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AUTOGIRO Der Selbstdreher

aus DER SPIEGEL 50/1960

Der blau-weiß lackierte Flugapparat sah wie ein gewöhnlicher Hubschrauber aus. Trotzdem drängten sich auf dem Privatflugplatz der Fairchild -Flugzeugwerke in Hagerstown (US -Staat Maryland) Piloten, Geschäftsleute und Journalisten, um einem Schauflug des Gefährts beizuwohnen. Denn das

vertraute Äußere täuschte: Was die Zuschauer- begafften, war kein Hub-, sondern ein Tragschrauber.

Der amerikanische Kunstdünger -Fabrikant Raymond E. Umbaugh, Veranstalter der Demonstration, gedenkt in Kürze Zehntausende von Flugzeugen dieses Typs zu produzieren. Der Debütant in der Luftfahrtbranche hofft, daß sein Modell nicht nur die Hubschrauber auf dem Markt zurückdrängen, sondern auch alle Interessenten zum Kauf anregen wird, denen ein Hubschrauber zu kostspielig, zu kompliziert oder zu unsicher ist.

Auf einen Wink des Kunstdünger -Millionärs kletterte Chefpilot Fred Soule in die blau-weiße Maschine, um ihre Flugeigenschaften vorzuführen. Mit schwirrenden Drehflügeln sprang das Gefährt vier Meter in die Höhe; noch während es dicht über dem Boden dahinflog, entsetzten sich die Flieger unter den Zuschauern: Soule streckte beide Hände aus dem Fenster. Kein Hubschrauberpilot kann normalerweise auch nur eine Hand für einen Augenblick von den Kontrollhebeln nehmen.

Die verblüffenden Flugeigenschaften des Umbaugh-Tragschraubers sind einem Konstruktionsprinzip zu danken, das der spanische Ingenieur und Sportflieger Juan de-la Cierva 1922 erdachte. Durch verwickelte aerodynamische Berechnungen vermochte der Spanier damals zwei Probleme zu lösen, an denen sich schon viele Flugpioniere versucht hatten: ein Flugzeug zu konstruieren,

- das auf sehr kleinem Raum starten

und landen konnte und

- das absolut trudelsicher war.

Das erste Luftfahrzeug, das nach Ciervas Angaben gebaut wurde, erregte durch ungewöhnliche Form weltweites Aufsehen. Über einem normalen Sportflugzeugrumpf, der mit Stummelflügeln und einem handelsüblichen Propeller -Antrieb ausgerüstet war, drehten sich vier paddelförmige Windmühlenflügel.

Cierva nannte seinen Flugzeugtyp

»Autogiro« (Selbstdreher).

Die Windmühlenflügel vermochten das Autogiro beim Start in die Höhe zu schrauben; dann trieb der normale Flugzeugmotor das Luftfahrzeug voran. Die

(nicht mit dem Motor verbundenen)

Windmühlenflügel drehten sich frei im Fahrtwind und lieferten Auftrieb.

Windmühlenflugzeuge nach dem Prinzip de la Ciervas wurden vor allem in den USA gebaut, doch Mitte der dreißiger Jahre verdrängten die inzwischen entwickelten Hubschrauber die Autogiros - für die sich in Deutschland die Bezeichnung Tragschrauber eingebürgert hat - vom Markt.

Die Hubschrauber, auch Helikopter genannt, unterscheiden sich dadurch von den Tragschraubern, daß sie nur mit (verstellbaren) Drehflügeln, nicht aber mit einem Propeller-Antrieb ausgerüstet sind. Der Hubschrauber-Motor ist vielmehr mit den Drehflügeln verbunden, die gleichzeitig den Auftrieb liefern und das Flugzeug vorwärts bewegen.

Durch diese Neuerung konnten die Hubschrauber ebenso wie Tragschrauber auf engem Raum starten und landen, darüber hinaus aber - bei Verstellung der Drehflügel - auch Flugmanöver ausführen, zu denen Tragschrauber nicht geeignet waren: Sie verharrten unbeweglich in der Luft, flogen seitwärts und sogar rückwärts. Solche Eigenschaften faszinierten besonders die Luftwaffengeneräle, die als Großeinkäufer den Markt beherrschten.

In der Nachkriegszeit wurden Hubschrauber auch dort eingesetzt, wo derlei artistische Flugmanöver gar nicht erforderlich waren, beispielsweise beim Passagiertransport. Der Tragschrauber geriet schließlich vollends in Vergessenheit.

Als der Kunstdünger-Millionär Umbaugh vor einigen Jahren nach einem Flugzeugtyp suchte, mit dem seine Vertreter direkt auf den Höfen der Farmer landen konnten, wurden ihm daher nur Hubschrauber angeboten. Bedenklicher als die hohen Anschaffungs- und Betriebskosten erschien dem Düngerverteiler ein technisches Handikap: Es gilt als außerordentlich schwierig, einen Hubschrauber zu fliegen.

»Der Hubschrauberpilot«, dozierte in Deutschland einmal Flugkapitän Karl Bode, Chefpilot der »Hubschrauber-Vertriebs-GmbH«, »fliegt sozusagen zweimal. Erstens muß er das Rotorblatt (die Drehflügel) mittels Blattverstell- und Gashebel bedienen wie ein (Trag-) Flächenflugzeug, das mit konstanter Geschwindigkeit geflogen werden soll, und zweitens muß er den Hubschrauber selbst fliegen durch Betätigung des Höhen-, Quer- und Seitensteuers.«

Bei solch doppelter Belastung muß der Hubschrauberpilot auf etwaige Defekte blitzschnell reagieren. Wenn plötzlich der Motor aussetzt, bleibt dem Hubschrauberpiloten nur eine Sekunde, die Drehflügel auszukuppeln. Andernfalls

»ist der Absturz unvermeidlich« (Bode).

Nachdem Umbaugh sich angesichts dieser Mängel entschlossen hatte, auf Hubschrauber für seine Düngervertreter zu verzichten, erfuhr er im Gespräch mit Fliegerveteranen schließlich von den Autogiros. Die Altpiloten, die einst Tragschrauber geflogen hatten, versicherten ihm, daß die Selbstdreher gegenüber den Hubschraubern beachtliche Vorteile aufwiesen:

- Das Fliegen eines Tragschraubers kann leicht erlernt werden, da der Motor während des Flugs nicht mit den Drehflügeln verbunden ist.

- Ein Tragschrauber kostet nur halb soviel wie ein Hubschrauber gleicher Größe (geplanter Preis des Umbaugh -Tragschraubers: 10 000 Dollar).

- Die Betriebskosten des Tragschraubers betragen nur etwa ein Zehntel der Hubschrauber-Betriebskosten.

Da das Wunderflugzeug jedoch nirgends mehr produziert wurde, beschloß Umbaugh, selbst solche Flugapparate herzustellen. »Fürs erste werden wir«, verkündete der Millionär, »jährlich 10 000 Stück bauen.«

Fachleute nahmen die Parole skeptisch auf. Alle Flugzeugwerke in den USA zusammengerechnet bauen im Jahr nicht einmal so viele Zivilflugzeuge aller Art.

Doch inzwischen konnte der Geschäftsmann bereits 6000 Bestellungen auf Tragschrauber buchen. Unter dem Eindruck solch spontanen Interesses sah sich Umbaugh ermutigt, sein revolutionär anmutendes Planziel noch höher zu stecken. 100 000 Tragschrauber sollen nunmehr die Fabrikhallen der Fairchild -Flugzeugwerke in Hagerstown, mit denen Umbaugh einen Produktionsvertrag abgeschlossen hat, in jedem Jahr verlassen. In wenigen Wochen will Umbaugh die Serienfertigung anlaufen lassen.

Um sein phantastisches Plansoll zu erfüllen, bereitet er zur Zeit einen Fabrikationsprozeß vor, der ihm nach Meinung amerikanischer Journalisten den Ehrentitel eines »Ford im Flugzeugbau« eintragen kann: Als erste Luftfahrzeuge sollen die Tragschrauber wie Automobile auf dem Fließband zusammengesetzt werden. Autogiro-Erfinder de la Cierva

Tragschrauber contra Hubschrauber

Umbaughs Tragschrauber (1960): Volksflugzeug für Vertreter...

... nach vergessenem Vorbild: Ciervas Autogiro (1922)

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