Peter Rühmkorf über Erich Fried: "und Vietnam und" DIE MORD- UND BRANDSACHE
Daß zeitgenössische Gedichte sich tunlichst politischer Stellungnahmen enthalten sollten, ist ein öffentliches Vorurteil, das uns verfolgt, mal so, mal so gewendet, seit die Kulturreaktion in unseren Breiten eine stehende Einrichtung wurde.
Aufgefrischt nach allerlei welk gewordenen Einwänden gegen den Unmutsvers im allgemeinen, das Anti-Atom-Gedicht im besonderen, begegnet es uns zur Zeit vor allem auf dem Felde der Vietnam-Debatte, und zwar der Art, daß es den literarischen Wert, ja die Existenzberechtigung von lyrischen Diskussionsbeiträgen überhaupt mit ganz bestimmten Verwahrungsstereotypen in Frage stellt.
Schon daß an jedem dritten deutschen Tag und in jedem dritten deutschen Feuilleton gegen einen Gedichttypus polemisiert wird, der ein Typus wahrhaft nur ist im Bewußtsein seiner Verächter, zeigt uns, wie leicht sich unhaltbare Meinungen zu dauerhaften Matrizen verfestigen.
Zwar, wenn man den Ausfälligkeiten Glauben schenken wollte, den beiläufigen Seitenhieben wie den gezielten Verklagungen, dann beherrschte eine Art von unqualifizierter Gesinnungspoesie das ganze breite Feld; dann ließe sich keine ödere Konformität der Protestinhalte denken als hier unter Anpassungsverweigerern und Nonkonformisten; nur -- und jetzt wird es kritisch -- daß von dem verlästerten Überangebot an dichtenden Abweichlern in Wirklichkeit überhaupt keine Rede sein kann.
Wer sich hier nur einmal aufs Auszählen einläßt, die Menge der zu Papier geschlagenen und dann auch in die kleinere Öffentlichkeit von Studentenzeitungen und Vortragssälen eingedrungenen Partisanenstrophen abwägt gegen das Flächenbombardement der Vorbehalte, der erfährt sehr prompt: Die Machtverhältnisse sind umgekehrt proportional den angezeigten, und allgemein und an der Tagesordnung ist nie und nimmer das Protestpoem, sondern die Hand, die sich dagegen hebt.
Aber das ist es nicht allein. So sehr sind die Grundsätze einer langjährigen Sprach- oder richtiger Schweigeregelung bereits zum geistigen Besitz der Nation geworden, daß die Sänger es den Sängern weitersagen, die Dichter den Dichtern, und wahrhaft ein Band bedingungslosen Einverständnisses schlingt sich -- »Laßt doch bloß das Aber sein, das bringt überhaupt nichts ein« ("Sing-Out") -- von den Erbauungskantaten der Moralischen Aufrüstung über Freddys Goodwill-Appelle ("Doch wer will weiter nur protestieren ... Ihr!") bis hin zu Günter Grassens immer noch koalitionsfähigen SPD-Bardieten ("Ich spreche vom Protestgedicht / und gegen das Protestgedicht").
Wo die Welt des Günter Grass ihre Grenzen hat und die Einsicht auch unserer anderen Kaiserwilhelmgedächtniskirchturmpolitiker endet, beginnt die Wahrnehmungszone der Gedichte von Erich Fried. Dieser Mann gehört nun tatsächlich zu jener vielbeschriebenen, im Grunde sagenhaften und konkret nur in einigen drei vier fünf sechs Exemplaren nachweisbaren Gattung dichtender Diversanten, denen der scheinbar abgelegene Krieg in Südostasien ein naheliegender, das heißt, ein paradigmatischer Vorwurf auch fürs Schreiben ist. Anders als Grass, für den Vietnam, schön goethisch, weiter als »hinten weit in der Türkei« zu liegen scheint -- gerade so, als ob sich im Zeitalter interstellaren Raketenverkehrs noch über »Krieg und Kriegsgeschrei« verhandeln ließe wie zu den Tagen des Marschall Vorwärts -, sieht Fried im Vietnam-Krieg die dringende Mord- und Brandsache.
Was deutschem SPD-Blick gern zur unfaßlichen Tragödie sich verklärt, wohl weil sich daraus billig folgern läßt, mit Katastrophen lasse sich schlecht ins Gericht gehen, das erscheint bei Fried als unmißdeutbares Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit den dazugehörigen und haftbar zu machenden Verantwortlichen und Schuldigen.
Im Gegensatz auch zu jener spezifisch deutschen Wunschprojektion, die zwar gewisse Schutz-und-Trutz-Vorstellungen im Vietnam-Modell bestätigt sehen möchte, nicht aber sich die fatalen Folgen ausmalen will, zeichnet Erich Fried das idealische Muster mit bekannten Namen und Adressen aus, und siehe da, was unsere heimische Verdrängungspropaganda so gern an den Rand der Welt abschiebt, das kriegt nun plötzlich unerwartete heimatkundliche Aspekte, und nicht gerade anheimelnde.
Entweder -- so lehren uns Erich Frieds Vers für Vers folgernde, Schicht um Schicht durch den Abraum der Kriegsberichterstattung sich hindurchfragende Gedichte -- tilgen wir endlich ein restlos kompromittiertes Vertrauensmuster aus unseren Sicherheitsvorstellungen oder räumen mit dem gebotenen Zynismus ein, daß unsere Rechnung aufgehen kann wie die Städte Vietnams in Flammen.
Die Frage nach dem, was wirklich geschieht, wirklich geschehen ist, möglicherweise geschehen sein könnte, tritt dabei für Erich Fried vor jener anderen Frage zurück, wie man benennt, was geschieht. Das scheint nur auf den ersten Blick eine platonische Stellungnahme.
Wo nämlich der Dichter die Zeitungslektüre für einen Lokaltermin zu nehmen und seinen Platz vorm Fernseher als Beobachtungsstand aufzufassen gewillt ist, da, scheint mir, fällt ein Stück Dschungelkrieg noch einmal ganz in seine Befugnis, da bekommt er von der in toto recht uneinsichtigen Welt zumindest einen Fetzen jenes Schleiers in die Hand, der sie immer wieder zu verdecken hilft.
In archaischen Zeiten schrieb man dem Sänger wohl die Fähigkeit zu, das Gras wachsen zu hören oder die Sprache der Vögel zu verstehen, ein Vermögen, auf das, wer heute von Profession her mit Wörtern umgeht, vermutlich kaum noch Anspruch erhebt. Halten wir den Schriftsteller aber bitte auch nicht für ein Wesen, dessen Kompetenzzone sich mit fortschreitender Entwicklung der Informationsapparate immer weiter auf den Bereich der reinen Wörter zu reduziere.
Als Fachmann für Sprache kann er nämlich, wo er nur will, sehr wohl auch einen kompetenten Fachmann für die Lüge abgeben, die immer noch vorzüglich in Sprache sich kundtut. Von Beruf und Ausbildung her geübt, aufs Wort zu achten (und wie genau hier gerade Erich Fried auf den Pfennig sieht, haben uns seinerzeit bereits seine »Warngedichte« klargemacht), eröffnet sich ihm ein legitimes Arbeitsfeld, wo es eine mit Propagandapoesie zur Unkenntlichkeit verschmierte Welt neu zu entdecken gilt.
Wiewohl auch nur an jene Nachrichtenorgane angeschlossen, denen die breitere Öffentlichkeit das getrübte Bewußtsein ihrer selbst verdankt, verfügt er dennoch über Mittel, hauseigene und berufsnotorische, aus falschen Zungenschlägen und rotstichigen Sachmeldungen Wahrheit zu recherchieren und die Verdunklung der Welt durch schwarze Magie einen Vers lang aufzuheben. Aus Da Nang
wurde fünf Tage hindurch täglich berichtet:
Gelegentlich einzelne Schüsse Am sechsten Tag wurde berichtet: In den Kämpfen der letzten fünf Tage in Da Nang
bisher etwa tausend Opfer
Die Qualitäten solcher Verse und ähnlicher zu ermessen, bedarf es gewiß keiner neuen Ästhetik, sondern allenfalls des Kehrbildes der alten romantischen. Haben wir uns aber einmal frei gemacht von einer Urteilsweise, die schön und faszinierend nennt, was »dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen verleiht«, und sind wir zaglos genug, unser Interesse statt auf die »Würde des Unbekannten« auf den »Verrat nichtswürdiger Geheimnisse« zu lenken, dann bietet einem der Gedichtband von Erich Fried sogar Verwunderungsmomente die Fülle.
Hier, möchte man sagen, kann das von den Meinungstrusts zum Analphabeten zweiten Grades herabgewürdigte Landeskind zum zweiten Male das Lesen lernen. Hier bekommt auch die Frage, was von Gedichten praktisch zu halten sei und was man mit ihnen anfangen könne, einen sehr plausiblen Sinn; weil sich jedes dieser Gedichte auf seine Art als Dechiffriergerät verwenden läßt, geeignet, herrschende Einwickelverfahren nachhaltig zu durchleuchten und mithin ein Stück verstellten Daseins zur Kenntlichkeit zu entwickeln.