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NEU AUS DEUTSCHLAND Die Clique

aus DER SPIEGEL 46/1966

Die Bubis vom Kino sind erwachsen: In diesem Jahr und im nächsten werden Deutschlands junge Regisseure und Jungproduzenten mindestens 25 neue Spielfilme vorführen, halb so viele wie die Kino-Papas.

Zum erstenmal nach dem Krieg brandet in die Bundesrepublik eine neue Welle, auf der auch das Publikum und die Kritik mitschwimmen. Drei Erstlinge, »Es«, »Der junge Törless« und »Schonzeit für Füchse«, füllen bereits die Kinos und die Kassen. Wo früher Versuche - etwa Herbert Veselys Böll -Film »Das Brot der frühen Jahre« - unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfanden, gilt dem jungen deutschen Film nun auf einmal nationales Interesse.

Ein Boom beginnt. Kurzfilmer machen lange Filme; Revoluzzer sind Manager geworden; Einzelgänger bilden eine Clique; und dieselben zornigen jungen Männer, die vor vier Jahren in Oberhausen gegen die Vordergründigkeit von Papas Kino protestiert hatten, machen nun mit Bundesgeld den neuen deutschen Film.

Sie sind so solidarisch wie einst: Auf den »VIII. Westdeutschen Kurzfilmtagen«, 1962 in Oberhausen, hatten sie sich gruppiert - 26 junge »Filmenthusiasten, Regisseure, Autoren, Kameramänner und Schauspieler« ("Süddeutsche Zeitung") manifestierten: »Der alte Film ist tot.« Und: »Wir glauben an den neuen.«

Sie glaubten an sich selbst - denn den neuen Film wollten sie selber machen. Ihr Start-Erfolg: Publicity. Erstmals zirkulierten öffentlich Namen, die vordem nur in Filmzirkeln bekannt waren: Alexander Kluge, Haro Senft, Edgar Reitz, Peter (später auch Ulrich und Thomas) Schamoni, Heinz Tichawsky, Hans Rolf Strobel, Hans -Jürgen Pohland, Walter Krüttner, Rob Houwer, Herbert Vesely, Boris von Borresholm, Dieter Lemmel, Franz-Josef Spieker. Gruppen-Ideologe Kluge über sich und die anderen: »Es handelt sich bei diesen Regisseuren und Produzenten im wesentlichen um Menschen, die bisher im Kurzfilmbereich tätig waren.«

Daß der Langfilm anders werden sollte, darin waren die Kurzfilmbereich-Menschen einig; wie anders, wußten sie damals nicht. Auf eine Umfrage der »Süddeutschen Zeitung« nach ihren »künstlerischen Themen« antworteten

- Kluge: »Ich würde nicht von einem einzelnen persönlichem Thema sprechen«;

- Reitz: »Mein Thema ist die Darstellung der uns umgebenden Wirklichkeit ...«;

- Senft: »Ich weiß nicht, ob es so etwas

gibt. Ich habe keines«;

- Strobel und Tichawsky: »Menschen zu zeigen in der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt«;

- Spieker: »Die Rehabilitierung des Menschen in einer funktionalisierten Umwelt«;

- Schamoni (Peter): »Das, was sich in der Wirklichkeit anmeldet. Zum Beispiel die verborgenen Blümlein, die am Wege blühen.«

Derlei blumige Vorstellungen vom neuen Film waren noch nicht realisierbar; die Oberhausener mußten erst einmal Geld besorgen.

Die Gruppe propagierte noch im Revolutionsjahr 1962 eine Stiftung »Junger deutscher Film«, gemeinnützig und steuerfrei. Der Plan: Aus einem mit Bundesgeld zu füllenden Fonds sollten bewährte Kurzfilmer (Oberhausener) bei der Arbeit am ersten und zweiten Spielfilm finanziell gefördert werden. Später sollten die Debütanten diesen kostenlosen Kredit aus den Spielfilmeinkünften an die Stiftung zurückzahlen.

Da trat der Obermedizinalrat Berthold Martin, CDU-MdB und Vorsitzender des Kulturpolitischen Bundestagsausschusses, mit einem »Martin-Plan« an die Öffentlichkeit; er entwarf ein »Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiet der deutschen Filmwirtschaft«.

Inhalt: Fünf Prozent der Großkino -Einnahmen (rund 30 Millionen Mark) sollten in einem Filmwirtschafts-Fonds gehortet und dann unter die Produzenten verteilt werden, um neue Filme mitzufinanzieren. Allerdings war diese Zuteilung an vorhergehenden Film-Erfolg gekoppelt. Die Folge: Große und bereits erfolgreiche Produzenten wären bevorteilt gewesen, Erstlingsfilme dagegen hätten nicht finanziert werden können.

»Damit wäre«, schrieb das Fachblatt »Film«, »die Filmkunst in diesem Land ein für allemal totgesagt.«

Die Oberhausener, die als Anfänger im Martin-Plan die geringsten Chancen gehabt hätten, protestierten seltsamerweise nicht gegen das geplante Gesetz (das nie erlassen wurde). Sie hatten ihre Taktik, geändert: Sie knüpften Kontakte in der leisen Lobby, zu Kultur-Funktionären und Geld-Gremien.

Den »befremdlichen Versuch, sich mit der Industrie zu arrangieren« ("Die Zeit"), kommentierte Jungfilmer Strobel: »Wir haben gelernt zu taktieren. Deshalb sollen wir nun plötzlich Konformisten sein?«

Als Hermann Höcherl, damals als Bundesinnenminister auch für Film zuständig, am 30. November 1964 verordnete, daß ein Verein »Kuratorium Junger Deutscher Film« zu gründen sei, wurde offensichtlich, wie gut die Clique taktiert hatte. Denn das Kuratorium - gegründet im Februar 1965 - ähnelte der Stiftung »Junger deutscher Film« bis in Satzungs-Sätze.

Im Oktober 1965 vergab das neue Kuratorium erstmals Förder-Finanzen - durchweg an Cliqueure: an Kluge, Reitz, Strobel-Tichawsky, Senft, Pohland und den Gruppen-Infanten Vlado Kristl. Das Kinopublikum wurde auf die geschlossene Gesellschaft im Frühjahr 1966 aufmerksam, als Ulrich Schamonis »Es« erstaufgeführt wurde (SPIEGEL 14, 1966). Den nächsten Erfolg für sich und den jungen Film hatten Volker Schloendorff in Cannes mit »Der junge Törless« (SPIEGEL 22/1966), Peter Schamoni in Berlin mit »Schonzeit für Füchse« (SPIEGEL 28/1966) und Kluge in Venedig: Sein »Abschied von Gestern« (SPIEGEL 38/1966) bekam beim Festival acht Preise. Die nächsten Oberhausen-Opera kommen demnächst in die Theater:

- »Der sanfte Lauf« (alter Titel: »Karriere") von Senft: »Die Geschichte einer Bewußtwerdung, erzählt am Beispiel eines jungen Ingenieurs«;

- »Mahlzeiten« von Reitz: »Die Geschichte von zwölf Jahren als Fülle schöner Mahlzeiten« (so der Regisseur), dargestellt am Beispiel einer alles verschlingenden Vampir-Frau;

- »Katz und Maus« von Pohland nach

der Novelle von Günter Graß;

- »Der Brief« von Kristl: Die Geschichte eines Mannes, der einen Brief mit seinem Todesurteil durch die halbe Welt trägt und schließlich exekutiert wird;

- »Kopfstand, madam!« von Christian Rischert: »Die Geschichte einer Frau, die ihren Kontakt zur Umwelt nicht mehr nur über ihren Mann beziehen wie«;

- »Wilder Reiter GmbH« von Spieker: »Die Geschichte eines Schlagersängers, der nicht singen kann und sich nach oben boxt«;

- »Mädchen« von Photograph Roger Fritz: »Die Geschichte einer jungen

Liebe, die an der Vergangenheit des Mädchens und der Unentschlossenheit des jungen Mannes scheiterte.

Die Filme von Kluge, Senft, Spieker, Pohland und Rischert werden von Constantin, Atlas und Cinema-Service vertrieben. Die Verleiher reagieren auf das plötzlich große- Angebot neuer Lichtspiele: Sie zahlen den Regisseuren weniger.

Die Gruppe, die in München bereits eine gemeinsame Pressestelle hat, berät deshalb den Plan, einen eigenen Verleih aufzumachen, der wie eine Genossenschaft organisiert sein soll. Mangel an Masse würde die Genossenschaft der Clique nicht haben. Denn schon sind 13 neue Lichtspiele projektiert; neun aus der jungen Filmer-Familie, vier von entfernt verwandten, aber gut bekannten Regisseuren. Die neun:

- »Adam II« von Jan Lenica und Boris von Borresholm, ein abendfüllender Zeichentrickfilm;

- »In fremder Sache« von Thomas Schamoni, nach einem Roman von Rolf Schroers;

- »Der graue Papst« von Horst Manfred Adloff, dem »Es«-Produzenten;

- »Esther« von Dieter Lemmel, nach dem »Sansibar«-Roman von Alfred Andersch;

- »Gänseblümchen, Gänseblümchen« von Volker Vogler, eine Gammler -Komödie;

- »Tod eines Gammlers« von Maran

Gosov, eine Gammlertragödie;

- »Michael Kohlhaas« von Volker Schloendorff, nach der Novelle von Kleist;

- »Chronik der Anna Magdalena Bach«

von Jean Marie Straub;

- ein Episoden-Film von Karl Schedereit.

Die restlichen vier haben mit ihren Plänen bereits die erste Station vor der Realisierung passiert, das »Kuratorium Junger Deutscher Film": Alle vier werden gefördert. Die Kurzfilmer Werner Herzog mit Feuerzeichen« und George Moorse mit »Kuckucksjahre«, die Theaterregisseure Rudolf Noelte mit »Das Schloß« und Johannes Schaaf mit »Tätowierung«.

Vier alte Cliquen-Mitglieder haben inzwischen mit etablierten Verleihern paktiert:

- Volker Schloendorff verfilmt »Mord und Totschlag": Eine Prostituierte bringt ihren Zuhälter um und transportiert die Leiche durch die Lande. Verleih: Constantin.

Rainer Erler verfilmt »Professor Columbus": Ein Bibliothekar erbt nach 40 Jahren einen Walfänger und sticht in See. Verleih: Atlas.

- Ulrich Schamoni ("Es") verfilmt »Alle Jahre wieder ...": Ein Mann läuft seiner Frau davon und kommt mit Freundin zurück, um Weihnachten zu feiern. Verleih: Atlas.

- Strobel und Tichawsky verfilmen »Ehescheidung«. Verleih: Atlas. Die jungen Organisatoren sind talentiert: Nachdem eines ihrer Projekte, Straubs Magdalenen-Chronik, vom Kuratorium nicht gefördert wurde, soll eine Aktien-Aktion der Zeitschrift »Filmkritik« das Geld beschaffen. Die Jungen wollen junge Aktien zu 500 und 1000 Mark das Stück an Film-Freunde verkaufen. Dividende wird gezahlt, sobald die Herstellungskosten eingespielt sind.

Die Bilanz: Acht Filme der Clique laufen demnächst an; 17 sind nicht mehr weit vom Drehbeginn. Vier Jahre nach dem Aufstand in Oberhausen haben die Kino-Bubis Ernst gemacht.

Spieker-Film »Wilder Reiter GmbH"*: Nach dem Protest gegen Papas Kino ...

... ein Boom der Bubis: Kristl-Film »Der Brief"**

Pohland-Film »Katz und Maus"*: »Sind wir Konformisten ...

Schloendorff

Tichawsky, Strobel

Kluge

Regisseure des jungen Films

... weil wir taktieren? »

* Mit Herbert Fux.

** Mit den Schamoni-Brüdern Thomas, Viktor (1. u. 2. v. l.), Ulrich und Peter (1. u. 2. v. r.) als Darsteller.

* Mit Lars Brandt.

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