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Die Messer der Liebe

Peter Härtling, 45, ist Autor des Bestsehers »Hubert oder die Rückkehr nach Casablanca« -- Wolfdietrich Schnurres »Der Schattenfotograf« wurde zum »Buch des Monats« gewählt und hält auf der Bestenliste« des Südwestfunk-Literaturmagazins den zweiten Spitzenplatz.
aus DER SPIEGEL 6/1979

Seit langem habe ich mich mit keinem Buch so unterhalten wie mit Schnurres »Schattenfotograf«. Ich meine das in aller Ausgiebigkeit: Es hat mit mir geredet, es hat mich zu Zwischenrufen aufgestachelt, mir den Bleistift in die Hand gedruckt, ich habe manchmal mit seinen Ansichten und Einsichten gehadert, ich habe mich vergnügt, war erschrocken und habe mit den Tränen gar nicht erst mehr gekämpft. Gegen meinen Willen habe ich Eselsohren gemacht. Und ich war -- ehrlich gesagt -- nicht darauf gefaßt, so mitgenommen zu werden.

Ich begann zögernd und mit einer festen Erinnerung zu lesen; dachte an die früheren Bücher Schnurres, an den »Steppenkopp«, an den Roman »Als Vaters Bart noch rot war«, an die Gedichte aus »Kassiber«, den »Pudel Ah« (der mir hier, pfiffig wie einst, wiederbegegnen sollte als Briefpartner von Schopenhauers Pudel Atma).

Es war falsch. Das vorgefertigte Bild (was ja ohnedies ein »nachgefertigtes« ist) erwies sieh als hinderlich, sperrte sieh gegen eine Stimme, die, verletzt und selbstsicher in einem, ihre Geschichte neu und anders erzählt, sich widerspricht. Nach siebzig Seiten fing ich darum von vorne an.

Was ist das für ein Buch, dessen Redewärme man dann vermißt, nachdem man es zu Ende gebracht hat? Auf den ersten Blick scheint es ein Tagebuch zu sein, vergleichbar den Tagebüchern Max Frischs. Am Beginn steht ein Datum (August 1976), am Schluß ebenso (10. Januar 1977). Die Daten trügen. Sie fixieren eine Zeit, die von Schnurre anders ausgespielt und geschichtet wird; die das Material des Buchs ordnet, es unmerklich strukturiert und die auf diese Weise spürbar, sichtbar wird. Die fixierte Frist bedeutet nichts. Sie wird aufgehoben und dennoch ernst genommen als »Arbeitszeit«. Erfahrene Jahrzehnte türmen sich in der Enge eines halben Jahrs.

Der Mann am Schreibtisch läßt sich nicht ohne Pathos auf sein Gedächtnis ein. Wahrscheinlich braucht er es, denn er fürchtet sich ja, er hat sich durch Gegenwart geschützt, sich an die tägliche Arbeit geklammert, um nicht abzustürzen. Nun läßt er los. Nun will er sich wissen: »In Kürze hat dieser restliche Körper, aufrechtgehalten von einem sentimentalen Gemüt, hinkend an seinen Erfahrungen, terrorisiert von einem sprunghaften Intellekt und jagdhundhaft von seiner unzuverlässigen Seele umkreist, aller Voraussicht nach den fünften Schritt in die zweite Hälfte des ihm möglicherweise zugebilligten knappen Jahrhunderts zu vollziehen. Die Schüsse trafen und trafen doch nicht. Die Liebe warf ihre Messer; das letzte vibriert noch im Holz. Das Licht alterte mit. Der Schatten gewann an Kontur ... Es wird Zeit, Bestand aufDie Anstrengung -- da zieht einer vorm Spiegel die Schultern hoch und versucht sich ein Bild zu machen -- schüchtert ein. Doch das hält nicht vor. Noch auf der ersten Seite setzt sich Schnurres lippenwarme Schnoddrigkeit durch: »Der Satz. Der, den ich schreibe. Der, den ich mache. Der am Grunde der Tasse. Der dennoch kein Grundsatz ist.« An solchen Sentenzen liest man sich lang, hat Schnurre sich wohl lang geschrieben. Ihr lakonischer Ton erlaubt ihm, unverhohlen privat zu werden, sich auf seine Zeit einzulassen.

Die Themen fügen sich nun wie von selbst. Das merkt auch der Leser. Er folgt einem Gedächtnis, das sich rhythmisiert, das immer sicherer mit Leitmotiven umgeht, das keinen Schmerz, aber auch keine Freude mehr wegredet. Das sich einfache Sätze zutraut.

Zeiten und Geschichten fallen ineinander, erklären sich gegenseitig: Die Kindheit und Jugend in Frankfurt und Berlin, der Frösche aus dem Glas befreiende und Salamander jagende geliebte Vater, die Freundschaft mit Zigeunern und Juden, Krieg und Verwundung, die erste Ehe, der Selbstmord der ersten Frau; die schwindende Lebenskraft; Marina, die zweite Frau, und Nenad, das angenommene Kind. Marinas Krankheit, die Angst, sie zu verlieren. Nenad, der sich mit staunenden Sätzen Welt aneignet.

In all diesen Passagen offenbart sich eine Liebe, die unerhört verletzbar ist, die von Ängsten geschüttelt wird, die klagen und rühmen kann, sich versichert und dennoch beinahe erschreckend selbstlos ist, die den Verlust einschließt, aber ihn inständig aus dem Weg und aus dem Leben fleht.

»Ich brauch Dich.« Die Liebe zieht die Linien, auf denen Schnurre schreibt. Nicht oft hat ein Schriftsteller sich derart preisgegeben und ist dabei so diskret geblieben. Weil er es weiß, weil er nicht »erfinden« muß, weil die Liebe ihn vor dem Tod bewahrt, den er kennt und anredet, dem er Sätze entgegensetzt, mit denen er für sich, Marina und Nenad Leben herausschlägt: »Was man macht, während der Mensch, um dessentwillen man lebt, zum zweitenmal auf Verdacht operiert wird. Man bringt den Jungen in den Kindergarten. Man stellt das Geschirr in die Spülmaschine. Man räumt auf. Man geht den Fotos aus dem Wege. Man gibt sich Mühe, so flach wie möglich zu denken.«

Die Gegenwart des Schreibers wird vielfältig skandiert. Er liest Schopenhauer, Bloch und Benjamin. Schreibt Briefe an sie und setzt fort, was Saul Bellows »Herzog« begann. Er entwirft Programme, gliedert sie in Paragraphen auf. Zum Beispiel Paragraph 14 der »Deutschen Miniaturen": »Bismarck, der Frau eines jüdischen Textilkaufmannes und führenden Sozialdemokraten einen Hoflichkeitsbesuch abstattend. Grund: Bismarcks Doggen haben den Rehpinscher der Dame zerfleischt.«

Oder Paragraph 4 aus den »Thesen zum Thema Angewandte Schriftstellerei": »Man darf über sich selbst schreiben. Man kann auch Hauptperson sein. Aber man sollte nicht auf sich aufmerksam machen.«

Er zitiert, die Wendigkeit seines Witzes in schöner Regelmäßigkeit ausprobierend, aus einem Briefwechsel zwischen den Pudeln Ah und Atma. Nebenbei breitet sich Schriftsteller-Alltag aus. Über Pflichtstücke wird geseufzt, Termine werden finster gemustert (und eingehalten), über den Fleiß anderer wird räsoniert wie über Erfolg und Leserzahl.

Wer aufmerksam liest, kann über das Kommunizieren von Zeilen- und Kontostand nachdenken und sich eine hübsche Geschichte zusammenreimen: Am Anfang des Buchs wird ein Hauskauf in Berlin geplant, in der Mitte wird der Wunsch mit einem Seufzer über mangelnde Einkünfte zurückgenommen und am Ende reicht's doch: »Das Haus liegt in Nikolassee. Fast quadratmetergenau in der Gegend, wo wir immer hingedacht haben.« Wozu man, mitgenommen und einbezogen, bloß noch gratulieren kann.

Nein, nicht alle Sätze kommen selbstverständlich auf den Leser zu. Manche stellen sich voller Bedeutung quer, laden zum Streit ein. »Martin Heidegger gestorben. Die Frage ist jetzt: Durfte die Welt sich diesen Tod leisten.« Eine strenge Platitüde, die einen verführt, zurückzufragen: Kann Schnurre sich eine solche Bemerkung leisten? Er kann es. Denn er wiegt den Unfug nachdrücklich und leicht auf, mit Versen wie diesem: »... bring Welt mit, mein Vogel. / Ich streue dir Mais.«

Nach all dem, nach Wochen mit einem Buch, das sich in Gespräche mischte, das mit seinen Eselsohren von neuem gelesen sein will, halte ich es für sinnvoll, die Rezension mit einem Zuruf zu schließen, für den wir uns unter Kollegen leider oft zu schade sind: Danke schön, Schattenfotograf!

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