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BUCHMESSE Die Enkel wollen es wissen

Die Leipziger Buchmesse, die diesen Donnerstag eröffnet wird, ist vor allem ein Forum für Leser. Gehaltvolle Lektüre bieten in diesem Frühjahr besonders die Versuche mehrerer Autoren, die Kriegserfahrungen der Großeltern neu aufzuarbeiten - Erinnerungen an Flucht, Vertreibung, Gewalt.
aus DER SPIEGEL 12/2003

Die Wolken sind die Stars der Stunde. Nicht nur ein Lyriker und Zeitgeist-Beobachter wie Hans Magnus Enzensberger zeigt in diesem Bücherfrühling seine Begeisterung für die lautlos schwebenden »riesenhaften Nomaden« der Lüfte (siehe Interview Seite 186). Auch die Erzählerin Tanja Dückers, 34, schaut nach oben: Die Heldin ihres neuen Romans »Himmelskörper« ist die Meteorologiestudentin Freia, die der ganz besonders seltenen Wolkenform »Cirrus Perlucidus« nachjagt, jenen durchsichtigen, hauchzarten Gebilden, die es nur in großer Höhe gibt. Davon hat sie noch in keinem Wolkenatlas eine brauchbare Aufnahme gefunden.

Der himmlische Horizont grundiert, ähnlich wie bei Enzensberger, den weit ausholenden Blick in die Tiefe der Zeit. Freia ist schwanger und fährt mit dem ICE zu einem Fachkongress, wo sie einen historischen Überblick über die unterschiedlichen Klassifikationsmodelle von Wolken vortragen will. Da sieht sie bei einem Zwischenhalt in Hannover unvermutet ihre Mutter auf einem Bahnsteig warten - sie war der Tochter schon immer ein Rätsel: Was eigentlich weiß Freia über sie? Fährt die Mutter gar zu einem heimlichen Liebhaber oder doch nur zur eigenen Mutter, Freias Großmutter?

Bald darauf ist die alte Dame tot, und die Enkelin reist an, um bei der Wohnungsauflösung zu helfen. Freia und ihre Mutter stoßen dabei auf einen mit Goldpapier beklebten Kasten, den sie gespannt öffnen: Liebesbriefe? Alte Pralinen? Nein, es kommen zum Vorschein: sieben Hitler-Bildpostkarten, drei Fotos der Nazi-Fliegerheldin Hanna Reitsch und »Mein Kampf«, ein Buch, das Freia zum ersten Mal und mit großem Unbehagen in den Händen hält.

Das Erbe der Vergangenheit, es lässt die deutschen Schriftsteller nicht los. Nun drängt sie, heftiger denn je, in den Blick der Enkelkinder: Bei Tanja Dückers wird daraus eine Familien- und Generationenrecherche, die weit in den Osten führt, bis nach Warschau und Gotenhafen, in die Zeit des Krieges, der Flucht.

Tanja Dückers steht nicht allein da. Reinhard Jirgl, 50, lässt seinen Roman »Die Unvollendeten« im Spätsommer 1945 im Sudetenland beginnen, wo die tschechischen Behörden wilde Vertreibungen der dort noch lebenden Deutschen zulassen; auch hier geht es um drei Frauengenerationen in den Zeiten des letzten Weltkriegs: Der Bogen spannt sich von dort aus bis in die unmittelbare Gegenwart.

Stephan Wackwitz, 51, nennt sein neues Buch - »Ein unsichtbares Land« - ausdrücklich einen »Familienroman« und erzählt von Großvater, Vater und Sohn, die alle über ihre Erfahrungen im 20. Jahrhundert berichten - und darüber, wie sie von Deutschland nicht loskommen können, selbst wenn es den Ältesten einst bis nach Afrika verschlagen hat.

Michael Zeller, 58, überblickt in seinem Roman »Die Reise nach Samosch« ebenfalls drei deutsche Generationen - auch hier ist es der Osten, der zum Schauplatz für Flucht, Auswanderung und schließlich neue Annäherung wird.

Wie auf Verabredung wendet sich der Blick vergessenen Landstrichen zu, europäischem Boden, der lange scheu gemieden wurde und belastet ist mit Schuld und Traumata. »Die Deutschen kommen immer nur nach Polen, um nach ihrem Krieg zu schauen«, sagt vorwurfsvoll die hübsche Polin Bascha zu Stephan, dem jungen Schriftsteller in Zellers Roman, der gern erfahren möchte, wo sein Großvater als Wehrmachtssoldat offenbar schreckliche Dinge mit ansehen musste.

Dass der Mann spät in der Nacht schreiend aus seinen Träumen erwachte, hat die Großmutter, die 1957 aus Schlesien in die Bundesrepublik gekommen ist, ihrem Enkel erzählt - und dass dieser Mann gar nicht sein leiblicher Großvater war: Die Polen haben sie damals als »anerkannte Deutsche« ziehen lassen, und sie war schon schwanger von ihrem polnischen Freund, der gegen die Kommunisten kämpfte. Sie weckt damit bei Stephan das Interesse an seinen polnischen Wurzeln.

»Heute leben wir, verstehst du«, sagt Bascha in Krakau zu ihm. »Der Krieg ist vorbei. Den gewinnt keiner mehr von uns. Ihr auch nicht, gelobt sei die Jungfrau Maria.« Da ist Stephan aus Frankfurt am Main längst verliebt, und mit seinen Reisen nach Polen schließt sich der Kreis: Den Anfang von Zellers Roman markiert ein Tagebuch aus den Jahren 1944/45, in dem eine junge Frau ihre Flucht vor der anrückenden Roten Armee gen Westen beschreibt.

Was in den vier von der Schreibart her völlig unterschiedlichen Romanen die Hauptrolle spielt und den Texten ihre besondere Spannung gibt, ist jenes über Jahrzehnte anhaltende Schweigen einer Generation, der man, als der Generation der Täter, Erfahrungen von Verlust und Leid nicht abnahm. Dieses Schweigen wird nun erst im Gespräch zwischen den Zeitzeugen und den Enkeln durchbrochen.

»Wir sind die erste Generation«, hat Tanja Dückers vor Erscheinen ihres zweiten Romans geschrieben, »die nicht mehr direkt oder durch die eigenen Eltern mit Krieg und Vertreibung konfrontiert ist.« Sie hat aber gleich angefügt, dass sie sich deswegen dieser Vergangenheit nicht etwa »unbefangen« nähere, und vorauseilend klargestellt, dass in dieser Generation, so heterogen sie auch sei, »das Unverständnis gegenüber den Gräueltaten des NS-Regimes und seinen Mitläufern wächst und nicht abnimmt«.

Der Opa ist es, der in ihrem Roman »Himmelskörper« vom Krieg erzählt - freilich, zumal wenn Frau und Tochter dabei sind, zunächst auch nur in den immer gleichen Versatzstücken, angeblich um die Enkel nicht zu verwirren, tatsächlich aber, um die eigene Verstrickung in die Nazi-Welt zu verschleiern. Was hat sich 1945 in Gotenhafen abgespielt, wo die Flüchtlinge sich sammelten, warum konnte die Großmutter sich mit der kleinen Renate auf den Schultern auf ein kleines Flüchtlingsschiff retten? Und warum musste die Nachbarin mit ihrem Kind auf die wenige Stunden nach dem Auslaufen torpedierte und gesunkene »Wilhelm Gustloff« ausweichen?

Was als Familiengeheimnis die Zeit überdauert hat (die Autorin betonte in einem Interview, dass in Wirklichkeit nicht ihre Großeltern, sondern Onkel und Tante die »Gustloff« knapp verfehlt hätten), wird erst kurz vor Schluss klar: Da steht die wolkenvernarrte Freia zusammen mit der Mutter am Pier der nun polnischen Hafenstadt. Und dort entdeckt und fotografiert sie endlich auch ihren »Cirrus Perlucidus«.

Der Roman, als Ich-Erzählung aus der Perspektive der Enkelin geschrieben, liest sich flott, leidet aber unter einem gewissen Hang zur Sentimentalität. Das gilt auch für den komplizierter strukturierten, aus diversen Zeugnissen in der ersten Person komponierten Roman von Michael Zeller, der zudem den Blick der Enkelgeneration (und ihren Tonfall) etwas mühsam konstruieren muss.

Der Erzähler Reinhard Jirgl meistert in seinem Generationenroman einer Vertriebenenfamilie die Gefahr, allzu sentimental zu werden, durch radikale stilistische Verfremdung: Die Flüchtlinge werden in Güterwagen »hin1gepfercht« - für die Silbe »ein« steht jeweils die Ziffer 1, ein »und« wird bei ihm entweder zu »&« oder »u«, Ausrufungszeichen stehen vor den Wörtern, nicht dahinter, unübliche Bindestriche lassen den Lesefluss stocken. Mit solchen orthografischen Irritationen hatte schon Arno Schmidt versucht, die stickige deutsche Gefühlsprosa zu lüften.

So kann Jirgl die Fahrt der Schwestern »Hanna u Maria«, ihrer Mutter Johanna und deren Enkeltochter Anna, die erst aus dem »ehemaligen Sudetengau« bis kurz vor München führt und dann zurück in die sowjetisch besetzte Zone, in grellen Tönen als tragische Komödie inszenieren.

Ein Freund von Anna, der, noch fast Kind, an die Ostfront geschickt worden ist, erzählt dem Mädchen von dem »Gefangenenzug« und wie »1 Etwas-in-Lumpen genau vor die Stiefel des Scharführers niederstürzte«, wie der zutrat und dem »Gefangenen-am-Boden in den Kopf« schoss: »!Das hört nich !auf : Hörte überhaupt nich mehr !auf: dieser !Alptraum ...«

Wird hier der innere Widerstand gegen das schwer Erzählbare im Schriftbild gespiegelt und gebrochen? Als Versuch, eine extreme Erfahrung in extremer Weise auszudrücken, wäre dieses Verfahren allerdings überzeugender, hätte es der Autor nicht schon in früheren Büchern, bei anderen Themen, ausprobiert. Dass Jirgl - der sich vorab auch mit einem Essay theoretisch zu den »Strategien des Verschweigens« geäußert hat - in seinem Roman, wie sein Verlag mitzuteilen weiß, »Vorkommnisse und Erfahrungen aus seiner eigenen Familiengeschichte« verarbeitet, bleibt weitgehend im Verborgenen.

Nicht so bei Stephan Wackwitz, der den Leser mit dem Etikett »Familienroman« allerdings ein wenig in die Irre führt, da er den Begriff im Sinne von Sigmund Freud versteht, der 1909 in einem Essay vom »Familienroman der Neurotiker« sprach, von den Hirngespinsten jener Menschen, die nach seiner Meinung an der nötigen »Ablösung des heranwachsenden Individuums von der Autorität der Eltern« scheitern.

Ein Roman in klassischem Verständnis ist es gerade nicht. Und auch Wackwitz hat sich schon 1998 theoretisch dazu geäußert. Das scheint üblich zu werden, auch Günter Grass hat seine Novelle »Im Krebsgang« (2002), die um den Untergang der »Gustloff« kreist, kommentierend abgesichert: Das Thema der Vertreibung, »das Flüchtlingselend von zwölf Millionen Ostdeutschen«, meinte er, habe in der Nachkriegsliteratur nur wenig Raum gefunden.

Wackwitz nun behauptet: »Unsere großen Romane mögen die soziologische Empirie der angelsächsischen Literatur vermissen lassen. Dafür, könnte man sagen, ist unsere soziologische Literatur romanhaft.« Wie sich »das unerlöste Auftauchen verdrängter Erlebnisse der Großelterngeneration im Gefühlsleben der Enkel« darstellen lässt, dafür ist »Ein unsichtbares Land« ein glanzvolles Beispiel und am Ende die eigentliche Überraschung der deutschen Literatur in diesem Frühjahr.

Wackwitz muss, um die Position des Enkels einnehmen zu können, weiter zurückgreifen als die anderen Autoren - und auch das schafft er mit großem Gewinn. Sein Großvater nämlich, Andreas Wackwitz, 1893 in einem niederschlesischen, heute polnischen Städtchen geboren, war Soldat im Ersten Weltkrieg und dann - vor 1933 - Pfarrer im oberschlesischen Anhalt, unweit jener Stadt gelegen, die später zum Symbolbegriff für den Holocaust wurde: Auschwitz.

Als alter Mann hat dieser Vorfahr seine Kinder und Enkel regelmäßig mit einer neuen Folge seines ausführlichen schriftlichen Lebensberichts beglückt - die wahrscheinlich nicht nur der spätere Schriftsteller Wackwitz zunächst ungelesen zur Seite gelegt hat. Erst als sich der Enkelsohn dem 50. Lebensjahr näherte, zog er sich mit diesen Heften zurück, las sie immer wieder durch, schrieb sie ab - und wob drum herum, in brillanter Vermischung eigener und fremder Biografie, seinen Familienroman. Daraus ist schließlich doch ein wirklicher Roman geworden - weil Wackwitz erzählen kann.

Orientiert hat sich der Autor spürbar an den Prosawerken von W. G. Sebald (1944 bis 2001) und auch an den großen »Echolot«-Collagen von Walter Kempowski, 73. Fotos aus dem Familienalbum sind sparsam über das Buch verteilt. Stephan Wackwitz selbst ist bei diesen Ausflügen ins Vergangene als Stimme aus der Gegenwart stets präsent; und ihm gelingt wie nebenbei jene »Verschränkung der Zeitläufte«, die Thomas Mann so geschätzt hat, nämlich die der persönlichen und der sachlichen Zeit, der Zeit, »in der der Erzähler sich fortbewegt«, und der, »in welcher das Erzählte sich abspielt«.

Als Jugendlicher und Student hat Wackwitz mit seinem Großvater kaum ein Wort gewechselt. Er hat eisige, schweigsame Ablehnung gespürt und wohl umgekehrt auch ausgestrahlt. Nun erst, im reiferen Alter, hat er das Gespräch mit dem Großvater gewissermaßen nachgeholt und ein so einfühlsames wie analytisches Porträt dreier Generationen daraus gemacht. Das könnte vielleicht andere Autoren zur Nachfolge reizen. VOLKER HAGE

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