AUTOREN Die Kunst des Verlierens
Freyermuth, 51, ist Professor für Ästhetik und Kommunikation in Köln und Verfasser des Buches »,Das war's'. Letzte Worte mit Charles Bukowski« (1996).
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Es gibt Generationen, die wollen nicht gehen. Wer in den Sechzigern und Siebzigern - wie man doppeldeutig sagte - »voll« dabei war, irrlichtert heute in der Regel als Zombie durch die Medien. Seit Jahren Gehirntote plappern auf allen Kanälen. Die unermüdlichste Sorte schlurft weiterhin kleidungsfrei oder wenigstens barfuß durch Hollywood. Nur bei Charles »Hank« Bukowski läuft alles anders. Und zwar besser.
Kaum ein Jahr vergeht, ohne dass ein Buch von ihm erscheint, Lyrikbände vor allem. Die neueste Lieferung ist gerade eingetroffen, mit dem schönen Titel: »Come On In! - New Poems«. Kaum ein anderer zeitgenössischer Dichter gebietet über solch konstante Schaffenskraft. Bukowski freilich ruht seit Beginn seiner produktiven Altersperiode zwischen zwei Pinien unter einer schlichten Grabplatte.
Zu Lebzeiten hackte er dafür Nacht für Nacht mehr in die Maschine, als der Markt verdauen konnte. Der akkumulierte Textberg wird nun vom Verleger John Martin abpubliziert.
Dazu kommt ein anschwellender Strom von wissenschaftlichen Biografien und populären Erinnerungsbüchern, bis hin zum viel Cunnilinguistisches enthüllenden Manuskript der Ex-Geliebten Linda King, das gerade bei Verlagen kursiert. Veröffentlicht wurde auch schon, was das FBI über bukowskistische Subversionen sammelte. Und dann ist da Bukowski, der
Film. Matt Dillon spielt in »Factotum« des Dichters jugendliches Alter Ego, und er macht es nicht schlecht, nur eben viel zu hübsch.
Unverfälschten Genuss verspricht dagegen Neues vom untoten Meister selbst: »Schreie vom Balkon"*; die ziegelsteinschwere Sammlung von Briefen aus über 30 Jahren bietet den Rohstoff, aus dem einst der Bukowski-Mythos erwuchs: Bars und Betten, Sex und Verstopfung, Gewalt und Glücksspiel.
Bukowski, dem Briefe »ein gutes Training für die schlaff gewordene Seele« waren, zeigt sich in ihnen als präziser Beobachter, belesen und beleidigend, amüsant, oft zum Schreien komisch. Genau so eben, wie er war, wenn man ihn traf, bis in jene Tage hinein, als keine Chemotherapie die Leukämie mehr stoppen konnte.
Damals im August 1993, am Tag vor seinem 73. Geburtstag, als ich ihn zum letzten Mal sah, wirkte er noch müder als sonst, lebensmüde. Das bullige, in langen Nächten verwitterte Gesicht lächelte schmal, der Händedruck war kindersanft. Unser bei-
der Freund, der Fotograf Michael Montfort, umkreiste uns mit der Kamera und schoss Erinnerungsbilder, während wir, jeder einen Strohhut auf dem Kopf, uns neben den Pool in die kalifornische Sonne setzten und über das fast abgeschlossene Werk sprachen, zu dem Bukowskis Leben geworden war.
»Ich hatte nie viel Glück. Bis ich 50 wurde«, sagte er, mit einer Geste durch den blühenden Garten fahrend. »Da begann meine gute Phase.« Er lachte schadenfreudig auf. »Hat ziemlich lange gehalten.«
Gutes wie Schlechtes, Ungewöhnliches wie Gewöhnlichstes: Alles eben, was dem Sohn einer deutschen Mutter und eines amerikanischen GIs zwischen der Geburt am Andernacher Rheinufer und den kalifornischen Altersjahren zustieß, verwandelte er in Literatur. Sechs Romane, unzählige Kurzgeschichten und Gedichte erzählen vom existentiellen Aufbäumen - gegen die Tyrannei von Familie und Schule, gegen Armut und Elend in der industriellen Gesellschaft, gegen die Zwänge des Lebens selbst, den unaufhaltsamen Niedergang in Alter und Tod. Er zelebrierte eine seltene Kunst - die Kunst des Verlierens.
Kindheit und Jugend erlebte er, vom Vater misshandelt und von Akne-Furunkeln entstellt, als Dauerdemütigung. Seine selbstzerstörerischen Fluchten in beliebige Sex- und Gewaltakte mündeten in den Zusammenbruch: Als Alkoholiker landete er mit Magenblutungen auf der Intensivstation. Der Schock, das Leben mit Mitte 30 beinahe verloren zu haben, bevor es irgendwelche Früchte trug, zwang ihn endlich an die Schreibmaschine. Auf der literarischen Bühne erschien Bukowski so verspätet. Gedicht für Gedicht erschrieb er sich mühsam in nicht zahlenden Underground-Blättern eine Reputation als hartgesottener Reporter roher, meist räudiger Alltagsszenen. 1960 erschien in winziger Auflage der erste Lyrikband, Anfang einer Kette von über 50 Büchern.
Der Preis für solches Überleben waren anderthalb Jahrzehnte Maloche, als Briefträger und Postsortierer im Los Angeles Terminal Annex Post Office. Diese und andere Midlife-Qualen dokumentiert sein erster Roman »Der Mann mit der Ledertasche«.
Dessen Erfolg markierte die Wende: Ausstieg aus der Lohnsklavenexistenz und Aufstieg zu einem der populärsten Schriftsteller seiner Generation. »Als Nächstes die Titelseite von ,Time Magazine'«, spottete der plötzlich Gefeierte 1975, »und enden wird es damit, dass ich die Beine um die Bettpfosten verknote und meinen eigenen Schwanz lutsche.«
Star-Status gewann er zunächst in Deutschland, dann in anderen Teilen Europas. Auf dem Höhepunkt seines außeramerikanischen Ruhms, vor ziemlich genau 20 Jahren und kurz bevor Barbet Schroeders Bukowski-Film »Barfly« den schmutzigen Alten auch in den USA zum, wenn nicht berühmtesten, so doch in Buchläden meistgeklauten Autor machte, traf ich ihn zum ersten Mal.
Jenseits der Fensterfront des alten Spago, einem beliebten Hollywood-Treff, glitzerte Los Angeles kalt und bunt. Diesseits der Scheiben, die Restaurant und Realität trennten, saßen strahlende Götter, George Hamilton etwa oder Arnold Schwarzenegger. Alles schien von faltenloser Makellosigkeit - bis Bukowski den Raum betrat, ein Brocken von Mensch, nicht rank und schlank, sondern bullig und bierbäuchig, das Gesicht nicht glatt, sondern tief vernarbt und von hinterhältiger Intelligenz.
Wir sprachen ein wenig über irgendetwas. Bis wir von einem prominenten Todesfall hörten. »Auf das Arschloch«, hob
Hank gutgelaunt sein Glas. »Jetzt kann er kaum noch Schaden anrichten. Wenn wir das Atmen erst mal eingestellt haben, reicht's gerade mal zu ein bisschen Umweltverschmutzung, und das war's dann.« Später, viele Gläser später wollte er Schwarzenegger verprügeln.
Immer schon drohte so Bukowski, der eher schüchterne Mensch, hinter einem subkulturellen Software-Programm zu verschwinden, einer Art »Bukowski 2.0«, einem mythischen Mischwesen aus Leben und Literatur. Gegenwärtig nun, über ein Jahrzehnt nach seinem Tod 1994, erleben wir den nächsten radikalen Upgrade-Versuch - »Bukowski 3.0«, das multimediale Markenprodukt. Ein wucherndes Sammelsurium aus Biografien, Dokumentationen und Verfilmungen, aus Büchern, CDs und DVDs verbreitet seine Botschaft: Es gibt ein Leben jenseits der Wohlständigkeit.
In Deutschland scheint Bukowski, der Dichter der Gosse, daher der Dichter der Stunde. Auf Kleinkunstbühnen und in Buchläden häufen sich Revuen und Lesungen, nach längerer Verbannung taucht der einst so Berüchtigte, dem selbst die »Bild«-Zeitung 1994 zum Ableben einen Nachruf schenkte, regelmäßig wieder in Kulturradio und Kulturfernsehen auf, und Harald Schmidt erzählt in seinen gerade erschienenen fiktiven Tagebüchern »Mulatten in gelben Sesseln«, wie es wirklich war, als Bukowskis Privatsekretär.
Während die Armut so von den schlechteren in die besseren Viertel kriecht, rückt auch Bukowski uns wieder näher. »Eine Rezession ist, wenn deine Freunde arbeitslos sind; eine Depression ist angesagt, wenn es dich selber erwischt.« Die Hoffnungen der Ausgeschlossenen, der älteren Armen wie der meisten Jungen, schwinden angesichts einer großen Koalition der Arrivierten und Privilegierten. Die Abkehr des begabten Verlierers von allem Bürgerlichen kann so zum Vorbild werden.
Wie Charles Chaplin auf dem Höhepunkt der Industrialisierung mit dem vorindustriell-arbeitsscheuen Tramp eine Traumfigur misslingender Anpassung und rückwärtsgewandter Rebellion erschuf, in der die Opfer und Verlierer des Fortschritts sich wiedererkannten, so erfand auch Charles Bukowski sich selbst als asozialen Antipoden der Epoche: als postmodernen Penner und Verlebemann.
Vom fortgeschrittenen Kalifornien aus verachtete der Borderline-Barde die alte Verordnung der Dinge schon seit Jahrzehnten, bevor der Niedergang des Industrialismus auch Europa erreichte. Alle, die sich heute weiter an die lange obsolete Bürokratur klammern, können daher von ihm immer noch Zweierlei lernen.
Erstens das Loslassen: den rücksichtslosen Abschied von unmenschlichen Idealen wie dem lebenslänglichen Arbeitsplatz. »Man bekommt als Sklave nie so viel, dass
man sich davon freimachen kann; nur gerade so viel, dass man überlebt und am nächsten Morgen wiederkommen muss. Ich konnte das damals ohne weiteres sehen. Warum nicht auch die anderen? Ich sagte mir: Da kann ich ja gleich auf Parkbänken übernachten.«
Und zweitens das Zupacken, Selbstfindung und Selbstdisziplin: die Einsicht in die eigene Einmaligkeit und die daraus resultierende Notwendigkeit, begrenzte Lebenszeit nicht zu vergeuden, sondern für individuelle Ziele - und damit für das Fortkommen der Spezies - zu nutzen. »Keiner wird je mit Hilfe des Staats zu etwas kommen. Jeder muss es aus eigener Kraft und eigenem Verstand und nach eigenen Gesetzen machen.«
Nicht, dass dergleichen stets oder gar unmittelbar von Erfolg und Anerkennung begleitet wäre: »Trotz allem, was ich geschrieben habe, genieße ich ungefähr das Ansehen eines Mönchs, der in einer Kohlengrube eine Graugans vergewaltigt.«
Als Mensch wie als subkulturelle Marke steht Bukowski so vor allem für eins: Generalopposition zu versteinerten Verhältnissen. »Wenn ich die Wahl hatte, durch ein Tor zu gehen oder eine Mauer zu rammen, habe ich jedes Mal die Mauer gerammt.« Und: »Meine Revolution ist eine Ein-Mann-Revolution, und so gut wie jeder ist der Feind.«
Schlägt man die letzte der 560 Seiten »Schreie vom Balkon« um, hat man nichts weniger gelesen als einen faszinierenden Briefroman. Ihn verdanken wir Carl Weissner, Hanks Herausgeber, Übersetzer und Freund. Genießen lässt sich, was er aus diversen US-Ausgaben und bislang unveröffentlichtem Material montierte, als originäres Gegenstück zu allen Marketing-Anstrengungen.
Auf Plastiktüten und T-Shirts allerdings prangte Bukowskis Mount-Rushmore-Knitterkopf schon zu Lebzeiten. Und auch literarisch legte der Alte selbst das Fundament für den Upgrade vom Mythos zur Marke.
Zu Recht wird sein zuverlässiges Schaffen mit Fortsetzungsserien verglichen, wie man sie aus der Genre-Produktion kennt, von Western-Romanen, Comic-Büchern, Hollywood-Blockbustern oder TV-Serien. Sein ästhetisches Ziel, sagte Bukowski beim letzten Gespräch, lasse sich in drei Buchstaben beschreiben: F-U-N. Viel und dauerhaften Spaß.
Vielleicht also würde ihn die aktuelle Mutation vom literarischen Mythos zur subkulturellen Multimedia-Marke amüsieren? Was aus ihm einmal werden könnte, scheint er jedenfalls geahnt zu haben. »Ich glaube, was ich schreibe, ist ziemlich starker Stoff«, hört man Hank auf einer alten Aufnahme halb spotten, halb kokettieren: »Aber ich glaube auch, wenn ich erst mal tot bin, werden sie mich vorführen. Ich werde richtig entdeckt werden, versteht ihr: Bukowski! Es wird zum Kotzen sein.«
* Charles Bukowski: »Schreie vom Balkon - Briefe 1958 - 1994«. Hrsg. von Seamus Cooney. Deutsch von Carl Weissner. Gingko Press, Hamburg; 560 Seiten; 24,90 Euro.