ARCHITEKTUR »Die Leute brauchen Schönheit«
Die Publizistin Stephan, 33, lebte zwei Jahre in Rio de Janeiro und veröffentlichte »Brasília Stories - Leben in einer neuen Stadt« (Blumenbar Verlag).
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Wenn Oscar Niemeyer morgens in sein Büro kommt, erfährt man viel über seine innere Haltung. Der Fahrer hilft ihm aus dem dunklen Mercedes, dann geht er sehr langsam und voller Würde den Korridor entlang, der zum Aufzug führt. Ein fast 100-Jähriger, an dem nichts Altes ist, dessen Wille noch immer grenzenlos erscheint.
Die Architektur-Legende Niemeyer ist der alleinige Kopf eines Büros, das ständig große Aufträge erhält. Seine Entwürfe werden immer kühner: ein Museum, das wie ein gigantisches Auge aussieht. Eine Kapelle, die im Meer steht. Ein Platz, über den sich ein Betonbogen von 80 Metern Weite spannt. Noch immer, auch in diesem hohen Alter, folgt er mit tiefer Überzeugung seinen Vorstellungen. Auch deshalb ist Oscar Niemeyer einer der größten Architekten der Welt.
In seinem Büro an der Copacabana ist er allgegenwärtig, auch wenn er gar nicht zu sehen ist. Die meiste Zeit sitzt Niemeyer in seiner kleinen, fensterlosen Kammer, umrankt von Büchern wie von einer hohen Hecke. Seine Wünsche sind bescheiden: Zigarillos, Kaffee, Modelle, Texte. Vera, langjährige Sekretärin und neue Ehefrau, meldet sich mit Stolz in der Stimme am Telefon. Assistent Aurélio bewegt sich leise wie ein Butler durch das Büro; Niemeyer zahlt ihm das Architekturstudium, dafür muss Aurélio alle zwei Monate ein literarisches Werk lesen und seinem Chef eine kurze Zusammenfassung schreiben.
Es sind viele Welten, die hier zusammenfließen. Alle Energie geht von dem alten Mann im Kämmerchen aus. Dort steht ein Modell der Praça do Povo (Platz des Volkes) in Brasília, und Niemeyer erzählt stolz wie ein kleiner Junge, dass man mit der Betonkuppel ein ganzes Fußballfeld bedecken könnte.
In Brasilien ist der Architekt ein lebender Mythos. Präsident Lula, der ihn vor kurzem besuchte, hat für 2008 ein Oscar-Niemeyer-Jahr ausgerufen. In der Dezember-Ausgabe der Kulturzeitschrift »Bravo!« bekennt die Autorin der Niemeyer-Titelgeschichte, sie habe weinen müssen, als sie kürzlich wieder sein ehemaliges Wohnhaus besuchte, die Casa das Canoas schmiege sich »wie eine humane Geste« in die Natur.
In der Kunstwelt ist Niemeyer seit langem ein Liebling. Terry Richardson hat gerade Modefotos mit seinen Gebäuden als Kulisse veröffentlicht, Zaha Hadid bezieht sich in ihren Werken auf ihn. Alle wissen: Nie wieder wird die Zukunft so gut aussehen wie mit den Bauten des Brasilianers.
Die Ära seiner Architektur begann in den vierziger Jahren in Pampulha, wo Niemeyer einen zu dieser Zeit revolutionären Stil kreierte. Le Corbusier huldigte dem rechten Winkel, Niemeyer nahm die Kurve. Seine Kirche schwang sich wie eine gigantische Skateboardbahn durch die Landschaft. Später wurde der Architekt für die Formel »Kurve gleich Frau gleich Berge« berühmt. »Oscar denkt an Höheres oder Niederes, aber niemals einfach geradeaus«, sagt einer seiner engsten Freunde, der Physiker Ubirajara Brito, 73.
Das Höchste erwartete Niemeyer 1956, als er den Auftrag seines Lebens bekam. In einer menschenleeren Landschaft, im roten Staub des Cerrado, wurde die neue Hauptstadt Brasília in dreieinhalb Jahren gebaut.
Fast stoisch wiederholt Oscar Niemeyer immer wieder: »Sie können die Stadt mögen oder nicht, aber Sie werden nicht behaupten können, so etwas schon mal gesehen zu haben.«
Mit seinen skulpturalen Bauten erschuf er zum ersten Mal eine Identität für sein riesiges Land. Gäbe es ihn nicht, sähe Brasilien anders aus. Der Architekt träumte von einer gerechteren Welt, in den Wohnblöcken sollte Arm neben Reich leben. Noch heute hofft Niemeyer auf die große Revolution. Beim Mittagessen erhebt er das Weinglas gern »gegen Bush« und schwärmt von seinem Freund Fidel Castro: »Die Revolution war heroisch, die Kubaner tragen sie in ihren Herzen.«
Niemeyer hat noch viel vor: »Ich mache dieselben Sachen, die ich mit 60 gemacht habe, also bin ich nur 60«, sagt er. »Man muss seinen Geist wachhalten, arbeiten, anderen die Hände reichen, lachen, weinen, das Leben intensiv auskosten. Es dauert
nur einen Hauch.« Der Tod ist für den Atheisten Niemeyer das Ende, sein Näherrücken wirkt als unsichtbarer Antrieb. »Er will vom Tod nichts wissen«, so Brito. »Oscar glaubt nicht, dass er sterben wird.«
Früher entwarf er zeichnend. Heute sieht er schlecht und hat seinen Schaffensprozess neu erfunden. Sobald ein neues Projekt ansteht, zieht er sich wortlos zurück. »Die Architektur ist im Kopf«, verkündet er. Niemeyer stellt sich den Bau so lange in seinen Gedanken vor, bis er glaubt, dass er die Lösung gefunden hat. Erst dann greift er zum Stift und bringt seine Idee in wenigen Strichen aufs Papier.
Der Patriarch steht einer großen Familie vor, in der alle zu ihm aufschauen. Wie sehr er seine Nachkommen geprägt hat, sieht man bei einem Besuch im Fotostudio seines Enkels Kadu Niemeyer, 53, im Zentrum Rios. Von der Terrasse im 12. Stock fällt der Blick über das Häusergewirr direkt auf Niemeyers Soldatendenkmal am Meer. Auf die Wände im weißen Büro sind Frauen gezeichnet, die nur aus einer Hand stammen können. Auf dem Boden liegen Stapel von Katalogen mit weißen geschwungenen Bauten: Oscar-Land ist hier.
Alle vier Enkel Niemeyers arbeiten für ihn, setzen seine Ideen technisch um, verwalten sie. Kadus Arbeit besteht darin, die Arbeit des Großvaters zu reproduzieren. Er war nie auf einer Fotoschule, Oscar Niemeyer zeigte ihm die Blickwinkel, aus denen er die Werke sehen möchte.
»Er kontrolliert unser Leben auf positive Weise, er gibt die richtigen Impulse. Als ich jung war, hat er mir sogar die Frau fürs erste Mal ausgesucht«, erzählt Kadu. »Ich glaube nicht, dass er aus dem Leben verschwinden wird, er wird immer präsent sein. In 100 Jahren werden die Menschen noch wissen, wer Oscar Niemeyer war.«
Wer ist er? Der Kommunismus ist bei ihm zu einer Art Pose verblichen, in seinen Gebäuden lässt er die Aufgänge in roter Farbe streichen. Fragen zu seinen kapitalistischen Bauten überhört er gern. Er hält unbeirrbar an seinen Idealen fest, verwirklicht sie. Seinem Chauffeur hat er ein Haus in einer Favela gebaut.
Auch einem deutschen Architekten half er, als der Mitte der Fünfziger in Rio de Janeiro ankam und an seine Tür klopfte. Hans Müller sitzt in Botafogo am Fenster und schaut dem Treiben auf der Straße zu, wie das alte Menschen gern tun. »Meine Frau sagt immer, nimm dir mal ein Beispiel an Oscar, der ist 100!« Müller ist 78.
Damals in Rio hatte der junge Müller eine Mahnung dabei, Oscar Niemeyer solle endlich das Gebäude für das Hansaviertel in Berlin entwerfen. Müller übergab den Brief, und Niemeyer fragte: »Du brauchst Arbeit? Bleib doch hier!«
Er blieb und zeichnete fast ein halbes Jahrhundert für ihn. Als in Brasilien der Traum von der Gleichheit platzte und das Militär regierte, begleitete Müller den Meister ins Exil nach Europa.
Niemeyer schuf dort sein kleines Rio, versammelte Männerrunden um sich, es wurde geraucht, nächtelang Karten gespielt, der Architekt soll ein schlechter Spieler gewesen sein, und so versteckte er in seiner Hosentasche gern ein paar Extratrümpfe. Müller erzählt von einem ausschweifenden Leben in Paris: »Wir haben alles geteilt, einmal hatten wir sogar dieselbe Frau. Oscar denkt ja nur an Frauen.«
Anzügliche Bemerkungen gehören zu Niemeyers Sprache. Über das Bild über seinem Schreibtisch, auf dem zwei Schamhügel, zwei Brüste und ein Po abgebildet sind, spaßt er: »Muss sehr angenehm gewesen sein, das Foto zu machen.« Gleichzeitig verklärt Niemeyer die Frau gern zum erhabenen Wesen, zum lyrischen Objekt.
Auf der Fassade des neuen Theaters in Niterói, auf der anderen Seite der Bucht von Rio, tanzen nackte Frauen, von ihm gezeichnet. Sie versinnbildlichen seine Suche nach Schönheit und Überraschung. Wenn es schon keine politische Revolution gab, wollte er wenigstens mit seiner Architektur revolutionär sein. Der Dichter Ferreira Gullar sagt es so: »Es reicht nicht, die sozialen Probleme von Leuten zu lösen, sie brauchen Schönheit. Oscar macht das Leben schöner.«
Das Kunstmuseum von Niterói sieht aus wie ein elegantes Raumschiff, perfekt in die Natur eingefügt. Wie viele Niemeyer-Arbeiten ist das Gebäude zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden. Die Besucher stehen oft so gebannt davor, dass sie vergessen, es zu betreten. Niemeyer hat es angeblich beim Mittagessen in einem Steakhaus gezeichnet. Seine Kunst schafft es, unerwartet und gleichzeitig populär zu sein. Nicht technische Kühnheit ist das Entscheidende an seiner Architektur, sondern ihre Seele. Er will, dass man sie erlebt, dass man sie spürt.
Häufig kreiert er eine geschwungene Rampe, eine Art Architektur-Gangway, auf der man ein Gebäude aus mehreren Winkeln betrachten kann, bevor man darin verschwindet. Noch beeindruckender ist der freie Raum, den Niemeyer integriert. Durch den Abstand zwischen den Bauten entsteht ein Spannungsfeld, Leere, die gefüllt werden muss, mit Gedanken, Gefühlen. Deshalb bewegt sich niemand gleichgültig durch die Stadt Brasília.
Oscar Niemeyer wollte nie in Brasília leben, das Chaos von Rio würde ihm fehlen. Gerade entwickelt er eine neue Zeitschrift. Er hört nicht auf, Neues in sein Leben einzubinden - als würde es sich dadurch verlängern.
Vom Tod hat Oscar Niemeyer eine bestimmte Vorstellung, am schönsten hat er sie in seiner Autobiografie festgehalten, als er beschrieb, wie er auf einer Autofahrt von Rio nach Brasília in den Wolkenformationen sinnliche Hüften und Brüste erkannte, die sich dann langsam wieder auflösten: »Und ich fühlte, dass diese perverse Metamorphose unserem eigenen Schicksal ähnelt. Wir haben keine Wahl, wir werden geboren, wachsen auf, kämpfen, sterben und verschwinden für immer.«
Vor fünf Jahren ließ Niemeyer den Teppich in seinem Büro herausreißen, er wollte weiße Fliesen haben. Als die verlegt waren, sagte er zufrieden: »Jetzt ist das Büro für die nächsten zehn Jahre hergerichtet.«
Er wird dann 105 Jahre alt sein.