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AUTOREN Der Verrückte von Oslo

Der norwegische Kultautor Ingvar Ambjørnsen, der seit Jahren in Hamburg lebt, hat jetzt eine Romanserie fortgesetzt, in der er einen seltsamen Helden, einen Outsider und Anstaltsinsassen, einfühlsam porträtiert. Von Erik Fosnes Hansen
aus DER SPIEGEL 50/1997

Fosnes Hansen, 32, lebt als Schriftsteller in Oslo; auf deutsch erschien von ihm der Roman-Bestseller »Choral am Ende der Reise«.

Durch Hamburg läuft ein Mann in den Vierzigern. Er wirkt unauffällig und bescheiden, nur sein langes Haar paßt nicht recht ins Bild. Doch deswegen würde sich heute niemand mehr umdrehen. Ach, Schriftsteller ist der? In Hamburg leben genug unbekannte Schriftsteller - mit langem Haar oder kurzem.

In seiner Heimat Norwegen ist Ingvar Ambjørnsen so bekannt wie Henrik Ibsen. Manchmal, wenn deutsche Freunde des Autors vom Urlaub in Norwegen zurückkommen, erzählen sie voller Bewunderung, daß sie in sämtlichen Buchhandlungen Ambjørnsens Bild auf Plakaten und seine Bücher in jedem Kiosk zwischen Oslo und dem Nordkap gesehen haben. Damit haben sie auch gleich die Erklärung dafür, warum Ingvar Ambjørnsen, 41, in Hamburg bleibt: Hier hat er seine Ruhe.

Als Jugendlicher, in den Siebzigern, lebte er in Larvik, einem kleinen Städtchen in Südnorwegen, wo langhaarige Gestalten unter scharfer Beobachtung von Polizei und Personalchefs standen. Als er 14 war, geschah es: Der brave Junge, der schon immer ein Bücherwurm war, begann ernsthaft zu lesen. Ungefähr zur gleichen Zeit kamen die Träume vom Schreiben.

Von nun an trug er das Haar länger, und er verließ das Gymnasium. Er wollte Schriftsetzer werden und wäre es auch geworden, hätten sie das Blei nicht abgeschafft. Statt dessen schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, und er schrieb und schrieb. »Wahrscheinlich habe ich ein abnormes Mitteilungsbedürfnis«, sagt Ambjørnsen heute. »Aber im Grunde ist das Schreiben eine ziemlich feige Art und Weise, um sich mitzuteilen. Man kann überdenken, streichen, die Dinge noch einmal, besser sagen. Sehr geeignet für uns Schüchterne.«

Nach einer langen Reihe literarischer Versuche debütierte er im Alter von 25 mit einem Roman, der auf eigenen Erfahrungen bei der Arbeit in einem psychiatrischen Krankenhaus basierte. In den Jahren darauf entwickelte er sich in Norwegen zum Kultautor, veröffentlicht in einem kleinen, finanzschwachen Untergrundverlag. Kultautor zu sein, das bedeutete vor allem Ehre - und sonst nicht viel.

Ambjørnsens inzwischen legendärer Roman über Haschraucher und -schmuggler, »Der letzte Deal« (1983, deutsch 1995), erlangte binnen kurzem im norwegischen Buchhandel den ruhmreichen Status des meistgestohlenen Buchs. Erst nach dem unvermeidlichen Untergang des Kleinverlags kam 1986 der Erfolg beim großen Publikum mit dem Roman »Weiße Nigger«, einem vergnüglichen, teilweise autobiographischen Rundumschlag aus der Welt der Freaks und Hausbesetzer.

Von nun an war er auch für breite Publikumsschichten das Sprachrohr der Outsider. Aber er blieb seinem Hintergrund und seinen Figuren treu, trotz wachsender Einnahmen. Heutzutage ist es eher ein gemischtes Vergnügen, mit Ingvar Ambjørnsen durch Oslo zu laufen: Keine Kneipenecke ist dunkel genug, als daß nicht spätestens nach drei Minuten einer seiner Leser am Tisch steht, um seine Bewunderung zu beteuern und den eigenen Lebenslauf zu schildern.

Für viele der gesellschaftlich Randständigen in Norwegen ist Ambjørnsen der einzige lebende Schriftsteller, von dem sie je eine Zeile gelesen haben. Denn über sie hat er geschrieben, über Verwirrte und Kleinkriminelle, über Hausbesetzer und Haschischraucher, kurz: über das Leben auf der dunklen Seite, und er hat geschrieben wie einer von ihnen, mit dem Einfühlungsvermögen des Insiders. So gesehen ist es eine Bekräftigung der Glaubwürdigkeit von Ambjørnsens Literatur, daß einer an den Kneipentisch kommt, schier berauscht vor Glück, endlich seinem Autor begegnet zu sein, dieser verwandten Seele, dem einzigen Menschen, der ihn und sein Leben wirklich verstehen kann.

Und Ambjørnsen bleibt ganz geduldig, versucht zu erklären, daß er einfach nur in Ruhe seinen Wein trinken möchte, daß er absolut nicht scharf darauf ist, ausgerechnet heute nacht wild um die Häuser zu ziehen, und daß er das Manuskript, das sein Leser ihm da anbringt, leider nicht hier und jetzt lesen kann.

Solcherlei kuratorische Bemühungen sind natürlich nicht mit ernsthaftem Schreiben zu vereinbaren, und daß er seit zwölf Jahren in Hamburg lebt, betrachtet Ambjørnsen daher nicht nur als freiwilliges, sondern als notwendiges Exil. Hier schreibt er seine wöchentliche Kolumne für »Verdens Gang«, Norwegens größte Tageszeitung, hier schreibt er pro Jahr ein Buch und hört über Mittelwelle norwegischen Rundfunk, in Gesellschaft seiner Frau und einiger Katzen. Hobbys hat er keine; abgesehen davon, daß er gute Weine sammelt. Seine Arbeitslust ist Legende, ebenso sein Widerwillen gegen Lesungen und andere öffentliche Zurschaustellungen.

Sein Verhältnis zu Deutschland? Nach diesen zwölf Jahren ist es das eines ganz gewöhnlichen Hamburgers. Er interessiert sich für das, was in der Hansestadt und in der Bundesrepublik geschieht. Deutliche Spuren in seiner schriftstellerischen Tätigkeit indes hat die Begegnung mit der deutschen Kultur und Sprache nicht hinterlassen, bis auf den Umstand, in einer wirklich großen Stadt zu leben. Doch wie er sagt: »Genausogut könnte es London oder Marseille sein.« Abgesehen davon natürlich, daß seine Frau, die Übersetzerin Gabriele Haefs - sie hat die meisten seiner Bücher ins Deutsche übersetzt -, hier lebt. Ambjørnsen hat den Hamburger Literatur-Förderpreis erhalten, ebenso das Literatur-stipendium der Stadt Lübeck.

Ein armer Untergrundpoet mit letztem Wohnsitz in einem besetzten Wohnhaus in Oslo: Als Ambjørnsen im Frühling 1985 nach Süden zieht, besteht seine bewegliche Habe aus einem Rucksack und einer Flasche Whisky. Auf der Fähre fabulierte er gegenüber einem Mitreisenden über die Idee für eine Serie von Jugendkrimis - kurz zuvor hatte Ambjørnsen die am Fließband produzierten Jungenbücher seiner Kindheit wieder gelesen und festgestellt, wie elend schlecht sie geschrieben waren.

So entstand die Buchreihe »Peter und der Prof": Sie war Vorlage für drei Kassenerfolge im Kino, eine Comicserie und Hörspiele. Ihr Erfolg beruht nicht zuletzt auf Ambjørnsens Talent, in der Sprache der Großstadtjugendlichen über das Leben in der Großstadt zu schreiben, geradeheraus, ohne zu moralisieren. Laut einer Untersuchung aus dem Jahr 1995 ist er unter den Lesern zwischen 15 und 25 sowie unter Studenten bei weitem der meistgelesene Autor - Jostein Gaarder liegt im Vergleich auf dem achten Platz. Statistisch betrachtet wird Ambjørnsen von den Norwegern ebensoviel gelesen wie Ibsen: Mit dem alten Henrik teilt er sich einen guten fünften Rang. Insgesamt haben Ambjørnsens Bücher allein in seiner Heimat eine Auflage von 900 000 Exemplaren. Gerade ist sein 26. Buch, eine Novellensammlung, unter großem Aufsehen veröffentlicht worden.

»Viele Bücher verkaufen, das gibt Zeit, sich auf das zu konzentrieren, was am schwierigsten ist - und am meisten Spaß macht.« Trotz seiner Erfolge hat Ambjørnsen weiter experimentiert, der große Durchbruch als Literat kam in den letzten Jahren mit anspruchsvollen Erzählungen und Romanen. Zu diesen gehören drei Romane, die jetzt mit dem Band »Blutsbrüder« alle auch auf deutsch vorliegen*.

Wieder hat sich Ambjørnsen einem Verrückten zugewandt, doch diesmal schildert

* Ingvar Ambjørnsen: »Blutsbrüder«. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Fretz & Wasmuth Verlag, München; 256 Seiten; 36,90 Mark.

er ihn aus der Innenperspektive, in der ersten Person. Sein Elling - in dem norwegischen Namen klingt Andersens »häßliches Entlein« an (dänisch: »ælling") - ist der reine Tor, ein erwachsenes Kind, ein Mensch voll psychischer Störungen und mit großen Anpassungsproblemen.

Im ersten Band der Reihe, »Ausblick auf das Paradies« (1993, deutsch 1995), lernen wir ihn in seiner Wohnung in einer Trabantenstadt kennen, die er mit seiner vor kurzem verstorbenen Mutter geteilt hat. Vergebens bemüht sich Elling, die Wirklichkeit und all das Seltsame, das ihm im Kopf herumschwirrt und ihn lähmt, in den Griff zu bekommen.

Eine Glaswand trennt ihn von der Welt. Das mag trist klingen und könnte es auch sein - wäre da nicht die Fähigkeit des Autors, ins Innerste des Verunglückten und Unangepaßten vorzudringen. Mit genau gearbeiteter Sprache und einer großen Portion Humor zieht er uns in diese Welt hinein, und wir lachen inmitten der Tragödie über Ellings eingebildete Heldentaten, über seine Ausdrücke, über seine einzigartige Sammlung von Zeitungsausschnitten mit Bildern der Ministerpräsidentin. So wirkt denn auch der unvermeidliche Zusammenbruch um so erschütternder. Ein literarisches Idiotenporträt höchsten Ranges - Elling ist der Fürst Myschkin der norwegischen Sozialdemokratie.

Im zweiten Elling-Band »Ententanz« (1995, deutsch 1996) begegnen wir ihm im Heim wieder, wo er gemeinsam mit seinem Zimmergenossen, dem eher schlichten Gemüt Kjell Bjarne, einige Verrücktheiten begeht. In diesem Buch verdichtet und vertieft Ambjørnsen seine Figur und bahnt ihr den Weg zurück zu den Menschen, einen Weg, der jetzt im jüngsten Buch »Blutsbrüder« beschritten wird.

Elling und sein Zimmergenosse leben in der verunsichernden, erschreckenden Freiheit, ohne helfende Pillen: in einer kleinen Sozialwohnung mitten in Oslo - ebenso merkwürdig und verdreht wie zuvor, immer noch unberührt von Frauenhänden. Und so begegnen sie Reidun Nordsletten, der einsamen, schwangeren Nachbarin. Die drei adoptieren einander gewissermaßen.

Während das neue Leben heranwächst, zeigt sich, daß der lebensuntüchtige Elling so untüchtig doch nicht ist - verfügt er gar über verborgene Talente? Ja, ist er nicht in Wirklichkeit ein jüngerer Bruder der großen Unangepaßten? Trennte nicht auch einen Edvard Munch eine Glaswand von den Passanten auf den Straßen von Oslo?

Die schüchtern keimende Entwicklung in Ellings Leben, die Versöhnung mit seinem Verrücktsein beschreibt der Autor wunderbar feinfühlig.

Und als kluger, erfahrener Autor, der er ist, verläßt Ingvar Ambjørnsen sein häßliches Entlein Elling rechtzeitig: in dem Moment nämlich, da ihm die ersten Schwanenfedern sprießen.

* Ingvar Ambjørnsen: »Blutsbrüder«. Aus dem Norwegischen vonGabriele Haefs. Fretz & Wasmuth Verlag, München; 256Seiten; 36,90 Mark.

Erik Fosnes Hansen

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