Die Kritik riecht Blut und greift an
Es fing grotesk an: Schon während der Presse-Tage der Biennale in Venedig kursierte dort der Beitrag von Willi Bongard im »Stern«.
Die Sicherheit, mit der Bongard die Malerei von Georg Baselitz und Anselm Kiefer (und auch die von Markus Lüpertz) abfertigt, ist von keinerlei sachlicher Kenntnis getrübt. Slogans wie der von den »Neuen Wilden« versperren ihm die Sicht und erschweren ihm das Denken außerordentlich.
Wie sonst könnte Bongard Kiefers Bilder mit dem Thema »Noch ist Polen nicht verloren« unter »martialisches Deutschtum« einordnen -- diese leidenschaftlichen Bilder, in denen der ungleiche Kampf der polnischen Kavallerie gegen deutsche Panzer zur Allegorie für den Kampf einer humanistischen Malerei wird? Gesehen hat Bongard diese Bilder, die bisher nur einmal, 1978 in der Berner Kunsthalle, gezeigt worden sind, offenbar nicht. Er hat nicht versucht, zu prüfen, was er nicht schon liebte.
Die Story von Herrn Bongard ist leider symptomatisch für die Beiträge der sogenannten seriösen deutschen Kritik in der Woche nach der Biennale-Eröffnung. Diese Kritik riecht Blut und greift an.
In solchen Fällen ist die Komplott-Theorie beliebt: Peter Iden in der »Frankfurter Rundschau« beklagt den »Druck einer schmalen, aber einflußreichen Gruppe von Förderern«. So einfach ist das. Diesmal hat der arme Klaus Gallwitz nicht »geschickt disponiert« (Iden), sondern die Expressionisten und ihre bösen Freunde haben ihn zu einer »teutschen« (Werner Spies in der »FAZ") Inszenierung oder, laut Iden, »Über-Inszenierung« verführt. Daß er die Künstler seit langem kennt und ausgestellt hat, erwähnt keiner.
In den verschiedenen Kritiken wechseln die Worte, aber der Ton bleibt derselbe, und dieser Ton ist mir unerträglich, weil er im Grunde einen Mangel an jeglicher Information anzeigt.
Baselitz malt schon seit 1958 und hat ein kohärentes Werk aufgebaut, in dem S.198 die Umkehrung des Motivs keineswegs einen Trick darstellt, »wofür er berühmt wurde« (Petra Kipphoff in der »Zeit"), sondern ein genau durchdachtes Gestaltungsmittel. Und Kiefer ist seit 1969 auf der deutschen Kunstzene glänzend präsent.
Trotzdem gibt es in der deutschen Kritik bisher kaum eine seriöse Auseinandersetzung mit dieser Malerei. Eine buchstäblich oberflächliche Wahrnehmung hat ihr das tödliche Stichwort »Expressionismus« aufgeklebt. Die Möglichkeit, daß es sich um etwas ganz anderes handeln könnte, etwa um eine distanzierte und konstruierte Malerei, die allerdings materiell und thematisch anders ist als die Malerei von Gotthard Graubner oder Gerhard Richter, aber trotzdem zeitgenössisch -- diese Möglichkeit wird weiter nicht diskutiert.
Das Ziel ist Ablehnung, entschieden bei Peter Iden, Petra Kipphoff und Rudolf Krämer-Badoni ("Die Welt"), etwas behutsamer bei Laszlo Glozer ("Süddeutsche Zeitung") und Werner Spies. Eine solche Ablehnung ist aber sinnlos und eines Kritikers unwürdig. Kritik sollte durch sachliche Information und möglichst klare Argumente eine Diskussion einleiten.
Statt dessen werden hier zwei Künstler tendenziös verdächtigt. Sie repräsentieren angeblich »deutschen Größenwahn« und deutsche Mystifikation, ja, Iden erlaubt sich die Formulierung, die Geste der Figur von Baselitz sei »eine Art von Hitlergruß«. Er sollte sich noch einmal die alten Photos anschauen.
Das alles geht ohne Argumente ab, oder nur mit langweiligen: »technisch jämmerlich«, »hilflos«, »Platitüden«. Solche Formeln haben Kritiker immer gegen die Künstler vorgebracht, und sie haben nie etwas besagt.
Noch schlimmer: Die Kritik macht sich zum Vormund der Kunst. Baselitz, so wird ihm zugeredet, hätte doch klüger sein und nicht gerade seine erste Skulptur in Venedig ausstellen sollen. Eine solche Herablassung ist beleidigend für den Künstler, für seine Bereitschaft zu Experiment und Risiko -genauso beleidigend wie die Unterstellung, Kiefer jongliere nur mit seinen Köpfen und Namen.
Man hätte hoffen sollen, die ideologischen Kämpfe, mit denen die großartige Nachkriegskunst aufgewachsen ist und die immer etwas so Unwichtiges wie Stil betrafen, seien endlich einmal vorbei. Wenn wir uns heute, 1980, besinnen, um die Leistungen der vergangenen Jahre zu überprüfen und über die Zukunft zu spekulieren (dieses Jahr in Venedig, 1981 in Köln, 1982 in Kassel), brauchen wir eine ungeheure Ruhe, eine klare Heiterkeit.
Es geht nicht um Graubner oder Baselitz, sondern um die präzise Leistung eines jeden. Für diese Prüfung ist schließlich die Biennale unwichtig. Baselitz, Graubner, Kiefer oder wen man sonst noch als Venedig-würdig benennen könnte (Knoebel, Walther, Immendorff, Lüpertz, Polke), ihre Qualität ist von solchen Ausstellungen unabhängig.
Eine Biennale allein darf kein Grund zu frontaler Ablehnung sein. Wer nur das vom Werk eines Künstlers kennt, was dort gezeigt wird, oder kaum mehr, wer nicht die -- meist wenigen -- Einzelausstellungen gründlich studiert hat, ist zu einem scharfen Urteil nicht qualifiziert.