Samira El Ouassil

Leben nach Corona Kehren wir zurück zu etwas Neuem

Samira El Ouassil
Eine Kolumne von Samira El Ouassil
Natürlich müssen wir jetzt unser Gesundheitssystem in den Griff bekommen. Unsere aktuellen Probleme bieten aber auch Chancen, um Prinzipien zu hinterfragen, die bereits vor Corona Ungerechtigkeiten produzierten.
Bei einer Erntehelferin aus Rumänien wird Fieber gemessen

Bei einer Erntehelferin aus Rumänien wird Fieber gemessen

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Daniel Karmann/ picture alliance/ dpa

Wir müssen uns an folgende drei Gedanken gewöhnen: 1. Es wird länger keine Rückkehr zu irgendeiner Normalität geben. 2. Es kann keine Rückkehr zu jener Normalität geben, die wir vor dem Coronaausbruch hatten. Denn es gab 3. nie so etwas wie Normalität.

Dazu hat die Pandemie wie durch ein Vergrößerungsglas zu viele Bruchstellen unserer Gesellschaft zu unübersehbar gemacht. Desaster stellen unsere Definition von "normal" infrage, indem sie bereits schwelende Probleme sichtbar machen, deren Existenz wir bis dahin als systembedingt akzeptiert und verdrängt hatten. Ein Zurück in den Status quo aus Dezember 2019 anzustreben würde deshalb bedeuten, all die zivilisatorischen Brüche und Ungerechtigkeiten nicht nur hinzunehmen, sondern wissentlich beibehalten zu wollen.

Die Idiotie dessen, was wir bis dahin für funktional und selbstverständlich halten, schält sich in bürokratischen Absurditäten der Coronakrise besonders raus. Nur einige Beispiele: Der Love-Parade-Prozess wird eingestellt, weil sich jetzt zu viele Menschen auf zu engem Raum gesundheitlich gefährden würden . EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen musste eine Flugpflicht-Regelung vorläufig aufheben, um sogenannte Geisterflüge zu verhindern, also leere Flugzeuge, die bis dahin gezwungenermaßen durch die Gegend flogen , um Slots auf exklusiven Flugrouten zu schützen .

Die Menschenfeindlichkeit und eurozentrische Ignoranz, die strukturell schon immer Teil unseres Wohlstands war, ist jedoch an den Grenzen am wenigsten zu übersehen. Eine Politik, die es nicht hinkriegt, Menschen an der Außengrenze so zu retten, dass sie nicht elendig verrecken (kommen Sie mir nicht mit den 50 Kindern), aber mit Frühlingseifer Erntehelfer aus dem Ausland einfliegen lässt beziehungsweise lassen muss, um den nationalen Spargelhaushalt aufrechtzuerhalten, kann nie normal gewesen sein.

Wir hatten nie eine Normalität

Wir hatten nie eine Normalität, zu der zurückzukehren gesund wäre. Denn diese Normalität schaut achselzuckend dabei zu, wie Männer, Frauen und Kinder während des gesamten Osterfests hinweg im Mittelmeer treibend verzweifelt auf Rettung hoffen und ignoriert ihre gefunkten Hilferufe . Unser "normal" lässt Menschen ertrinken oder in Lagern misshandeln und trägt dabei einen blauen EU-Hoodie. Europa war schon vor der Pandemie schwer krank.

In seinem Text "A Disaster Without Precedent" vom 20. März befasst sich der Soziologe Frank Furedi mit den gesellschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus und schreibt: "Es ist die Art und Weise, wie die Gesellschaft auf eine Katastrophe reagiert, die bestimmt, welches langfristige Vermächtnis die Katastrophe haben wird. " Wir haben mehrere Kämpfe zu gewinnen: den aktuellen gegen das Virus - und den permanenten für ein humanistischeres Danach.

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Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Das atmosphärische Problem ist vielleicht Timing. Metaphorisch gesprochen: Wenn wir gerade Verletzte und Leichen aus einem brennenden Wrack mit Totalschaden bergen, erscheint es pietätlos, noch am Unfallort darüber diskutieren zu wollen, wie man das Auto sicherer hätte bauen können. Dennoch ist genau das der sinnvollste Zeitpunkt. Denn sind alle Wunden versorgt und das Auto wieder repariert, besteht keine Dringlichkeit mehr, über eine neue Karosserie nachzudenken.

Auf unsere Situation bezogen: Natürlich geht es auch darum, erst mal Infektionen in den Griff bekommen. Und das Homeschooling. Und die Pflege- und Altenheime. Und das Gesundheitssystem. Tatsächlich sind aber diese quietschenden Stellen gleichzeitig die Schäden eines ökonomischen Prinzips, das nur so lange hält, wie alles halbwegs funktioniert. Genau jetzt ist die Zeit für die Debatte des Neuen statt der Verklärung des Alten, denn ist einmal alles erst wieder wie vorher, ist es eben genau das: wie vorher.

Und wir sind durchaus in der Lage, den notwendigen Pragmatismus des Ausnahmezustands mit einem abstrakten Nachdenken darüber zu verbinden, wie man es anders machen sollte. Im Moment ist eine geistige Geschmeidigkeit spürbar, die Widersprüchlichkeiten selbstreflexiv auszutarieren vermag:

Wir sind etwa vernünftigerweise für den virologisch empfohlenen Lockdown und fragen gleichzeitig aus existenziellen Gründen vorsichtig nach dem erhofften Ende; wir sind theoretisch kantianisch und solidarisch, aber praktisch stehen wir selbst im Park rum wie die Bademeister und echauffieren uns, "dass ja alle im Park sind". Die Beschulung der Kinder überfordert uns und ist auf eine Weise zeitintensiv, dass sie das Arbeiten daheim kaum ermöglicht, aber gleichzeitig kritisieren wir zu Recht das Expertenpapier von Leopoldina, obwohl es für sukzessive Schulöffnungen ist, weil wir ahnen, dass man einen Haufen Achtjähriger schwer dazu bringen kann, Spielen mit Körperkontakt zu unterlassen (das kriegen ja nicht mal die Erwachsenen hin ) und ohnehin nicht vorhandene Masken richtig zu tragen. (Auch das kriegen ja nicht mal die Erwachsenen hin .)

Wir bewegen uns im Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl und Einzelinteressen, zwischen Maßnahmen des Ausnahmezustands und demokratischer Rechtsstaatlichkeit und sind vermutlich gerade deshalb besonders sensibel, was den Wettbewerb um Deutungshoheiten und schnelle Antworten angeht.

Das konnte man etwa kürzlich auch anhand der irritierten Reaktionen auf die umstrittene Corona-Studie aus Heinsberg beobachten, die medial von der PR-Agentur Storymachine begleitet wurde. Sie lieferte Argumente für eine allmähliche Lockerung des Shutdowns. Obwohl diese Lockerungen verführerisch gewesen wären, erlaubten sich große Teile der Öffentlichkeit nicht, die kommunizierten Ergebnisse der Heinsberg-Protokolle losgelöst von einem politischen Spinning zu betrachten.

Diese Episode zeigte auch: Die Bürger stürmten gar nicht so begeistert auf die Aussicht auf den alten Alltag, wie oft politisch unterstellt. Denn hinter dem Pflichtbewusstsein steht nicht die Bereitwilligkeit, die Einschränkung der Mobilität einfach aus Teutonismus und blindem Ordnungsglauben heraus unhinterfragt hinzunehmen. Sondern im Gegenteil: Dahinter steht das souveräne Verständnis darüber, das Richtige tun zu wollen bei gleichzeitig intensiver Auseinandersetzung mit den Empfehlungen.

Diese Wachsamkeit gepaart mit der Verständigkeit darüber, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung handelt, ist genau die Energie des zivilisiert Revolutionären, die es bräuchte, um nicht zur nostalgisch verklärten "Normalität" zurückzukehren, die, wenn überhaupt, zuvor nur für die Privilegiertesten unter uns existierte. Sondern um eine humanistische Normalität für alle zum ersten Mal überhaupt zu erreichen. Kehren wir nach der Krise zurück zu etwas Neuem.

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