen, »deren Wände voller Pistolenkugeln steckten und die man besser nur mit einem aufgeklappten Rasiermesser in der Tasche betrat« -- so der »Band«-Leader Robbie Robertson.

1965 holte der Folksong-Interpret Bob Dylan die »Band«, die bis dahin den Namen »The Hawks« geführt hatte, als Begleitcombo in den Konzertsaal und propagierte mit ihr erstmals den sogenannten Folkrock -- eine Verbindung von Folksong und Rock'n'Roll.

Doch die Zeit war für diese Musik noch nicht reif: Nicht selten wurde die Gruppe ausgepfiffen, und als sie 1966 mit Bob Dylan in Europa gastierte, brüllten britische Fans: »Schickt sie nach Amerika zurück.«

Heute ist eine Tournee der »Band« auch diesseits des Atlantiks kein Risiko mehr. Denn auch die europäischen Popmusik-Anhänger haben sich auf den leisen Beat eingestimmt. Wenn die fünf Huckleberry Finns des Rock diese Woche zum erstenmal in der Bundesrepublik auftreten, wollen sie pro Abend 20 000 Mark kassieren.

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