»Die Elektronen haben keine Moral«
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, gab es in den USA annähernd 5000 private Fernsehempfänger. Als 1963 John F. Kennedy begraben wurde, saß vor 54 Millionen Bildschirmen die gesamte amerikanische Nation.
Knapp zwei Jahrzehnte liegen zwischen diesen beiden Daten. In ihnen vollzog sich, dank Television, der gründlichste und schnellste Wandel, den die Menschheit in ihrem Kommunikationswesen je erlebt hat.
1950 waren rund 15 Prozent der amerikanischen Haushalte TV-versorgt, 1960 waren es an die 90 Prozent. Gleichzeitig verbreitete sich das Fernsehen mit beispielloser Schnelligkeit über die ganze Welt -- 1955 waren 677 TV. Sender in Betrieb, davon 146 außerhalb Nordamerikas; 1964 sendeten 5100 TV-Stationen, davon 4100 außerhalb Nordamerikas.
Ein realitätserweiterndes, bewußtseinsveränderndes Medium hat sich aufgetan; es kann mit Hilfe von Synchronsatelliten Live-Bilder von der anderen Seite des Erdballs ausstrahlen und konnte am 21. Juli 1969 -- 1,3 Sekunden nach dem wirklichen Ereignis -- zeigen, wie in einer Entfernung von 382 170 Kilometern der erste Mensch den Mond betrat.
Schneller, direkter, anschaulicher, massiver, wirksamer hat nie ein Nachrichtenapparat funktioniert. Und das ist erst der Beginn. »In der kommenden Generation«, so prophezeit der amerikanische Journalist Ben H. Bagdilcian, 52, »sind durch fundamentale Erfindungen in der Nachrichtentechnik gleich große oder größere Veränderungen zu erwarten ... Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird eine neue Technologie mehr tägliche Informationen unter mehr Menschen streuen können als je zuvor in der Weltgeschichte.«
In seinem jüngst publizierten Buch »The Information Machines« hat Bagdikian beschrieben, wie diese neue Technologie heute in Amerika aussieht und wie sie morgen aussehen wird, welche Wirkungen von der modernen Informationsschwemme zu erwarten sind, welchen Segen sie verheißt und welche Gefahren sie heraufbeschwört*.
»Erfindungen«, so lehrt Bagdikian, »die eine größere Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit von Nachrichten erzeugen, haben schon immer das Gesicht der Welt verändert": Im 15. Jahrhundert förderte der neue Buchdruck mit beweglichen Lettern die Heraufkunft von Renaissance und Reformation. Um 1848 provozierten bedeutsame technische Neuerungen in ganz Europa Revolten und Revolutionen -- so die Rotationsmaschine (seit 1814), die Eisenbahn (seit 1830), der Ozeandampfer (seit 1832) und besonders der elektrische
* Bert H. Bagdikian: »The Information Machines«. Verlag Harper & Row, New York; 362 Seiten; 8,95 Dollar.
Telegraph, der Mitte der dreißiger Jahre in Funktion trat.
Dieses erste transportunabhängige Kommunikationsmittel, das mit Lichtgeschwindigkeit über weite Räume hinweg Informationen verbreiten konnte, hatte (so Bagdikian) »einen sozialen, ökonomischen und kulturellen Effekt, wie ihn ein Jahrhundert später auch das Fernsehen hervorrief«. Beide Systeme nämlich, Telegraph wie Television, bewirken vor allem eines: eine spektakuläre Beschleunigung der gesellschaftlichen Reaktionszeit unter Mißachtung der herkömmlichen Nachrichten-Kontrollapparate. Beide Systeme liefern den Autoritäten wie dem Volk die gleichen Nachrichten zur selben Zeit.
So hat das Fernsehen in den fünfziger Jahren die amerikanische Bürgerrechtsbewegung vorangetrieben und den Aufruhr in den Universitäten genährt. Das Fernsehen trug entscheidend dazu bei, daß innerhalb weniger Stunden nach der Ermordung Martin Luther Kings in über 100 amerikanischen Städten Krawalle und Aufstände losbrachen -- wobei die Polizei nicht früher instruiert war als die demonstrationswilligen Massen.
Dieses Fernsehen kann indifferente Bevölkerungsschichten und -kreise mobilisieren, es kann politische Entwicklungen anregen und beschleunigen. Und wen das Fernsehen nicht erreicht, der hat immer noch jenes andere, mittlerweile 50 Jahre alte Massenmedium, das Radio, das völlig unkontrollierbar jede noch so hermetisch abgeriegelte Staatsgrenze zu durchdringen vermag. Hunderte von westlichen Rundfunksendungen werben im Ostblock allwöchentlich für den Kapitalismus; ungestört künden sozialistische Funkanstalten im Abendland vom Segen der Weltrevolution.
In den fünfziger Jahren haben Amerikas Radiostationen Millionen von illiteraten Südstaaten-Negern mit Nachrichten von der Rassenintegration politisiert; in diesem Jahrzehnt wirkt der vom Netzstrom unabhängige Transistor-Apparat, 1947 ausgereift, ähnlich aktivierend auf die unterentwickelten Völker, die zwar nicht lesen, wohl aber hören können -- auf die Verdammten dieser Erde in Lateinamerika (24 Prozent Analphabeten). Asien (47 Prozent) und Afrika (74 Prozent).
198 000 Transistor-Geräte wurden 1954 allein in den USA verkauft; 1960 waren es 75 Millionen, 1966 runde 550 Millionen. Etwa zur gleichen Zeit stieg die Zahl der Radiosender in der Welt von 6500 auf 16000.
Es besteht kein Zweifel, daß dieses globale Kommunikationsnetz in Zukunft noch dichter und effektiver werden wird. Nachrichtensatelliten, heute schon in Gebrauch, werden nach Bagdikian in den siebziger Jahren mit größerer Kapazität operieren und optimale Verbindungen quer durch Nationen und Kulturen schaffen -- und dies nicht nur für Hörfunk und Fernsehen.
1969 machte General Electric der amerikanischen Federal Communications Commission in einer Expertise den Vorschlag, daß Briefe und Telegramme künftig via Satellit übermittelt werden sollten -- für einen Satelliten-Brief von 600 Worten, 1975 von einer Küste Amerikas zur anderen gesendet, wurde ein Porto von 33 Cent errechnet.
Die neuen elektronischen Informationsmaschinen funktionieren so wirkungsvoll, daß schon vor Jahren der kanadische Tele-Visionär Marshall McLuhan dem alten Massenmedium Presse den baldigen Tod prophezeit hat -- die »Tyrannei des Drucks«, so verhieß er voreilig, sei am Ende, die Papierkultur dem Untergang geweiht.
Tatsächlich jedoch erhält und bezahlt die amerikanische Durchschnittsfamilie 26 000 Zeitungsseiten pro Jahr. Tatsächlich wird in den Fernseh-Generationen mehr gelesen, rotiert die Zeitungsmaschinerie schneller denn je zuvor. 1960 spuckte eine bandgesteuerte Linotype noch 14 Druckzeilen in der Minute aus; 1966 konnte ein RCA-Gerat pro Minute bereits 1800 Zeilen setzen; eine CBS-Mergenthaler-Linotron schließlich, 1967 von der US-Regierungsdruckerei in Betrieb genommen, produziert 15 000 Zeilen pro Minute. Das bedeutet: Eine Bibel. für deren Druck Gutenberg einst vier Jahre brauchte, könnte heute in 77 Minuten hergestellt werden.
In den letzten Jahrzehnten erhielten die Zeitungsredaktionen den größten Teil ihrer Nachrichten über Fernschreiber, der durchschnittlich 45 Wörter in der Minute tickern konnte. Aber noch in den frühen siebzigern, versichert Bagdikian, werde ein Telex 1000 Wörter pro Minute übermitteln können, und schon wenig später soll eine Verbindung vom Computer eines Nachrichtendienstes zum Redaktions-Computer eine Übertragung von 86 000 Wörtern pro Minute ermöglichen.
Dies wiederum bedeutet, daß eine Zeitung, die diese ganze Nachrichtenflut aufnehmen wollte, täglich mehrere tausend Seiten umfassen müßte. Das freilich verhindert der Redakteur, der für Auswahl zu sorgen hat. Rund 80 Prozent der einlaufenden Nachrichten, so belehrt Bagdikian, werden gegenwärtig dem amerikanischen Leser vorenthalten; in naher Zukunft könnten es sehr wohl 99 Prozent sein. Und auch dann wäre die Lawine bedruckten Papiers, die unaufhörlich über die Menschheit hereinbricht, kaum noch erträglich.
Im Jahre 1750 erschienen in den USA zehn wissenschaftliche Zeitschriften; 1800 waren es 100, 1900 waren es 10 000, heute sind es mehr als 100 000. Zwischen 1600 und 1700 wurden auf der Welt 1,25 Millionen Buch-Neuerscheinungen publiziert; zwischen 1800 und 1900 kamen acht Millionen neue Buchtitel auf den Markt, etwa die gleiche Anzahl, die allein zwischen 1950 und 1970 produziert wurde.
Die Folge ist, daß beispielsweise die Bücherei der Yale University, wenn sie auf dem laufenden bleiben wollte, im Jahr 2040 an die 200 Millionen Bände umfassen müßte und daß ein 1900 errichtetes Bibliotheksgebäude von fünf Stockwerken bei vertikaler Ausdehnung heute 300 Stockwerke hoch wäre.
Mittlerweile wirkt eine zukunftsträchtige Mikroform-Industrie (Jahresumsatz 1970 in Amerika: 500 Millionen Dollar) den Papiermassen entgegen. 30 Millionen Dokumente übertragen Amerikas Sozialversicherungsanstalten jährlich auf Mikrofilm. Die National Cash Register Company, einst Herstellerin simpler Ladenkassen, kündigte 1969 die Produktion von Büchern in Ultramikrofiche an.
Die Mikrophotographie, die bis vor kurzem noch 60 Bilder auf ein Transparent in Handgröße reduzierte, ist inzwischen so weit entwickelt, daß sie 3200 Seiten auf ein Ultramikro-Blatt im Format von zehn mal 15 Zentimetern verkleinert -- mit dem Resultat, daß ein Mann das Äquivalent von 1000 Büchern bequem in seine Brusttasche stecken kann.
Freilich ist die zur Projektion von Mikrofilm benötigte Apparatur für den Hausgebrauch heute noch zu teuer. Aber das wird sich in Zukunft wahrscheinlich ändern. Schließlich ist auch der Magnetband-Recorder vor nicht langer Zeit sehr kostspielig gewesen. Noch 1960 wurden in den USA weniger als 300000 Tonbandgeräte zu einem durchschnittlichen Großhandelspreis von 153 Dollar verkauft. 1967 kamen 4,6 Millionen in den Handel, zu einem Durchschnittspreis von 25 Dollar.
Mit anderen Worten: Dieser Audio-Recorder ist heute ein ebenso gewöhnliches Hausgerät, wie es morgen der Video-Recorder sein wird und übermorgen das Fernseh-Telephon. Und schon übermorgen, so sagt Bagdikian voraus, wird der Computer die Kommunikationssysteme vollends revolutionieren.
Fast unbemerkt vom großen Publikum ist diese elektronische Informationsmaschine, die ja nicht nur Zahlen, sondern auch enorme Mengen gedruckten und graphischen Materials speichern kann, in den letzten anderthalb Jahrzehnten auf Hochtouren geraten. 1955 konnten sämtliche Computer der USA bei gemeinsamer Arbeit 500 000 Additionen in der Sekunde vornehmen; 1975 werden sie 80 Milliarden pro Sekunde schaffen. Die elektronische Datenverarbeitungsanlage von 1975 wird, bei vergleichbarer Kapazität, 10000 mal kleiner sein als die von 1955. Das gleiche Problem, an dem der Computer von 1955 elf Stunden lang arbeitete, wird vom Computer des Jahres 1975 in einer Sekunde gelöst sein.
»Erst jetzt«, schreibt Bagdikian, »beginnt die amerikanische Öffentlichkeit langsam zu begreifen, daß der Computer sich so massiv in ihr Leben drängt wie das Auto und das Fernsehgerät.«
So wird der Computer, schon heute für Behörden, Banken und Großfirmen unentbehrlich, bald auch für gründlichen Wandel im Zeitungsbetrieb sorgen. Bereits in nächster Zukunft werden amerikanische Journalisten mittels »Video-Terminal« ihre Artikel statt auf Papier direkt in den Computer tippen können. Der Computer wird alle einlaufenden Nachrichten speichern und auf Abruf präsentieren können. Er wird vor allem den Herstellungs- und Auslieferungsvorgang eines Blattes drastisch verkürzen und verändern:
Eine durchschnittliche amerikanische Tageszeitung von 600000 Worten wird gegenwärtig in etwa sieben Stunden hergestellt und vertrieben; um 1990 wird der Computer die gleichen 600 000 Worte in weniger als fünf Minuten produzieren und schließlich auch noch an den Mann bringen können -- genauer: Er wird die Zeitung auf elektronischem Weg ins Heim des Lesers projizieren, entweder auf einen Bildschirm, auf ein Video-Band oder in ein Xerox-ähnliches Faksimile-Gerät.
Der Leser des Jahres 1990 könnte in der Lage sein, vom Zeitungs-Computer zusätzliches Nachrichten-Material anzufordern, und er wird dann mit prompter Bedienung rechnen können: Schon Ende der sechziger Jahre konnten schnellste Computer eine Million Buchstaben pro Sekunde hervorbringen.
Diesen Fernseh-Zeitungsleser wird es freilich erst dann geben können, wenn das bisher übliche TV-System vom Kabelfernsehen verdrängt ist -- doch das, meint Bagdikian, werde schon Ende der siebziger Jahre der Fall sein.
Die amerikanische CATV (Community Antenna Television) diente ursprünglich dazu, den Fernsehempfang in entlegenen ländlichen Gebieten zu verbessern, indem sie die Programme der großen Networks durch Zentralantennen auffing und per Koaxialkabel in die Wohnungen leitete.
1968 erreichte CATV 2,8 Millionen der 56 Millionen Fernseh-Heime. Doch inzwischen haben sich auch die Großstädte Amerikas dem Kabelfernsehen geöffnet. Denn die technischen Vorzüge des neuen Kommunikationsnetzes sind klar ersichtlich: CATV ist nicht nur zuverlässiger und liefert nicht nur ein besseres Bild, sie bietet auch eine weit größere Programmauswahl als die herkömmliche Television.
Zu drahtlosem Empfang sind in einer amerikanischen Stadt zur Zeit durchschnittlich sechs Kanäle verfügbar. CATV hingegen offeriert gegenwärtig bis zu 42 Kanäle; 80 Kanäle und mehr könnten in naher Zukunft offenstehen und mit Programmen aus allen Erdteilen und allen Minderheitsgruppen ein wahrhaft ökumenisch-pluralistisches Fernsehen garantieren.
Doch CATV, deren massive Ausbreitung in Amerika von Experten für die Jahre zwischen 1978 und 1983 vorausgesagt wird, verheißt noch viel mehr -- nämlich ein reaktives Kommunikationssystem ähnlich dem Telephon, das um 1990 die Identifizierung eines jeden Empfängers ermöglichen soll.
Sie verheißt etwa die elektronische Auslieferung von Briefen und Telegrammen; die elektronische Bestellung und Übermittlung von Bildungs- und Nachrichtenmaterial aus Bibliotheken, Zeitungsredaktionen und anderen Informationszentren; die wechselseitige Verbindung von Fernseh-Heimen; die Bestellung und den Kauf von Waren auf elektronische Sicht.
Bagdikian liefert folgende Illustration: Eine Hausfrau. die einen Regenmantel kaufen möchte, läßt sich zu Hause auf dem Bildschirm von einer Firma Photos und Beschreibungen aller Regenmäntel in der gewünschten Größe und Preisklasse vorführen. Die Artikel sind wie im Versandhaus-Katalog mit Bestellnummern ausgestattet. Die Hausfrau wählt und bestellt per Telephon oder eine andere häusliche Signalvorrichtung. Der Computer der Firma nimmt die Bestellung entgegen, belastet automatisch das Bankkonto der Kundin mit dem Rechnungsbetrag und schreibt ihn gut aufs Firmenkonto.
Die per Koaxialkabel gewährleistete Zwei-Weg-Kommunikation der Zukunft, auf ein Höchstmaß beschleunigt durch elektronische Datenverarbeitungsanlagen, bietet aber noch ganz andere Aussichten. Denn sobald die elektronische Identifizierung eines jeden Fernseh-Konsumenten möglich ist, wird dieser Bürger von seinem Sessel aus zum Beispiel unmittelbar auf demoskopische Erhebungen antworten, er wird möglicherweise sogar in politischer Wahl seine Stumme abgeben können, indem er auf eine dem TV-Gerät angeschlossene Ja- oder Nein-Taste drückt.
Das sind bedenkliche Aspekte. Als 1963 die Schüsse in Dallas fielen, waren 44 Prozent der amerikanischen Bevölkerung innerhalb von 15 Minuten, 62 Prozent in 30 Minuten, 80 Prozent in 45 Minuten und 90 Prozent innerhalb einer Stunde vom Attentat auf Kennedy benachrichtigt. Das heißt: Die Kunde von diesem Mord verbreitete sich so rasch und so wirkungsvoll, daß -- so Bagdikian -- »praktisch das ganze Volk im selben Moment erregt wurde wie von einem mächtigen Adrenalinstoß«.
Was aber wird geschehen, wenn eines Tages die neuen Massenmedien ihr Publikum nicht nur mit schnellster Information erregen. sondern auch noch zu sofortiger Reaktion auf möglicherweise falsche Nachrichten, auf katastrophale Irrtümer, auf weltgefährdende Mißdeutungen animieren?
»Die Elektronen«, schreibt Bagdikian. »haben keine Moral. Sie dienen freien Menschen wie Diktatoren mit gleichem Eifer.« Und ihre Schnelligkeit und Wirkungskraft hat durchaus auch schlimme Nachteile: »Sie ermutigen eher zur Reaktion auf aktuell wichtige Ereignisse als auf große Trends.«
Im übrigen, meint Bagdikian. täte man gut daran, die ganze gewaltige Nachrichtenmaschinerie mit Skepsis zu betrachten. »In einem gewissen Sinn«. so schreibt er, »ist die ausgeklügelte Überschwemmung des Individuums mit Informationsfluten frei Haus nur das Pendant zur Ignoranz der Massen vergangener Zeiten -- mit dem bösen Unterschied. daß jetzt auch noch die Illusion umfassenden Wissens erweckt wird.«