WEILL-PREMIERE Die doppelte Anna
Das letzte Bühnenstück, das der Dichter Bert Brecht (1898 bis 1956) und der Komponist Kurt Weill (1900 bis 1950), weltprominente Co-Produzenten der »Dreigroschenoper« zusammen hergestellt haben, ist 27 Jahre nach seiner Pariser Premiere zum ersten Male in Deutschland aufgeführt worden: »Die sieben Todsünden«, ein »Ballett mit Gesang«.
Nachdem seit Jahren auf deutschen Bühnen, vereinzelt auch im Deutschen Fernsehen und im Hörrundfunk, eine »Weill-Renaissance« versucht wird, waren zu der postumen Brecht-Weill-Premiere so ziemlich alle ins Große Haus der Frankfurter Städtischen Bühnen gekommen, die als Theaterpraktiker, als Schallplattenproduzenten oder Kritiker mitzusprechen haben, wenn es um die Frage geht: Auferstehung oder ehrenvolles Begräbnis für einen 1933 zur Emigration aus Deutschland gezwungenen Komponisten, der in den zwanziger Jahren fast als einziger Vertreter neuer Musik volkstümlich geworden war und es bis heute geblieben ist. »Wenn in den letzten Jahren«, kommentierte die »Frankfurter Allgemeine«, »aus Tausenden von Musicboxes allabendlich Louis Armstrongs bizarre ,Mecki-Messer'-Paraphrase (aus der 'Dreigroschenoper') zu hören war, war dies der erste und letzte Berührungspunkt der ordinären Welt der Unterhaltungsmusik mit der modernen Kunst.«
Die Frankfurter Generalintendanz hatte ein übriges getan und die Erstaufführung des Songballetts »Die sieben Todsünden« zu einer Wiederbegegnung auch mit dem Opernkomponisten Weill ausgeweitet. Am Premierenabend, der mit zwei Pausen dreieinviertel Stunden dauerte, wurden ferner »Der Protagonist« ("Ein-Akt-Oper« von Georg Kaiser, Musik von Kurt Weill, uraufgeführt 1926 an der Dresdener Staatsoper) und Weills Opera buffa in einem Akt (Text von Georg Kaiser) »Der Zar läßt sich photographieren« wiederaufgeführt - zwei Werke, die freilich auch diesmal ohne rechten Erfolg beim deutschen Publikum blieben.
Für die Ausdehnung der Ballettpremiere zum Probefall einer möglichen oder unmöglichen Weill-Renaissance hatte der Frankfurter Generalintendant Harry Buckwitz zudem zwei kalendarische Gründe anzuführen. Am 2. März 1900 ist Kurt Weill in Dessau als Sohn eines Synagogenvorsängers geboren worden; am 3. April 1950 ist er in New York gestorben: sechzigster Geburtstag also und zehnter Todestag.
Ohne solchen Jubiläums-Rückhalt, der im deutschen Kulturbetrieb stets als hinreichende Legitimation notfalls auch für Mißgriffe empfunden wird, hatte sich bereits vor zwei Jahren die Hamburgische Staatsoper um eine deutsche Erstaufführung der »Sieben Todsünden« bemüht und das Ereignis angekündigt. Als der Premierentermin herankam, war das Brecht-Weill-Ballett allerdings schon wieder vom Programm verschwunden.
Zwischen den beiden Autoren, die außer ihrer berühmten »Dreigroschenoper« (1928) unter anderem auch das Heilsarmee-Musical »Happy end« (1929), die dreiaktige Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (1930) und die Schuloper »Der Jasager« (1930) zusammen geschrieben hatten, bestand eine Vereinbarung, derzufolge von den Tantiemen aus den Gemeinschaftswerken
75 Prozent an Brecht und 25 Prozent an Weill fließen sollten.
Weil diese Teilung wegen des beträchtlichen Anteils der Musik an der Publicity etwa der »Dreigroschenoper« auf die Dauer nicht gerechtfertigt schien - wie zum Beispiel auch die ungewöhnlichen Verkaufserfolge der Schallplattenindustrie mit diesen Werken beweisen (SPIEGEL 39/1959) -, soll sich, jedenfalls nach der Darstellung der Weill-Witwe Lotte Lenya, Brecht zu einer generösen Abschiedsgeste entschlossen haben, bevor sich seine Wege von denen Weills trennten: Die Auswertung des Balletts mit Gesang »Die sieben Todsünden« soll Brecht allein Kurt Weill überlassen haben.
Anläßlich des Hamburger Aufführungsplans 1958 wurden dann aber doch Ansprüche auch der Brecht-Witwe Helene Weigel, der Theaterleiterin des Ost-»Berliner Ensembles«, angemeldet. Die Hamburgische Staatsoper konnte infolgedessen keinen korrekten Aufführungsvertrag abschließen, obwohl Brechts westdeutscher Verleger, Peter Suhrkamp, als Vermittler eingeschaltet wurde.
Was dem damaligen Hamburger Opernintendanten Heinz Tietjen mißglückte, hat aber nun der Frankfurter Generalintendant Harry Buckwitz, der als Brecht-Vorkämpfer auf dem westdeutschen Theater auch bei den Ostberliner Brecht-Erben über viel persönliches Ansehen verfügt, zuwege bringen können. Es bleibt bei der herkömmlichen Teilung von Lirka 75 zu 25 zugunsten der Brecht-Erben.
Der Mainzer Musikverlag B. Schott's Söhne, der den eigentlichen »Todsünden«-Verlag, die Wiener Universal
Edition, in Deutschland vertritt, glaubt ohnehin nicht daran, daß Brecht die gesamten Tantiemen-Ansprüche an Weill abgetreten habe: »Die Regelung (der Tantiemen-Aufteilung)«, so teilte der Verlag mit, »wurde vor einiger Zeit getroffen, und zwar in vollem freundschaftlichen Einvernehmen. Sie stammt aus neuerer Zeit, nicht aus den Tagen, da das Stück entstand. Schon aus dem Grunde, daß Brecht niemals die Auswertungsrechte an Weill abgetreten hatte, kann die Behauptung nicht stimmen, daß eine angeblich geplante Hamburger Erstaufführung an Tantieme-Ansprüchen von Frau Weigel gescheitert sei.«
Wie auch immer - die Weill-Witwe Lotte Lenya kann ohnehin ihren persönlichen Anteil am finanziellen Ertrag der Frankfurter Aufführung insofern wesentlich verbessern, als sie die Hauptrolle in den »Sieben Todsünden« selber übernommen hat, die ihr von ihrem Mann auf den Leib geschrieben worden war.
So tritt Lotte Lenya, die niemals eine Gesangsausbildung bekommen hat und, wie sie glaubwürdig versichert, keine Note lesen kann - Lenya: »Wer in Wien geboren ist, kann halt singen. Das hat uns wohl Mozart beigebracht« -, zum ersten Male seit 1933 wieder auf eine deutsche Bühne, eine Art zweites Ich, die Tänzerin Karin von Aroldingen, schützend unter ihrem Mantel verborgen. Sie beginnt: »Meine Schwester und ich stammen aus Louisiana, wo die Wasser des Mississippi unter dem Mond fließen.«
Sängerin und Tänzerin verkörpern ein und dieselbe Person: das Mädchen Anna, »aufgebrochen vor vier Wochen nach den großen Städten, um das Glück zu versuchen«. Der Aufbruch ist nicht ganz freiwillig. Die doppelte Anna wurde von ihrer Kleinbürgerfamilie aus Louisiana in die Welt geschickt, um Geld zu verdienen, damit sich die Familie - Eltern und zwei Brüder - daheim am Mississippi ein Haus bauen kann.
Gezeigt wird Anna auf sieben Stationen ihres Weges. Es sind zugleich die sieben Todsünden, die Anna nicht begehen darf, will sie sich nicht selber um den Erfolg bringen: Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid.
Auf der Bühne werden beide Seelen in Annas Brust dargestellt: Anna I (Lotte Lenya) singt, ist vernünftig und reißt Anna II, die Tänzerin (Karin von Aroldingen), immer wieder vor Gefahren zurück, die ihr drohen und denen sie sich nur zu gern hingeben möchte. Anna I: »Meine Schwester ist schön, ich bin praktisch. Sie ist etwas verrückt, ich bin bei Verstand.«
Die beiden Spielfiguren haben dasselbe Herz und dasselbe Sparkassenbuch. Für Brecht dienen Anna I und das sentimentale Familienquartier, das von einer Bühnenecke aus alle Vorgänge mit scheinheiligen Maximen kommentiert ("Faulheit ist aller Laster Anfang"), als Ziel für die Sozialsatire gegen devotes Kleinbürgertum ebenso wie gegen die doppelte Moral der kapitalistischen Manager. Die Familie singt: »Der Herr erleuchte unsere Kinder, daß sie den Weg erkennen, der zum Wohlstand führt: daß sie nicht sündigen gegen die Gesetze, die da reich und glücklich machen.«
Am Ende hat es Anna I geschafft, ihre Schwester - ihr zweites Ich - vor allen Todsünden zu bewahren, genauer: davor, bei diesen Todsünden zu verweilen. Anna I: »Ach, war das schwierig, alles einzurenken.« Das Häuschen für die Familie kann gebaut werden. Aber die Mädchen haben ihre Jugend und ihr Glück drangegeben. Anna I: »Nicht wahr, Anna?« Anna II: »Ja, Anna.«
Ob die Frankfurter Aufführung auch auf den Bühnen eine Weill-Renaissance auslösen wird, wie sie in den vergangenen Jahren zur Sensation des Schallplattenmarktes wurde, steht dahin. Immerhin bekamen »Die sieben Todsünden« von den insgesamt drei Weill-Stücken des Abends den meisten Applaus. »Der Tagesspiegel« notierte: »Die aktuelle Sensation ist abgeklungen, die politische Aggressivität der Songs zielt längst nicht mehr ins Reale. Der Musiker aber und seine Musik sind geblieben.«
Und die »Frankfurter Allgemeine« prophezeite nach der Premiere: »Das bisher nur von einer Platte her bekannte Werk dürfte sich als eines der lebensfähigsten Stücke aus der fruchtbaren Kollaboration Brechts und Weills herausstellen.«
Frankfurter Szenenbild »Die sieben Todsünden"*: »Den Weg erkennen, der zum Wohlstand fuhrt«
»Todsünden«-Komponist Weill
25 zu 75
* Im Vordergrund links: Karin von Aroldingen als Anna I; ganz rechts: Lotte Lenya als Anna II.