MALEREI Diderots blaue Augen
Lustbarkeiten im Park: Zwischen hohen Bäumen hingelagert oder wie im Schlendern innehaltend, lassen heitere Müßiggänger sich Jahrmarkts-Schaustellungen gefallen. Hier ist es ein Puppenspieler, der Publikum anlockt, dort ein Moritatensänger-Paar. Verkaufsbuden sind aufgeschlagen, ein Glücksrad wird gedreht. Eine Vision vom irdischen Paradies nimmt Gestalt an, doch keine, die Dauer verspräche.
Denn das Greifbarste an der ganzen Szenerie scheint noch eine halb im Grün versteckte Statue zu sein. Das flockige Laubwerk der Bäume wirkt kaum handfester als eine haushohe Fontäne im Hintergrund oder das Gewölk am Himmel. Und die Figuren werden oft so schemenhaft-durchsichtig, als wollten sie sich geradewegs in der Kunst-Natur des Parks auflösen.
Ungewiß ist auch das Licht. Es fällt fleckig ein und läßt eine Ahnung von Abend, von Herbst, ja von nahendem Gewitter aufkommen. Als Zeichen heimlicher Bedrohung ragt, wie aus einer anderen Landschaft, ein sturmgebeugter, schon halb entblätterter Baum in das Idyll. Von unbekannter Gewalt umgestürzt, liegt vorn ein Busch im Pflanzkübel am Boden.
Wohl gegen 1773, gut anderthalb Jahrzehnte vor Beginn der großen Revolution, hat der Franzose Jean-Honore
Fragonard dieses »Fest in Saint-Cloud«, sein größtes Bild, gemalt.
Mit allem Rokoko-Zauber einer leichthändigen Pinselführung und einer hellen Farbigkeit hat er dabei den Geist seiner Epoche auf eine Anschauung gebracht. Er hat die Erinnerung an jene »fetes galantes« wachgerufen, die zwei Generationen zuvor von seinem Landsmann Jean-Antoine Watteau zur Bildgattung erhoben worden waren, und er hat sie mit einem neuen Naturempfinden erfüllt. Er hat noch einmal triumphal den klassizistischen und moralisierenden Tendenzen getrotzt, denen damals die unmittelbare Zukunft gehörte.
Als Erbe der galanten Zeit, zugleich als Pionier neuer malerischer Freiheiten steht Fragonard nun bei einer großen Ausstellung zur Diskussion, für die auch das »Fest in Saint-Cloud«, Eigentum der Banque de France in Paris, wieder an die Öffentlichkeit gekommen ist.
Rund 100 Fragonard-Gemälde, mehr als je zuvor an einem Platz, sind bis zum 4. Januar im Pariser Grand Palais (anschließend im New Yorker Metropolitan Museum) beisammen. Dazu kommen eine Fülle an großartigen Zeichnungen, manche zum erstenmal gezeigt, sowie die Radierungen des Meisters: insgesamt 305 Nummern im 640-Seiten-Katalog (330 Franc), der- »als letzter, ich schwöre es« - so anschwellen mußte, weil nach Einschätzung des Louvre-Chefkonservators, Ausstellungsmachers und Katalogverfassers Pierre Rosenberg in Sachen Fragonard »die Forschung erst am Anfang« steht.
Nachrichten zur Laufbahn Fragonards sind teils wenig ergiebig, teils aus dritter Hand; das meiste hat erst gegen 1865 ein Enkel als Familientradition erzählt. Und die - nur ausnahmsweise datierten - Werke verwirren durch Vielfalt ohne klare Entwicklungslinie.
So treten für den Ausstellungsbesucher genialische Porträtskizzen neben liebevoll ausgemalte Genreszenen, pathetische Historienschinken neben pikante Boudoir-Einblicke. Wann jeweils und unter welchen Bedingungen die Bilder entstanden sind, sucht Rosenberg im
Katalog mit einem Puzzle aus Stilkritik, bekannter und neu ausgegrabener Überlieferung zu klären.
Obwohl kein Schüler der königlichen Malakademie hatte sich der 20jährige Fragonard 1752 an deren Rompreis-Wettbewerb beteiligt und mit einem Bravourstück »Jerobeam opfert den Götzen« wirklich das begehrte Stipendium gewonnen. Mit einer pompös inszenierten antiken Episode ("Koresos und Kallirrhoe") wurde der Paris-Heimkehrer 1765 Akademie-Mitglied, Kritiker Denis Diderot rühmte dem Bild »alle Magie, alle Intelligenz und alle malerische Kunstfertigkeit« nach.
Doch als Fragonard zwei Jahre später einen zum Himmel emporfliegenden Amorettenschwarm ausstellte, mußte derselbe Betrachter sich vor diesem »schwammigen«, »teuflisch faden«, »gelben und angebrannten Omelett« sehr ekeln. Vernichtende Bilanz: »Nachäfferei Bouchers« - des bei Diderot wenig geschätzten Erfolgsmalers von mythischen wie zeitgenössischen Nuditäten und vormaligen Fragonard-Lehrers.
Sein Schüler war offenbar nicht der Mann für eine große Karriere, mit offiziellen Aufträgen scheint er schlecht zu Rande gekommen zu sein. Auch die Geziertheiten Bouchers waren auf Dauer nicht seine Sache. Nur Frühwerke wie eine (Wipp-)"Schaukel«, bis 1784 im Besitz eines Barons de Saint-Julien, konnten auf Reproduktionsstichen noch fälschlich dem Lehrer zugeschrieben werden.
Doch Fragonard war zur Stelle, als derselbe Baron, Schatzmeister des französischen Klerus, sich 1769 das Bild einer (Strick-)Schaukel wünschte, auf der seine Mätresse sitzen sollte: von einem Bischof in Schwung gebracht, während der Liebhaber ihr unter die Röcke sah. Der Historienmaler Doyen wies den Auftrag »versteinert« zurück, Fragonard führte ihn mit Grazie und stimmungsvoller Naturschilderung aus.
Auf diesen Anblick freilich müssen Ausstellungsbesucher in Paris verzichten; das Gemälde hängt unausleihbar in der Londoner Wallace Collection. Und erst in New York kann, mit einem kleinen Abstecher zur Frick Collection, ein anderer berühmter Fragonard-Auftrag in die Besichtigung einbezogen werden: der Bilderzyklus, den sich die Gräfin Dubarry, Favoritin Ludwigs XV., 1771 für einen Salon bestellt hatte. Schließlich jedoch - der Zeitgeschmack schlug um - zog die Dame frühklassizistische Darstellungen vor, und Fragonard bekam seine Bilder zurück.
Teil einer großen Raumdekoration muß auch das »Fest in Saint-Cloud« gewesen sein. In der Ausstellung wird das Riesengemälde neben zwei Washingtoner Leihgaben von der gleichen enormen Höhe (2,16 Meter) gezeigt: wieder Freizeitgruppen unter bewölktem Himmel, wieder Flackerlicht-Stimmung in Grün und Gelb. Zur Vorgeschichte des Ensembles greift Spurensucher Rosenberg bislang unbeachtete Indizien auf -
den Hinweis auf eine Versteigerung von »fünf großen Bildern« Fragonards mit Landschaften und Figuren, einem Salondekor (1789), doch auch die Überlieferung, der Künstler habe gern seine eigenen Wohnstätten ausgemalt.
Ob für Fremd- oder Eigenbedarf: Fragonards inspirierte Malkunst adelt die Darstellung einer Gesellschaft, deren dringlichste Geschäfte offenbar Blindekuhspiel und Schaukeln sind (das oft benötigte Requisit hatte er im Atelier parat). Sie nimmt auch erotischen Sujets alle Peepshow-Peinlichkeit. Der Stich nach einem Fragonard-»Mädchen, im Bett mit einem Hündchen spielend«, das durch dessen buschigen Schweif nur notdürftig bedeckt wird, durfte im 18. Jahrhundert »nicht ins Schaufenster gelegt werden«. Das Original bietet, bei allem Glanzlichter-Spiel auf gespannter rosa Haut, ein jugendfreies Kunst-Erlebnis.
Fragonards ebenso zügige wie sichere Pinselhandschrift hat schon auf Zeitgenossen den Eindruck mitreißender »Dynamik« gemacht. Ganz besonders belebt sie eine ungewöhnliche Porträtgalerie, deren 14 gleichformatige Bilder nun in einer Ausstellungsrotunde beisammenhängen wie einst vielleicht, nach Rosenbergs Vermutung, beim Künstler selbst. Es könnten rasch, auch nachträglich hingeworfene Skizzen nach Atelierbesuchern sein - eine Art von Momentaufnahmen, doch in der Tradition und mit den Posen anspruchsvoller Bildnismalerei. Dabei mochte es passieren, daß Diderot blaue Augen abbekam statt seiner braunen im wirklichen Leben.
Nach einer zweiten Italienreise Fragonards 1773/74 scheinen sich die Gewichte zu verlagern. Innig kinderreiche Genrebilder ("Glückliche Fruchtbarkeit") wechseln mit erotischen Anekdoten ("Der Riegel"), die wiederum in Sammler-Salons in einen »bizarren Kontrast« zu Bibelszenen treten. Auch die Handschrift wird schließlich ruhiger - oder ist es eine andere Hand?
Im Hause Fragonard nahm nicht nur der Sohn Alexandre-Evariste, sondern auch die 29 Jahre jüngere Schwägerin des Hausherrn, Marguerite Gerard, dessen Beruf an, und zwar als seine Schülerin. Auf Gemeinschaftsarbeiten sind beider Anteile bisweilen schwer zu trennen. Von einer Romanze jedoch, die den beiden im 19. Jahrhundert angedichtet wurde, melden Zeitgenossen nichts.
Fragonard, seit der Revolution offenbar kaum noch als Maler tätig, wohl aber bis 1797 als eifriger Amtsträger für das geplante Louvre-Museum, empfing einige Jahre vor seinem Tod 1806 innige Briefe der Schwägerin. Sie unterscheiden indessen genau zwischen flüchtiger »Liebe« und jener »Freundschaft«, die »beim Altern noch schöner« werde. Den »bon ami« beschreibt Marguerite Gerard wie eine Figur aus seiner Bilderwelt: »Wollte ich die Freude, die Fröhlichkeit, die Laune, die Zärtlichkeit, das Glück eines Kindes malen, ich nähme Dich zum Modell.«