Deutsche Versuchungen
Der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen, 71, ist der überragende Sprecher konservativer Gesellschaftskritik in Deutschland.
Einblicke« heißt das neue Buch Arnold Gehlens. Es ist eine Auswahl seiner Vorträge und Aufsätze des letzten Jahrzehnts. Alle haben Westdeutschlands »Mundwerksburschen« zum Gegenstand, also jene intellektuelle »Gegenaristokratie«, die er einst -- in »Moral und Hypermoral« -- mit diesem handlichen Wort karikierte. Gemeint sind die Journalisten, die Gesellschaftsveränderer, die jungen Rebellen -- die »Bartmännchen«, wie er sie gelegentlich auch nennt.
Die weder beliebte noch originelle Idee, eine über Jahre verteilte Prosa-Produktion gesammelt zu veröffentlichen, war in diesem Fall gut. Bei den nun in einem Griff habhaften Texten handelt es sich um Stücke, die das Lesen, auch das neuerliche, nach wie vor lohnen. Nicht nur, daß sie auch da, wo der schöpferische Moment des »Einblicks« schon lange zurückliegt, immer noch interessant, aufregend, empörend, unheimlich oder spaßmachend sind. Es kommt noch ein anderes hinzu. Gehlen ist einer der wenigen lebenden Philosophen Deutschlands, der seinem eigenen immensen Wissen und seiner eigenen gefräßigen Phantasie als Schreiber gewachsen ist. Er ist ein Meister der knappen und der, im weitesten Sinne des Wortes, trefflichen Aussage. Er schießt selten Fahrkarten.
Beispiele für Gehlens Schießkunst gibt es die Menge -- so etwa seine Anmerkungen
* über die wissenschaftliche Produktion der Gesellschaftskritiker: »Die Träumer haben gelernt, auf das geschickteste und wirksamste zu argumentieren, ohne aufzuwachen«, oder
* über die »Solidarisierung«, wie sie zum Beispiel Jürgen Habermas gerne predigt: »Wenn zudem im Kreise herum jeder auf den Knien des anderen Platz genommen hat, mag verborgen bleiben, daß niemand wirklich sitzt«, oder
* über sexuelle Permissivität: »Vielleicht unterschätzt heute doch mancher junge Mann die Endgültigkeit seines generösen Zugutehaltens, wenn er die mehrfach approbierte Braut heimführt. Er ist nicht Herr seiner Erinnerungen wie sie.« Gehlens Notizen über den Zeitgeist sind herrisch, und die Frage, die sich dem Leser bei fortschreitender Lektüre aufdrängt, ist die, was es mit diesem Herr-Sein Gehlens auf sich hat. Einen wichtigen Hinweis enthält die Tatsache, daß seine über ein Jahrzehnt sich erstreckende Schelte allemal diejenigen betrifft, die sich irgend etwas von »Veränderung« erhoffen. Er nennt sie die »Träumer«; er sieht sie in somnambulen Schwebezuständen und von »lazaretthaften Impulsen« bewegt; er kanzelt sie ab, weil sie von Welt und Wirklichkeit nichts wissen -- und auch nichts von der Frau.
So wäre denn die Frage nach dem Herren-Status des Autors Gehlen dahingehend zu beantworten, daß er sich selbst -- im Gegensatz zu jenen »Illusionisten« = als den Meister der Wirklichkeit empfindet, zumindest aber als deren Kenner. Doch diese Antwort ist falsch.
»Die Ereignisse von heute müssen wir unzerkaut verschlingen«, schreibt er. Sie sind »komplex« und »verwickelt« und können weder »von der bildhaften Vorstellungskraft noch von der begrifflichen Erkenntnis mit Sicherheit eingeholt« werden. Selbst die Verantwortlichen täuschen sich über »kapitale Tatsachen«. Die Welt ist »kaum noch durchsichtig« -- eine Beschreibung, die auch für die Frau gilt. Sie ist »rätselhaft«. Die UdSSR und China hüten Geheimnisse, und daß die USA sich die ihren (in den Pentagon-Papieren) haben stehlen lassen, disqualifiziert Amerika als Großmacht. Von drohender Unnahbarkeit sind auch die »Sachlogik der Wirtschaft« und die »Technik«. Sie sind es, die, ungerührt von dem Geschwätz der Veränderer, die moderne Welt in einen geheimnisvollen kristallinen Zustand überführen, den Gehlen mit Gottfried Benn den der »Unaufhörlichkeit« nennt.
Gehlens Verhältnis zur Wirklichkeit ist offenkundig von Angst geprägt wie das eines anderen großen deutschen Stilisten: Otto von Bismarcks. In der Tat ließe sich dessen unentwegtes Schaudern vor jenem Gott, der gleich einem Ochsen die Staaten wie Ameisenhaufen zertrampelt, leicht in Gehlens Respekt vor der »Sachlogik der Wirtschaft« oder vor der geheimnisvollen Sowjet-Union übersetzen -- China, das auch Max Horkheimer ängstigte. im Hintergrund.
Angst ist -- wie die von Gehlen verhöhnte Hoffnung -- eine politische Erlebnisform der Deutschen, und es müßte sehr überraschen, wenn sich bei einem so geistvollen deutschen Autor wie Gehlen neben dem starken Abdruck der einen Regung nicht auch wenigstens eine Spur der anderen fände, der Hoffnung nämlich. Dies geschieht denn auch -- freilich in einer Weise, die einen Abgrund öffnet.
Er wünsche dem modernen Menschen, schreibt Gehlen, eine Position -- er nennt sie »Entfremdung« und an anderer Steile eine »Nische« -, die den so Begünstigten befähigen würde, sich von den durch die Verarbeitungsindustrie produzierten Bedürfnissen und der Meinungsmache der »großen Machtgruppen« zu distanzieren. Diese »Entfremdung« sei im eigentlichen Sinne »Freiheit« und ermögliche wohl auch, »etwas vom Reichtum der Geschichte, von den Kategorien der großen Politik und von der Würde des Staates völlig ungestört in sich aufzunehmen«.
Diese Beschreibung von Freiheit! Entfremdung trägt autobiographische Züge, und sie schildert eine sehr beschauliche Lebensform -- eben jene, die eine »Nische« gewährt, in welcher der Bewohner »völlig ungestört« das Weltganze in sich aufnimmt, zum Beispiel »etwas von der Würde des Staates«.
Das Bild ist traulich, doch es täuscht. Die Nische ist voller Gespenster, und es spricht für die Kraft und die Tiefe des Autors Gehlen, daß er das weiß und daß er das sagt. »Unriskant« sei, schreibt er, die Freiheit dieses Nischen-Lebens keineswegs. »Zunehmende Aggressivität« befalle den Bewohner, und Frustration treibe ihn weiter bis an den Rand einer sittlichen Katastrophe. Gehlen: »Und er mag, zumal im Bunde mit gleichgesinnten Aktivisten, bis in die Nähe des Satzes geraten: »Das Verbrechen, das ist die Freiheit.«
Das Bekenntnis, mit dem der Staats-Verehrer Gehlen sich selber in die Nähe anarchistischer Gewalttäter rückt, beschreibt den Sachverhalt, daß Verbrechen anzüglich sind, auch für den Guten. Darüber hinaus hat der Satz jedoch noch eine andere, größere und unbehaglichere Dimension.
In »Moral und Hypermoral« hatte Gehlen den gegenwärtigen Zustand der westlichen Welt als satanisch beschrieben. Der »Antichrist«, hieß es dort, trete in der »Maske des Erlösers« auf und habe -- heute -- ein »Reich der Lüge« errichtet. Diese buchstäblich apokalyptische Vision kehrt in den »Einblicken« mit der Feststellung wieder, die gegenwärtige Kultur sei die »auszehrendste und zweideutigste, ja verlogenste, die es je gab«.
Erst angesichts dieser biblischen Perspektive wird erahnbar, welche Bewandtnis es mit der Gehlenschen Vermutung hat, die Freiheit des Menschen (und die Veränderbarkeit des gegenwärtigen Zustands) lasse sich (nur noch?) auf dem Wege des Verbrechens wiederherstellen. Der als Erlöser verkleidete Satan flößt dem Autor also nicht nur Entsetzen ein. Vielmehr ist dabei auch Versuchung im Spiel. Versuchung, sich an der Lüge zu beteiligen? Oder Versuchung, das Gespinst der Lüge mittels verbrecherischer Tat zu zerreißen?
Gehlen charakterisiert seine Beziehung zu Staat, Politik und Geschichte als »in sich aufnehmen«. Doch seine Satanie-Anklage läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er sich durch das »Aufgenommene« zu herrischer, ja prophetischer Ansprache ermächtigt fühlt. Das ist nicht ohne Ironie. Die Deutschen, schreibt Gehlen, glaubten an das »Eintrichtern«, und deshalb fehle es ihnen nie an »Großpädagogen«, die letzten seien Thomas Mann, Jaspers und Augstein. Das ist eine flotte Aussage. Doch riskiert sie den Verdacht, es könnte in der Reihe ein großer Name ausgelassen sein: Gehlen. ·