Buchmesse DIE KREBSATTACKE
Es gibt einen Satz, der mich irritiert hat, einen Satz von den vielen Sätzen der letzten Wochen, und der kam ausgerechnet vom Journalisten einer Zeitung, die »Grenz-Echo« heißt und in Belgien erscheint: »Wie sehr ist Ihre Mutter noch präsent in Ihrem Alltagsleben?«
Da war es wieder, da war dieses Schwirren, der Schweiß, die Schwere, dieses Gefühl, das mit dem Buch doch eigentlich weggegangen war. Diese Traurigkeit, meiner Mutter dabei zuzusehen, wie sie schwächer und schwächer wurde und schließlich verschwand. Diese Trostlosigkeit, dabeizustehen und so wenig tun zu können. Ich wollte ihr helfen zu sterben, wie sie es wollte, selbstbewusst und stolz. Ich fühlte mich schwach, als sie lebte. Ich fühlte mich besser, als sie tot war.
Drei Jahre ist das her, ich habe darüber ein Buch geschrieben. Über meine Mutter und mich. Über den Krebs. Über das Sterben als Teil des Lebens. Das Buch trägt den Tod zwar im Titel, es geht aber eigentlich ums Sterben. Der Tod ist etwas, das anderen passiert, sterben muss jeder für sich. Der Tod beschäftigt Religion und Philosophie, er gehört ins Reich der Metaphysik. Das Sterben bleibt dem Menschen. Den Unterschied habe ich erst jetzt richtig verstanden.
Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, als mein Buch erschien. Aber nicht damit, dass mir ein Feuilletonist der »Frankfurter Allgemeinen« entgegenschleudert: »Lasst uns mit eurem Krebs in Ruhe.« Hoppla, dachte ich, und was mich an dem Satz vor allem irritierte, war die Kälte. Steckte Kalkül dahinter? Oder einfach Angst? Und wer ist dieses Wir? Das Wir der Ängstlichen? Das Wir der Gesunden? Das Wir der Mehrheit, das ausgrenzt und verletzt?
Genau gegen dieses Wir wenden sich die drei Bücher, um die es zurzeit geht in den Feuilletons. Darf man über Krebs öffentlich reden und schreiben? Die drei Bücher erzählen genau davon: vom Ich des Kranken, der um Autonomie und Selbstbestimmung ringt. Christoph Schlingensiefs Buch »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!« ist ein Aufschrei, zwischen Wut und Wehklage, und er landete damit auf der Bestsellerliste. Jürgen Leinemanns Buch »Das Leben ist der Ernstfall« ist eine Recherche in eigener Sache, beharrliche Reporterarbeit bis zuletzt, und der SPIEGEL machte daraus eine Titelgeschichte. Mein Buch »Der Tod meiner Mutter« ist eine Annäherung, ein Versuch, über den Tod hinweg ein Zwiegespräch mit meiner Mutter zu führen, und plötzlich erhielt ich Mails von Radioredakteuren, die in die Betreffzeile schrieben: »Tumorliteratur«, und die über die »Krebsattacke« sprechen wollten. Die öffentliche, nicht die private Krebsattacke.
Die Zumutung, so schien es auf einmal, war nicht die Krankheit, sondern das Reden darüber. Wie das denn? Über Dienstwagen darf unendlich diskutiert werden, über Tumormarker soll man schweigen. Ein Kommentar in der Wochenzeitung »Freitag« begann mit dem Satz: »Vielleicht hat es auch mit Auschwitz zu tun.« Der Krebs? Das Reden darüber? Es geht um drei Bücher. Worum geht es eigentlich?
Die drei Bücher verbindet, dass sie erkennbar ohne missionarischen Eifer geschrieben sind, sehr private Vorhaben, die sich der Reaktion nicht sicher sein konnten, die sie jetzt ausgelöst haben. Dass sie jetzt zur gleichen Zeit erscheinen, ist Zufall. Gibt es so etwas wie Zufall? Kein Zufall ist jedenfalls die Art, wie diese Bücher diskutiert werden. Hier wird ein Unbehagen deutlich, das über die Einzelfälle hinausweist und größer ist als der jeweilige Anlass. Ganz pathetisch gesagt: Diese drei Bücher scheinen Anlass genug zu sein, mal wieder zu klären, wer wir sind.
Meine Mutter hat diese Frage ihr Leben lang beschäftigt - und als es ans Sterben ging, schien eine Antwort darauf plötzlich nicht mehr möglich. Sie hatte ihr Leben geändert, ein-, zwei-, dreimal, sie wollte immer selbst bestimmen, wer sie ist. Aber als sie krank wurde, sah sie, wie das schwer und immer schwerer wurde. Wer kauft ein, wer wäscht den Rücken, will man das überhaupt? Sie ist daran fast verzweifelt. Sie wusste, was sie wollte: nach dem Leben ihr Sterben selbst definieren. Sie wusste aber nicht, wie das gehen sollte.
Diese Ratlosigkeit teilen alle drei Bücher, sie spiegelt sich auch in den Diskussionen. Die Krankheit Krebs ist ja eben nicht der große Gleichmacher, sie ist der große Vereinzeler, Vereinsamer, Vernichter. Wenn wir darüber reden, wer wir sind oder wer wir sein wollen, hilft es manchmal, auch daran zu denken, wer wir als Kranke sind, nicht als Gesunde. Es geht um diesen Perspektivenwechsel. Es geht darum, die Gesellschaft, die alternde, sich verändernde Gesellschaft auch vom Kranken her zu denken und zu definieren.
Das hat wenig mit dem biblischen Gebot der Nächstenliebe zu tun. Und es hat noch weniger mit einer Boulevardisierung des Sterbens zu tun. Die Bücher, über die diskutiert wird, sind alle autobiografische Erzählungen, sie machen das Private öffentlich. Weil das aber auch bei RTL oder in der »Bild«-Zeitung geschieht, die immer häufiger neben dem obligaten Busen den aktuellsten Fall von Brustkrebs auf Seite eins zeigt, war der einfache Schluss mancher Kommentare: Auch diese Bücher zeugen vom Verfall der Sitten, scheuen sich nicht, das Intimste zu entblößen.
Ja, was denn sonst, könnte man einerseits antworten. Die Banalität, vor der hier gewarnt wird, die spüren doch vor allem die Betroffenen. Es ist die Banalität der Infusionen, der Schmerzen, der Angst. Was wissen denn die, die da so klug daherreden, wie das mit dem Sterben geht? Wie es sich anfühlt, in der Dramaturgie des Todes gefangen zu sein, zwischen Hoffen und Bangen, im schrecklichen Rhythmus der Tumormarker? Und wie wiederum gerade das private Erleben, wenn es genau geschildert wird, für andere die Möglichkeit bietet, die jeweils eigene Geschichte, das eigene Leiden zu ergründen, dafür Worte zu finden, sich an einer fremden Geschichte entlang wieder zurück ins eigene Leben zu hangeln. Je präziser und privater diese Geschichte ist, desto zugänglicher wird sie für andere.
Boulevard ist keine Frage des Inhalts, sondern der Form. Vom Sterben zu erzählen bedeutet, dass man von sich erzählt, sonst wird es verdruckst oder verlogen. Susan Sontags Buch »Krankheit als Metapher« wird in fast allen Zeitungstexten zu dem Thema und fast immer auch anerkennend erwähnt. Es ist ein distanziertes, bildungsreiches Buch, aber Sontag verschließt sich den Ängsten, die mit ihrem eigenen Krebs zu tun hatten. Unbeantwortet lässt sie die Frage, wie man von der Krankheit, vom Sterben erzählt. Sie bietet viel Theorie, wenig Trost.
Anders gesagt: Nicht zu viel Privates ist das Problem, sondern eine oberflächliche, falsche Art von Privatheit in den Medien. Es scheint so, dass gerade die Vorstellung, wir lebten in besonders tabulosen Zeiten, dafür sorgt, neue Tabus zu errichten. Über Krankheit soll nicht öffentlich gesprochen werden? Das wäre das Gegenteil von Aufklärung, die gerade die Öffentlichkeit sucht und braucht, und eine neue Art von biedermeierlicher Abgeschiedenheit.
Es gibt aber noch einen anderen Punkt, eine vielleicht speziell deutsche Perspektive, im Unterschied etwa zur amerikanischen oder englischen, wo das autobiografische Erzählen viel selbstverständlicher verstanden wird - eben als Teil einer Öffentlichkeit, die sich nicht gegen das Private stellt, sondern wo sich im Gegenteil das Wir aus den gesammelten Ichs der Bürger zusammensetzt. Öffentlichkeit ist Demokratie, könnte man verkürzt sagen - und sich dann fragen, woher dieser negative Unterton kommt, der so oft mitschwingt, wenn bei uns von Öffentlichkeit die Rede ist.
Und warum diese Furcht vor Intimität? Warum diese Scheu vor dem subjektiven Blick? Und warum schaut man beim Sterben lieber aufs Jenseits und verbaut sich das Bild aufs Leben? In der »Zeit« war ein Text, in dem alle drei Bücher besprochen wurden, von denen hier die Rede ist, der den Titel trug: »Metaphysik des Tumors« - und damit gerade den wesentlichen Punkt verfehlte, worum es den glaubensskeptischen Autoren ging. Eben nicht um die Metaphysik, sondern um die Befreiung davon, um die Alltäglichkeit des Sterbens, die hier beschrieben wird. Nicht das Jenseits, wo die Deutungen wohnen, sondern das Diesseits, wo die Demütigungen warten. Die einen fragen nach Sinn, die anderen fügen sich den Schmerzen oder kämpfen dagegen an.
Diese drei Bücher entideologisieren das Reden über den Tod, oder besser: über das Sterben. Das steckt hinter diesem Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, Erzählungen anzubieten fürs Sterben. Krebs ist wie ein Prisma, durch das man das Leben jeweils anders und manchmal sogar neu sieht. Die Erzählung vom Krebs wiederum ist so etwas wie ein Code, ein Schlüssel, mit dem sich Menschen öffnen lassen.
Da ist der 35-jährige Bekannte mit seinen zwei Kindern und der bezaubernden Frau, der immer so viel lacht und immer einen Witz erzählen kann, und als er bei meiner Lesung ist, signiere ich das Buch und schreibe ihm hinein, dass die mit den lustigen Worten oft die traurigsten Menschen sind. Ich weiß nicht, wieso ich das hineinschreibe. Am nächsten Tag schickt er eine Mail, er sitzt gerade beim Onkologen und wartet auf die Testergebnisse.
Da ist die selbstbewusste Fernsehredakteurin, die so vorsichtige, kluge Fragen stellt, als wisse sie, wie viel da kaputtgehen kann. Dann muss ich für die Kamera durchs Laub gehen, es braucht Bilder für so eine Geschichte, Herbst ist da eine gute Jahreszeit. Und am Ende des Interviews sagt die Frau, natürlich, fast schon natürlich, dass sie selbst vor vier Jahren Krebs hatte. Hatte? Ihr Blick gleitet ab und bleibt nirgends haften.
Da ist der Freund, der das Buch nicht lesen will, weil es ihm zu nahegeht, und der dann doch zur Lesung erscheint; die Kollegin, die von einer Freundin erzählt, die wiederum jemanden kennt, die gerade wegen Brustkrebs operiert wurde; und die Buchhändlerin, die einfach »Danke« sagt. Jeder stirbt für sich allein? Krebs trennt? Nur, wenn man es zulässt.
Natürlich hat die Krankheit auch gesellschaftliche Dimensionen und für den, der will, auch solche, die mit dem Glauben und dem Jenseits und der Frage nach dem Sinn zu tun haben. Und natürlich werden all diese Bücher und die, die noch kommen, vor dem Hintergrund des demografischen Wandels gelesen. Vor der Folie der ewigen 68er, die erst die Liebe und das Leben definierten und nun das Sterben. Vor den Veränderungen, die die Verfügbarkeit und Manipulierbarkeit des Lebens durch die Gentechnik bedeuten. Vor den Praktiken einer neuen Gesellschaftsdoktrin namens Gesundheit. Vor der tückischen Mechanik der Krankenhausmedizin.
Aber das Reden über diese anderen Dimensionen führt an Grenzen und im Zweifelsfall in feuilletonistische Verstiegenheit. Es sind die offensichtlich schwierigen Fragen, auf die man leichter eine Antwort findet. Es sind die scheinbar einfachen Fragen, die so unendlich tief und kompliziert sind.
Was hatte der belgische Journalist gefragt? Wie oft ich an meine Mutter denke? Dauernd, nie. Wie präsent sie ist in meinem Leben? Ich weiß es nicht.
Georg Diez, 40, ist Autor des »Süddeutsche Zeitung Magazins«.