AUTOREN Die Mission des Schamanen
Wie alt er ist, weiß Galsan Tschinag selbst nicht so genau. Wahrscheinlich sechzig. Vielleicht auch ein bisschen älter. Das ist aber auch nicht wirklich wichtig. Plagt ihn doch sowieso das Gefühl, schon mindestens »1550 Jahre Erdenleben« hinter sich zu haben. »Ich habe in meinem Leben einen Weg zurückgelegt«, sagt Tschinag feierlich, »für den die Menschheit viele Jahrhunderte gebraucht hat.«
Geboren wurde Tschinag irgendwann Mitte der vierziger Jahre als jüngster Sohn einer Nomadenfamilie vom Volk der Tuwa im Nordwesten der Mongolei. Die tuwinischen Nomaden, die eine reiche mündliche Tradition, aber keine eigene Schriftsprache besitzen, ziehen seit Jahrhunderten mit ihren Herden über die kargen Steppen des Altai. Als Behausung dienen Jurten, große, aus Filz und Holz gefertigte Zelte. Der Alltag ist hart und vom Kampf gegen die rauen Naturgewalten geprägt. Schon früh muss der kleine Galsan, der bei den Seinen den für westliche Zungen unaussprechbaren Namen Irgit
Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa - Pelzbaby - trägt, beim Hüten der Schafe und Yaks der Familie helfen.
Heute ist Tschinag ein gefeierter Schriftsteller, der in seinen Romanen und Erzählungen den Leser in die unendliche Weite der mongolischen Steppen und die archaische Lebenswelt seines Stammes entführt. Auch sein neuer Roman »Das geraubte Kind« handelt von seinem geliebten Volk: Darin erzählt Tschinag vom Kampf der Tuwa-Nomaden gegen die drohende Okkupation durch die Großmacht China in der Mitte des 18. Jahrhunderts*.
Das Faszinierende daran: Wie fast alle seine Werke hat Tschinag »Das geraubte Kind« in deutscher Sprache geschrieben. In einem wunderbar klaren, geschliffenen Deutsch, in das er eigenwillige Bilder voll fremdartiger Poesie geflochten hat. Dabei lebt Tschinag, der 2001 den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis und Ende 2002 das Bundesverdienstkreuz erhielt, gar nicht in Deutschland. Hierher kommt er nur zu Besuch. Den Großteil des Jahres verbringt er in Ulan Bator oder in den Jurten seines Stammes,
als dessen Oberhaupt er sich seit den siebziger Jahren versteht. Ein märchenhafter Lebensweg. Aber wie verkraftet ein Mensch den Sprung von einer nomadischen Ur- in eine hoch zivilisierte Mediengesellschaft?
Tschinag meint, er diene im göttlichen Auftrag seinem Stamm als Chronist. »Weil mein Volk unterzugehen drohte«, schrieb er einmal, »ohne sich im neueren Geschichtsgedächtnis eingenistet zu haben, musste ich hinaustreten in die Welt: Hört und schaut, es gibt uns.«
Er habe, sagt er, diesen Auftrag, weil er ein Schamane sei, also ein Zauberer, der im Trancezustand aus der jenseitigen Welt Botschaften empfangen könne. Wer die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits zu überwinden vermöge, für den sei der Sprung über ganze Epochen und Kulturen eine vergleichsweise leichte Übung.
Die Wortfindung des Schamanen braucht Zeit: Mehr als 20 Jahre lang hat Tschinag an dem Buch »Das geraubte Kind« gearbeitet, diesem faszinierenden Geschichtsroman, der den Leser durch bildhafte Schilderungen der exotisch anmutenden Bräuche und Sitten der Tuwa-Nomaden in seinen Bann schlägt.
Im Mittelpunkt steht der Waisenjunge Hynndynn, dem von Fremden ein seltsames Schicksal prophezeit wird: Er werde »immer acht Sommer und sieben Winter, abwechselnd« im Erden- und im Himmelreich verweilen und unabhängig von seinem jeweiligen Aufenthaltsort die Geschicke seines Volkes, der Tuwa, lenken. Und wirklich verschwindet das Kind im Alter von sieben Jahren spurlos aus der Jurte seiner Pflegeeltern.
Doch hinter all dem stecken nicht etwa, wie Hynndynns Stammesangehörige glauben, überirdische Mächte, sondern handfeste machtpolitische Interessen. Der Junge wird von seinen Entführern in eine Stadt im Nordwesten Chinas gebracht. Dort lebt er als Gefangener des Kaiserlichen Geheimrats Sü Bing Dshjang, bekommt einen anderen Namen und darf nur noch Chinesisch sprechen. Als Jüngling wird er in die chinesische Oberschicht eingeführt und heiratet ein chinesisches Mädchen.
Nach acht Jahren in der Fremde kehrt Hynndynn in seine Heimat zurück mit dem Auftrag, die Herrschaft über sein Volk zu übernehmen und es vom Widerstand gegen die bevorstehende chinesische Besatzung abzuhalten. Sü Bing Dshjang ist davon überzeugt, dass der inzwischen 15-Jährige - seiner Identität beraubt und durch die Erfüllung der Prophezeiung bei den Seinen als neues Oberhaupt legitimiert - den Auftrag ausführen wird. Doch Hynndynn hat sich in all den Jahren die Erinnerung an seine Herkunft und die Liebe zu seinem Volk bewahrt. Kaum in der Heimat angekommen, stellt er sich auf die Seite seines Stammes
und rüstet zum Widerstand gegen die anrückenden chinesischen Besatzer.
Der Kampf eines kleinen, urwüchsigen Volkes gegen eine hoch zivilisierte, arrogante Großmacht und für das Recht, so zu leben wie gewohnt: Darum geht es vor allem in diesem Roman. Dabei fragt Tschinag auch immer wieder nach Sinn und Berechtigung dieses von vornherein aussichtslosen Widerstands. Und bei aller Sympathie für sein Volk: Dessen in Traditionen erstarrte Lebensweise kritisiert er.
Mit seinem Helden teilt Tschinag die Erfahrung, dass die nomadische Lebensweise unterdrückt wird. In der Mongolischen Volksrepublik wurde eine minderheitenfeindliche Politik nach sowjetischem Muster betrieben. Die Auswirkungen bekam auch Tschinag in der Schule zu spüren, die aus rückständigen Nomaden fortschrittliche Proletarier machen sollte. Wie Hynndynn durfte er seinen tuwinischen Namen nicht behalten und seine Muttersprache nicht mehr sprechen.
In seinem autobiografischen Roman »Die graue Erde« erzählt Tschinag eindrücklich von den Schrecken dieser Jahre, die er fern der elterlichen Jurte in der Kreisstadt durchleiden musste*.
Doch anders als Hynndynn hatte er die Chance, die gewaltsame Entwurzelung zu nutzen, um sich konstruktiv mit modernen Gesellschaftsformen auseinander zu setzen. Nach seiner Schulzeit begann Tschinag an der Universität von Ulan Bator mongolische Literatur zu studieren. Ein Stipendium führte den Studenten, der kein Wort Deutsch sprach, 1962 nach Leipzig. Der Schock bei der Ankunft war groß: »Es hat gestunken nach zivilisierter Welt. Dann habe ich die Umgebung mit den Ohren wahrgenommen. Sie hat mich angezischt
von allen Seiten. Alles war so laut, so höllisch laut.« Als »himmelloses Land« empfand Tschinag das sozialistische Bruderland DDR.
Kaum beherrschte der junge Mann die Grundregeln der fremden Sprache, begann er erste Geschichten auf Deutsch zu verfassen, in denen er von der fernen Heimat erzählte. Im Haus seiner Gasteltern lernte er den Schriftsteller Erwin Strittmatter kennen, der sein Mentor wurde.
1968 kehrte Tschinag in die Mongolei zurück. Er arbeitete als Deutschlehrer an der Universität von Ulan Bator und schrieb weiterhin in deutscher Sprache über seine geliebten Tuwinen, die in den sechziger Jahren in die Zentralmongolei umgesiedelt und dort zur Sesshaftigkeit gezwungen worden waren. Die Wahl des Deutschen hatte auch politische Gründe. Die mongolische Zensur war strenger als die der DDR und tolerierte keine Geschichten über ethnische Minderheiten.
Anfang der siebziger Jahre schickte Tschinag aus Ulan Bator die Erzählung »Eine tuwinische Geschichte« an Strittmatter. Sie handelt von dem Tuwiner Dshaniwek, der in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Parteikarriere macht und aus Angst um seine politische Laufbahn zum Verräter und Mörder an seinem eigenen Sohn wird. Noch heute blitzt der Stolz aus Tschinags Augen, wenn er vom Antworttelegramm des väterlichen Freundes erzählt: »Wir gratulieren dir, lieber Galsan«, stand da, »deine Erzählung ist groß.«
Es war Tschinags literarisches Debüt in der DDR. 1992 erhielt er für das Buch (publiziert im A 1 Verlag München) den Adelbert-von-Chamisso-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Im nächsten Jahr soll die »Tuwinische Geschichte« verfilmt werden. Arbeitstitel: »Ein mongolischer Wolf«. Budget: acht bis zehn Millionen Euro. Die Dreharbeiten sollen im Frühjahr 2005 in der Inneren Mongolei beginnen, an der letzten Fassung des Drehbuchs wird noch gearbeitet. Florian Gallenberger, der für seinen Film »Quiero ser« 2001 den Oscar in der Kategorie »Bester Kurzfilm« bekam, führt Regie.
In dieses Filmprojekt möchte sich Tschinag nicht einmischen. Hat er die Erzählung doch vor 14 Jahren bereits selbst verfilmt und sogar eine Nebenrolle übernommen. Das war 1990, kurz vor der Wende. Tschinag war damals Cheflektor bei Mongol-Kino, dem staatlichen Filmbetrieb der Mongolei. In die westlichen Kinos gelangte das Werk allerdings nie.
Anfang der neunziger Jahre wurde Tschinag vom »Geldteufel« heimgesucht, wie er heute selbstkritisch meint. Er gründete das Reisebüro Nomade. Es kamen etliche Deutsche, die die Schauplätze seiner Geschichten sehen wollten. Obwohl das Unternehmen florierte, löste er es nach einigen Jahren auf. Das verdiente Geld nutzte er nun, um einen alten Traum zu verwirklichen. Wie ein zweiter Mose wollte er seinen in der Zentralmongolei verstreuten Stamm sammeln und in die Heimat am Hohen Altai zurückführen. Viele hielten ihn damals für größenwahnsinnig.
Die Vorbereitungen nahmen Monate in Anspruch. Anfang Mai 1995 war es so weit. Eine Karawane aus etwa 150 Menschen, 130 Kamelen, vielen Pferden und unzähligen Schafen, Hühnern und Hunden setzte sich in Bewegung. Fast 2000 Kilometer legte sie auf ihrem entbehrungsreichen Marsch durch Wüste, Steppe, Taiga und über Berge in gut zwei Monaten zurück. Mit dabei: ein deutsches Kamerateam, das unter anderem für den WDR über das Unternehmen berichtete.
So manche Illusion über seine Stammesangehörigen hat Tschinag bei all dem verloren. Er wurde Zeuge von Alkoholexzessen und rücksichtslosen Verteilungskämpfen. Bestürzt schrieb er in sein Reisetagebuch: »Ob diese der Trinksucht verfallenen, von den Segnungen der neuzeitlichen Kultur westlicher Prägung noch nicht erreichten, von ihrer teuflischen Macht jedoch längst angehauchten Menschen auf dem Fleck Erde, die dem Wesen nach noch die alte ist, die Heimat finden werden? Vielleicht trage ich mörderische Bazillen zu dem archaischen Körper?!«
Dennoch hält Tschinag seine Unternehmung für einen Erfolg. Den meisten Familien gehe es heute sehr gut. Das sei den Frauen zu verdanken. »Die Nomadenmänner sind stinkfaul«, schimpft der Schriftsteller. »Alle Arbeit überlassen sie ihren Frauen.«
Einer jener Frauen, »auf deren Schultern das Geschick einer untergehenden
Welt ruht«, ist die Novelle »Dojnaa« (2001) gewidmet. Sie erzählt die Geschichte eines arglosen Mädchens, das in eine Ehe mit dem Säufer und Weiberheld Doormak hineinschlittert. Nach Jahren der Demütigung begehrt sie gegen ihn auf, und er verlässt die Familie. Dojnaa fühlt sich befreit und sucht selbstbewusst den eigenen Weg. »Mein Volk wird nicht untergehen«, sagt Tschinag, »solange es solche Frauen wie Dojnaa gibt.« Und solche Männer wie Tschinag. NICOLE ALEXANDER
* Galsan Tschinag: »Das geraubte Kind«. Insel Verlag, Frankfurtam Main; 320 Seiten; 19,90 Euro.* Galsan Tschinag: »Die graue Erde«. Suhrkamp TaschenbuchVerlag, Frankfurt am Main; 288 Seiten; 8,50 Euro.