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Der Wille zur Macht lebt

Freuds Aggressionslehre und die Verhaltensforschung von Lorenz werden neuerdings immer häufiger für die Entwicklung einer konservativen Gesellschaftstheorie herangezogen. Jetzt hat der dänische Psychiater Thorkil Vanggaard die von der Neuen Linken propagiert. Idee einer herrschaftslosen Gesellschaft kritisiert. Sie führe zu Gewalttätigkeit und Diktatur. Die Beseitigung von Hierarchie werde Schwierigkeiten verursachen.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Das erigierte männliche Glied bedeutet nicht nur sinnliches Begehren, sondern auch Herrschaftswillen. Der Phallos bringt »sowohl erotische wie auch aggressive Kräfte zum Ausdruck«.

Die These des dänischen Psychiaters (und Präsidenten der dänischen Psychoanalytischen Gesellschaft) Thorkil Vanggaard, wonach das phallische Verhalten des Mannes auf einen unauflöslischen Zusammenhang von Libido und Aggression zurückgehe, hat politische Relevanz. Deshalb irrt Professor Alexander Mitscherlich in seinem Vorwort zu dem soeben erschienenen Buch Vanggaards. »Phallos«, wo er meint, die »Quintessenz« des Werkes sei »eine historische"*.

In Wirklichkeit ist Vanggaards Buch Zeitkritik -- Zeitkritik an der Vorstellung einer aggressionsfreien, also herrschaftslosen Gesellschaft, wie sie von der Neuen Linken propagiert wird. Eine Gesellschaft ohne Herrschaft wäre - nach Ansicht des Dänen -- eine Gesellschaft ohne Liebe und Leistung. Vanggaards Buch gehört mithin zu je-

* Thorkil Vanggaard: .Phallos. Symbol und Kult in Europa, List Verlag. München: 208 Seiten: 25 Mark.

** Jüngste Beispiele: Robert Ardrey: »Der Gesellschaftsvertrag«. Verlag Molden. Wien 46.4 Seiten 28 Mark.

Friedrich Hacker: »Agression« Verlag Molden. Wien: 416 Seiten; 26 Mark.

Wolfgang Wickler: »Die Biologie der zehn Gebote. Piper Verlag München; 224 Seiten. 18 Mark.

ner in jüngster Zeit ständig anschwellenden Literatur, in der die konservative Konzeption einer hierarchisch verfaßten Gesellschaft gegen die Neue Linke verteidigt wird -- mit den Mitteln der Freudschen Aggressionslehre und der Lorenzschen Verhaltensforschung**.

Eine der Beobachtungen, von denen Vanggaard ausgeht, ist die Feststellung, daß Erektion und genitale Betätigung bei Männern sehr oft durch nichtsexuelle, zumal aggressive Impulse ausgelöst würden -- so zum Beispiel durch den Wunsch, andere Männer zu unterwerfen oder gar zu demütigen. Zum Beweis verweist Vanggaard auf eine Menge psychiatrischer Erfahrungen, aber auch auf anekdotisches Material -- so auf einen bezeugten Vorfall in Persien, wo ein christlicher Missionar in den Harem eines Prinzen eingedrungen war und daraufhin von dessen Dienern durch analen Mißbrauch bestraft wurde. Es sei, bemerkt Vanggaard dazu, wohl kaum anzunehmen, daß die Diener »durch einen Missionar mit übermaßigem Bekehrungseifer erotisch erregt werden konnten«. Die Erektion müsse also in einem solchen Fall als ein Akt der Aggression verstanden werden.

Die Erzwingung des Analverkehrs unter reifen Männern galt im Altertum (und im Nahen Osten sogar noch bis in die jüngste Zeit) als Akt der Unterwerfung. Als der alt-israelische Gottesknecht Lot zwei fremde Männer in seinem Haus zu Sodom verbarg, verlangten die Bürger, er möge ihnen die beiden zum Verkehr herausgeben -- was freilich von Gott verhindert wurde.

T. E. Lawrence, britischer Agent im Nahen Osten während des Ersten Weltkrieges, wurde, als er in Gefangenschaft geriet, von einem türkischen Offizier mißbraucht -- eine Demütigung, die den so Traktierten befürchten ließ, er werde sich noch nach seinem Tode nicht unter »anständigen Geistern« sehen lassen können.

Alle diese Vorgänge tradieren offenkundig Verhaltensweisen, wie sie schon bei Tieren vorkommen. Werden Pavian-Herden bedroht, erwarten die Männchen im Spreizsitz und mit erigiertem Penis den Feind. Der Penis ist also schon hier mehr als bloßes Instrument der Sexualität, sondern Zeichen der Wehrhaftigkeit.

Entgegen den phallischen Vorstellungen des Altertums und des Orients versteht die westliche Gesellschaft den erigierten Penis ausschließlich als Sexualinstrument. Die Vorstellung von der über das Sexuelle hinausreichenden Bedeutung lebt aber laut Vanggaard im Unterbewußtsein weiter.

So gestehen beruflich erfolglose Männer in der Psychoanalyse Furcht vor homosexuellem Mißbrauch durch andere Männer oder äußern die Befürchtung, wegen eines zu kleinen Penis verachtet zu werden. Stark aggressive Männer entwickeln -- angesichts der moralischen Abwertung von Aggression -- übertriebene Schuldgefühle.

Andererseits steigert, nach den Beobachtungen Vanggaards, Erfolg in der Sphäre der Aggression das erotische Verlangen des Mannes. So notierte die Herzogin von Marlborough, als der Herzog siegreich aus dem Spanischen Erbfolgekrieg zurückkehrte, daß ihr Gemahl zweimal sein Begehren an ihr befriedigt habe, »während er noch die Stulpenstiefel anhatte«.

Wenn Männer nächtliche Erektionen haben, sind keineswegs vorwiegend sexuelle Träume die Ursache. Vielmehr haben solche Träume sehr oft »geglückte nichtsexuelle Leistungen zum Inhalt« -- eine Beobachtung, deren Bedeutung Vanggaard noch durch Hinweise auf das phallische Verhalten prähistorischer Menschen unterstreicht. Die vom modernen Mann zumeist nur noch im Traum erlebte Verbindung von Erektion und Leistung sei für den Menschen der Steinzeit und der Bronzezeit selbstverständlich gewesen. Auf skandinavischen Felszeichnungen werden Männer mit erigiertem Penis nicht nur in sexuellen und aggressiven Situationen gezeigt, sondern auch beim Pflügen. Segeln und Jagen.

Aber auch für den Menschen der Moderne ist, meint Vanggaard, der Phallos jedenfalls unbewußt nicht bloß sexuelles Merkmal, sondern Symbol des Ensembles aller geistigen und körperlichen Kräfte eines Mannes.

In diesem Zusammenhang verweist Vanggaard auf das antike Griechenland, wo insonderheit die dorischen Spartaner der phallischen Beziehung zwischen reifen Männern und Knaben, also der Päderastie, eine erzieherische Bedeutung zuschrieben. Sie glaubten, daß der Same des Mannes dessen Tugenden auf den Knaben übertrage.

Zum Verständnis dieser Vorstellung macht Vanggaard geltend, »daß in jedem fruchtbaren Lehrer-Schüler-Verhältnis eine Verschmelzung von Aggression und Libido den eigentlichen Kern der Beziehung ausmacht«. Die gelte auch dort, wo »die genitale Komponente nicht geduldet« werde.

An dieser Stelle knüpfen Vanggaards aktuelle Politische Überlegungen an, die er allerdings, wie er gesteht, »mit einigen Hemmungen« vorbringt. Vanggaard fürchtet, daß die von der Neuen Linken geforderte Beseitigung von Autorität und Unterwerfung zugleich jene »Verschmelzung von Libido und Aggression« zerstört, auf die ergiebige zwischenmenschliche Beziehungen zurückgehen --

»Die Gefahr ist nicht zu übersehen«, meint Vanggaard, »daß die jungen »Rebellen«, die heute in ihrem Kampf mit der Autorität völlig undemokratische Methoden gebrauchen. eines Tages eine Kehrtwendung machen und mit ihrer Gewalttätigkeit dem »starken Mann«, dem Diktator, zur Macht verhelfen ...«

»Aggression, Phallossymbolik, Homosexualität und Rangordnung« seien, schreibt Vanggaard, »eng miteinander verknüpft«. Wenn man sie verdränge, ergäben »sich große Schwierigkeiten, sowohl für den einzelnen wie auch für die gesamte Gesellschaft«.

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