WIEDERBELEBUNG Der Weg zurück
Um 16.57 Uhr war der Hamburger Funkstreifenwagen »Peter 45« am Unfallort - einem Loch in der Eisdecke des Mühlenteichs, in dem wenige Minuten zuvor der fünfjährige Thomas Harder verschwunden war. Vergebens versuchten die Polizisten, den Verunglückten zu bergen.
Erst Feuerwehrleuten, die wenig später eintrafen, gelang es, den leblosen Körper aufzuspüren. Mit einem Haken zogen sie ihn aus dem eiskalten Wasser.
Noch im Unfallwagen, der unmittelbar darauf zu der knapp einen Kilometer entfernten Chirurgischen Universitätsklinik raste, wurden Wiederbelebungsversuche unternommen. Sie blieben erfolglos. Das Kind war tot.
Dennoch versuchten die Ärzte im Operationssaal, den Exitus rückgängig zu machen. Ihr Unterfangen schien aussichtslos: 20 Minuten hatte das Herz des Jungen nicht mehr geschlagen (wie die Wissenschaftler später rekonstruierten). Noch nie war es in der Geschichte der wissenschaftlichen Medizin gelungen, einen Verstorbenen nach derart langer Zeit wieder ins Leben zurückzurufen, ohne daß schwere Gehirnschäden zurückblieben.
Aber das Unwahrscheinliche ereignete sich. Fünf Tage nach dem Wiederbelebungsversuch, am Donnerstag letzter Woche, erklärte der Chef der Chirurgischen Universitätsklinik, Professor Dr. Zukschwerdt: »Der Junge ist gesund. Er hat keine Gehirnschäden zurückbehalten.«
»Die medizinische Literatur«, so doziert der als führender Wiederbelebungsexperte der Welt anerkannte Sowjetprofessor Wladimir Negowski in seinem kürzlich erschienenen Standardwerk über Wiederbelebungstechniken*, »berichtet bisher von keinem Fall, in dem die höheren Funktionen des Zentralnervensystems wiederhergestellt wurden, wenn der Zustand des klinischen Todes länger als fünf oder sechs Minuten, unter besonders günstigen Umständen... sieben bis acht Minuten dauerte.«
Wohl gelang es Ärzten in Ost und West schon tausendfach, klinisch tote Patienten wiederzubeleben. Allein in der Sowjet-Union wurden bis 1958 mehr als 3500 derartige Fälle registriert. Aber fast immer handelte es sich um erfolgreiche Versuche an Patienten, deren Herzschlag unmittelbar zuvor - etwa auf dem Operationstisch - aufgehört hatte.
Gelang die Wiederbelebung erst nach einer kritischen Spanne von etwa drei bis sechs Minuten, so trugen die Wiederauferstandenen schwere psychische Defekte davon. Ihr Herz schlug wieder, die Atmung war in Gang, die niederen Nervenzentren arbeiteten; das Gehirn aber funktionierte nur noch kümmerlich. »Diese wiederbelebten Patienten«, notierte Negowski, »bleiben geistig anomal.«
In solchen Fällen versagten auch die ausgefeilten Wiederbelebungstechniken,
die während des letzten Jahrzehnts an großen Kliniken als neuer Zweig der Medizin« (so der amerikanische Herzchirurg Professor Claude S. Beck) eingeführt wurden. Sie unterscheiden sich grundsätzlich von den Wiederbelebungsversuchen, wie sie schon früher an bewußtlosen Bade-Opfern oder Vergifteten versucht wurden. Denn sie werden jenseits der Schwelle eingesetzt, die einmal als letzte Grenze des Lebens galt - jenseits des klinischen Todes, genauer: in dem normalerweise nur wenige Minuten währenden Zwischenstadium, das den klinischen Tod (Herzstillstand) vom unwiderruflichen biologischen Tod (Zelltod) trennt.
Während es den Ärzten schon heute, wie die »Saturday Review« schrieb, möglich ist, »ein stehengebliebenes Herz
fast auf Befehl wieder zum Schlagen zu bringen«, kann die Großhirnrinde, die oberste »Kommandostelle für das Verhalten des Menschen als zivilisiertes Wesen«, nur wenige Minuten ohne der energiespendenden Sauerstoff leben. Werden aber Atmung und Blutkreislauf nicht innerhalb dieser kritischen Spanne wieder funktionstüchtig, unterbleibt also die Sauerstoffversorgung des Gehirns, so sterben die Großhirnzellen rasch ab.
Diese schmale Schwelle zwischen klinischem und endgültigem Tod nutzte der Russe Negowski im Zweiten Weltkrieg erstmals aus, um den Sowjetarmisten Valentin Cherepanow mit Hilfe chirurgischer Methoden ins Leben zurückzuholen. Die Ärzte pumpten dem Soldaten, der einem Schrapnellschuß erlegen war, Blut in die Arterien, setzten dadurch das Herz unter Druck und bewirkten so eine Art Massage. Nach einer Minute begann das Herz wieder zu schlagen, nach drei Minuten setzte
- mit zusätzlicher Hilfe einer Pumpe -
die Atmung ein, nach einer Stunde kehrte das Bewußtsein zurück.
Diese komplexe Methode Wladimir Negowskis wurde in den folgenden Jahren vielfach abgewandelt und verbessert. So gingen die Ärzte dazu über, den Brustkorb aufzuschneiden, um das Herz mit der Hand zu massieren und wieder in Gang zu setzen. US-Mediziner entwickelten schließlich die »externe Herzmassage«, wobei die Herztätigkeit durch rhythmisches Zusammenpressen des Brustkorbes wieder aktiviert wird. Neue Beatmungsgeräte und die sogenannten elektronischen Schrittmacher (SPIEGEL 31/1959), die durch gleichmäßige Stromstöße das zunächst flatternde Herz wieder in Rhythmus bringen, ergänzten das Arsenal der Wiederbelebungsfachleute.
Einer Kombination solcher Methoden war es auch zu verdanken, daß der verunglückte junge Hamburger wieder ins Leben zurückgeholt werden konnte. Als Thomas Harder in die Universitätsklinik eingeliefert wurde, begannen Ärzte der Anästhesie-Abteilung sofort, den Brustkorb über dem Herzen zu massieren. Das Herz wurde dadurch rhythmisch zusammengedrückt, so daß es - gezwungenermaßen - wie eine Pumpe wirkte. Da der Patient zugleich künstlich beatmet wurde, gelangte wieder sauerstoffreiches Blut in die Arterien.
Dann entschlossen sich die Kliniker, die Herztätigkeit elektrisch anzuregen, und stachen die Nadel eines Schrittmachers in die Brust. Während Stromstöße ins Herz geschickt wurden, ging die Brustkorbmassage weiter.
Nach zwei Stunden war es soweit: Das Herz begann von selbst zu schlagen. Die anfänglich ungeordneten Pumpbewegungen wurden vom Schrittmacher harmonisiert.
Daß der Patient keine feststellbaren Hirnschäden davontrug, obwohl er zwanzig Minuten klinisch tot war, führen die Hamburger Ärzte auf zwei Umstände zurück:
- Während sich der Übergang vom klinischen zum biologischen Tod bei einem stark geschwächten Patienten schon innerhalb einer Minute abspielen kann, läuft dieser Prozeß in einem jungen und gesunden Körper langsamer ab.
- Der Junge lag etwa zehn Minuten im Eiswasser, so daß sein Körper schon vor Eintritt des klinischen
Todes stark unterkühlt war - ein Zustand, in dem alle Lebensvorgänge langsamer ablaufen und in dem der Sauerstoffbedarf des Gehirns erheblich geringer ist.
Den Hamburger Medizinern präsentierte sich mithin ein natürlicher Fall von Unterkühlung, die von den Wissenschaftlern sonst künstlich herbeigeführt wird - etwa bei schwierigen Herz- oder Gehirn-Operationen. Bei derartigen Eingriffen senken die Mediziner die Bluttemperatur bis auf- etwa dreißig Grad (SPIEGEL 30/1960). Die Lebensvorgänge werden dadurch so verlangsamt, daß vielstündige Operationen ohne Risiko für den Patienten vorgenommen werden können.
Das eisige Wasser, in dem das Herz des fünfjährigen Jungen zu schlagen aufhörte, ermöglichte zugleich seine Rückkehr ins Leben.
* Wladimir Negowski: »Resuscitation and Artificial Hypothermia« (Wiederbelebung und künstliche Unterkühlung). Plenum-Press, New York; 12,50 Dollar.
Wiederbelebter Harder
20 Minuten nach dem Tod... Wiederbeleber Negowski
... begann das Herz zu schlagen