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ERFINDUNGEN Des Teufels Telefon

Das Smartphone hat unser Leben vereinfacht - und durchschaubar gemacht.
Von Joachim Kronsbein
aus DER SPIEGEL 53/2009

Das Äußere verrät zunächst nichts über die Funktion. Die schwarzschimmernde gläserne Oberfläche in der leicht zum Oval abgerundeten rechteckigen glänzenden Metallschale könnte vieles sein und nichts. Ein elektronisches Enigma. Das Design des Geräts ist von ästhetischer Unangreifbarkeit. Noch in hundert Jahren wird es die nuller Jahre dieses Millenniums als die Essenz der Epoche repräsentieren. So wie der Golf die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts repräsentierte: eine klassenlose Maschine, die von jedem benutzt werden kann und die keine andere Botschaft hat als die, den Geist und Geschmack ihrer Epoche darzustellen.

Kein anderer Gegenstand versinnbildlicht so schlüssig die fundamentalen Veränderungen unseres Lebensstils und die unauflösliche Verschmelzung von Berufs- und Privatleben wie das iPhone. Die schönste Sphinx der digitalen Welt ist Spielzeug und Arbeitsgerät zugleich, bei größtmöglicher ästhetischer Zurückhaltung. Kaum Tasten, keine üblichen Steuerelemente, dafür eine äußerst sensible Oberfläche, der Touchscreen.

»Digital«, im ursprünglichen lateinischen Wortsinn, nur mit dem Finger, lassen sich die Welten des iPhones aufblättern, verschieben, verkleinern und vergrößern und wieder entfernen. Der Benutzer wird zum digitalen Hand-Werker. Dreht er das Gerät bei bestimmten Anwendungen um 90 Grad, passt sich die Darstellung an. Das Gerät ermöglicht Kommunikation und Information, Unterhaltung und Archivierung, und jedem Benutzer steht daraus ein unüberschaubares Angebot an Möglichkeiten zur Verfügung.

Fotos machen und verwalten, ebenso Videos, E-Mails schreiben und archivieren, der Zugang zum Internet, Textbearbeitung, Handhabung beruflicher und sozialer Kontakte, Shopping und Musik-Downloads. Smartphones sind Büro, Kaufhaus und Entertainment-Angebot zugleich. Überall und jederzeit.

Ein Defekt oder gar der Verlust stürzt den Besitzer in eine unmittelbare Identitätskrise. Ganz so, als hätte er Pass, Kontozugang, Wohnungsschlüssel und alle CDs zugleich eingebüßt. Das iPhone ist mithin das Schlüsselwerkzeug des abgelaufenen Dezenniums. Es erleichtert das Leben, schafft aber, weil es die gesamte digitale Habe enthält, gleichzeitig eine nur schwer und unter Qualen aufzulösende Abhängigkeit. Und es bindet Aufmerksamkeit und verlangt die Fähigkeit zum Multitasking.

Es ist die symbolische Maschine. Sie steht für ein Jahrzehnt, das den sofortigen Zugriff auf Information an jedem Ort der Erde zu einem existentiellen Bedürfnis erhoben hat. Das iPhone ist für das digitale Zeitalter die permanente Anwendung unterschiedlicher Grundrechte: Es ermöglicht es, sich jederzeit mit Menschen in aller Welt zusammenzuschließen, garantiert den freien Zugriff auf und die Verbreitung von Informationen sowie die ungehinderte Möglichkeit, sich fortwährend zu äußern, und sei es nur als leeres Nonsensgezwitscher auf Twitter: »Hallo, ich bin zu Hause, wo seid ihr?«

Das iPhone macht trotz seines Namens das Telefonieren zu nur einer von vielen möglichen Handlungen. So wie das Auto die Mobilität und die Freiheit der Bewegung suggeriert, so gibt das iPhone zeitgleiche Teilhabe an Welterfahrung vor.

Das Gerät weist per GPS den Weg zum fremden Bahnhof, den man früher auch so gefunden hätte, definiert die Himmelsrichtungen, die auch am Stand der Sonne erschlossen werden könnten, informiert über Kino- und Theaterprogramme, die auch an der nächsten Litfaßsäule hängen. Mittlerweile kann es sogar als digitale Wasserwaage eine Waagerechte bestimmen, es liefert Kochrezepte, ermöglicht Bankgeschäfte und gibt Reisetipps.

Und natürlich ist es auch des Teufels Telefon. Denn alles, was wir eingeben, was wir tun mit diesem Handy, produziert Daten, produziert ein Gemälde von Informationen, mit denen diejenigen, die diese Daten sammeln, uns durchschauen können: unsere persönlichen Leidenschaften und Geheimnisse, unsere Präferenzen und unsere Abneigungen, unsere politischen und sexuellen Orientierungen. Wir werden berechenbar, und wer berechenbar ist, ist auch steuerbar. Und damit stellt diese feine Erfindung eine der zentralen Fragen der nuller Jahre: Wer beherrscht hier eigentlich wen?

Im iPhone erfüllt sich in einem höheren Sinn erst jetzt das, was der italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti 1909 in seinem berühmten »Futuristischen Manifest« für eine damals angeblich schon anbrechende Zeit geschrieben hat: »Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! ... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.«

JOACHIM KRONSBEIN

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