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Rudolf Augstein über Friedrich Heer: "Gottes erste Liebe" DIE PERFIDEN JUDEN

Die jüdische Gefahr bedroht die ganze Welt durch verderbliche jüdische Einflüsse oder verabscheuenswerte Einmischungen. besonders bei den christlichen Völkern und noch mehr bei den katholischen und lateinischen, wo die Blindheit des alten Liberalismus die Juden besonders stark begünstigt hat, während sie die Katholiken und vor allem die Orden verfolgten. Die Gefahr wird von Tag zu Tag größer. »Civiltà cattolica«, die Halbmonatsschrift der italienischen Jesuiten; am 19. Mai 1928 zur päpstlich verfügten Auflösung der »Gesellschaft der Freunde Israels«.
Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 37/1967

Dies ist wohl eines der am schludrigsten geschriebenen Bücher des Jahres, und dennoch eines mit dem aufregendsten Stoff, voller verblüffender Gedanken und von einem geradezu visionären Pathos, das wie auf einem Luftkissen-Fahrzeug über alles Geholper der Sätze und Wörter, ja manchmal über Tatsachen, buchstäblich hinreißt: Friedrich Heers Abrechnung mit 1900 Jahren christlicher Geschichte, die er als eine antijüdische Geschichte begreift; als eine Geschichte, die nicht zufällig, durch eine Art Betriebsunfall etwa, in dem »österreichischen Katholiken Adolf Hitler« kulminiert, nicht zufällig in »Auschwitz und Hiroshima«.

Schon die Zusammenstellung dieser beiden Ortsnamen zeigt, daß Fakten hier ziemlich hymnisch angeordnet werden, für subtile Unterscheidungen will sich der Atem des Heiligen Geistes nicht hergeben. Der 51 jährige Geschichtsprofessor und Chefdramaturg des Burgtheaters, der sich selbst einen »österreichischen Katholiken« nennt, widmet seine 584 Seiten Text (ein umfangreicher Kommentar-Teil gehört noch dazu) den »jüdischen, christlichen und nicht-christlichen Opfern des österreichischen Katholiken Adolf Hitler«.

Dies die schematischen Grundgedanken des wahrhaft explodierten und ketzerischen Werkes: Hitler ist nur ein Glied in der Kettenreaktion, deren Traditionen 1900 Jahre zurückverfolgt und radikal, von den theologischen Wurzeln her, »aufgebrochen, liquidiert, verflüssigt« werden müssen. Der Antisemitismus mit der vorerst letzten Konsequenz Hitler werde sich ständig neu produzieren, solange der Christ dem psychologischen Zwang folgen müsse,

»in seiner eigenen Brust die Zweifel an der Gottheit des Juden Jesus« zu überwinden. Durch physische Ausrottung der Brüder Jesu wolle der Christ den »Blick frei bekommen« für Christus, den »Arier« (Heer selbst setzt die Gänsefüßchen) den Pantokrator, den kosmischen Weltenherr, der über die finsteren Mächte gesiegt hat.

Schon die Christusfigur des Paulus -- der Israel als »Gottes erste Liebe« erkannt habe, daher der Titel des Buches von Heer -- sei in vielen Bezügen der Imagination des Paulus entsprungen; bei Paulus auch schon die Geschlechtsangst des zölibatär ausgerichteten Christen-Mannes, dessen privates Seelenheil vornehmlich in der Überwindung fleischlicher Sünden gesehen wird; bei Paulus auch schon der Christus als Weltenrichter, der die fleischlichen Sünder, später vorzüglich die geilen Juden, zu verdammen berufen ist: ein Christus also, der dem Juden Jesus, dem Judenmenschen auf Erden, in nichts mehr gleichsieht.

Heer rekapituliert: Zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrhundert erkämpft sich die junge katholische Kirche ihre Dogmen der Trinität und des Gott-Menschen, des Zwei-Naturen-Christus, in dem kein Platz mehr ist für den Judenmenschen Jesus der ersten drei Evangelien. Je strapazierter die Dogmen, desto weniger gehemmt der Haß gegen die Juden, die Leugner der so kostspielig erkämpften Wahrheiten. Das Arsenal der Juden-Feinde ist im vierten Jahrhundert bereits vollständig bestückt, in reichhaltiger theologischer Begründung.

Die Juden waren, bevor sie das Gesetz erhielten, vom Teufel besessen, und sind es, nachdem sie Christus verworfen haben, aufs neue, so sagt der heilige Hilarius von Poitiers. Seit der Kreuzigung Christi sind die Juden »böse«, so Eusebius von Cäsarea; »der« Jude ist ein Mörder der Propheten, ein Mörder Christi, ein Gottesmörder, er verehrt den Teufel -- so der heilige Johannes Chrysostomos.

Die Synagoge ist »Hurenhaus, Lasterstätte, Teufelsasyl«, so der heilige Hieronymus, dessen höchstpersönliche geschlechtliche Probleme sich hier weltweit sichtbar niederschlagen. Der Christ des Hieronymus ist der geschlechtslos lebende Mensch.

Die Synagogen müssen in Brand gesteckt werden, so der heilige Ambrosius, der Lehrer des Augustinus. Noch bevor den Juden Geldgeilheit vorgeworfen wird, sind sie die sexuellen Materialisten, die sich besonders gern mit der »schmutzigen Materie« Frau abgeben. Die Erbsünde des heiligen Augustinus besteht ganz wesentlich in der »bösen Lust«.

Augustinus übersteht die ungetauften Kinder der ewigen Verdammnis, geistiger Vor-Vollzug der Endlösung. Immerhin, häretischen Christen gestattet er noch die Bekehrung. Aber die Juden sind bestimmt, als Sklaven Zeugnis abzulegen für die Wahrheit der Heilsgeschichte bis ans Ende der Welt. Freiheit und Wohlstand der Juden würden das Auge des Frommen beleidigen. Ihnen muß es schlecht gehen, damit die Wahrheit des Christus Pantokrator um so leuchtender hervortritt. Heer: »Der Antisemitismus kommt von oben.«

Seit 418 dürfen Juden im Weströmischen Reich keine öffentlichen Ämter innehaben, Mord an Juden, Brand in den Synagogen bleibt ungesühnt; Ehen zwischen Juden und Christen sind gleich Ehebruch; Juden werden auf wenige Berufe beschränkt; werden solcherart deformiert, umgeschaffen zu jenem Spottbild, das die Christen sich von ihnen machen wollen. Die Juden selbst krümmen sich nach innen und entwickeln sich nun ihrerseits zu einer »geschlossenen Gesellschaft« (hier läßt Heer wohl außer acht, daß die Judenheit schon von Herkunft die geschlossene Gesellschaft par excellence gewesen ist, daß sie sich Verfolgungen auch seitens heidnischer Kaiser und hellenischer Gemeinden zugezogen hat. Der Talmud war ihre transportable Chinesische Mauer).

Schon weiß man, was Heer demonstrieren will: Hitler hätte Europas Juden nicht morden können, teils unter den Augen des Papstes in Rom, wenn die Mehrheit der Christen das Schicksal der Juden nicht als im Weltenlauf beschlossen angesehen hätte -- eine kühne These, nicht geeignet, kurzerhand angenommen oder verworfen zu werden.

Heers schauriges Sündenregister ist quälend lang. Zwischen dem 6. und dem 13. Jahrhundert gab es immer wieder Epochen und Herrscher, die den Juden ein offenes Miteinander gewährten, an den Höfen christlicher Könige in Spanien und Portugal, am Hofe des Staufer Friedrich II. Ludwig der Fromme (Frankenkaiser von 814 bis 840)

erlaubt ihnen, islamische und heidnische Sklaven zu kaufen und zu verkaufen -- wovon sie kräftig profitierten. (Dante, behauptet Heer, habe keinen Juden in seiner Hölle -- aber da irrt er; unter anderen Kaiphas, der Hohepriester, und Judas als Erzverräter werden dem Besucher vorgeführt.)

Aber vielerorts gibt es unter dem Druck katholischer Bischöfe Zwangstaufen, Zwangsaustreibungen von Taufunwilligen, Vermögenseinziehung, Auspeitschen, Ausreißen der Kopfhaare (Decalvation). Das 16. Konzil von Toledo erklärt alle Juden zu Leibeigenen des Staates, ihre Kinder können nach Vollendung des sechsten Jahres Christen übergeben werden.

Im 9. Jahrhundert wird die bedeutungsschwere Formel von den »perfiden Juden« in die Karfreitags-Liturgie aufgenommen. Die Erzbischöfe Agobard und Amulo von Lyon (9. Jahrhundert) sehen in den Juden »Söhne des Teufels«, die Christinnen verführen. Ihrer ist die »Synagoge des Satans«, die bis zum »jüdisch-bolschewistischen Weltfeind« immer wiederkehrende. Noch im Jahre 1955 schreibt der heutige Chefredakteur des »Rheinischen Merkur« von dem Kommunismus als der »Synagoge des Satans«, in seinem Buch »Epoche des Teufels« (1933 hielt er es in der Zeitschrift »Schönere Zukunft« einfach für »ein Gebot des natürlichen christlichen Selbstbewußtseins«, der Herrschaft von 600 000 Juden über 65 Millionen Deutsche ein Ende zu machen).

Der bedeutende französische Kirchenhistoriker Monsignore Adrien Bressolles lobt Agobards Polemik gegen die Juden in einem 1949 veröffentlichten Werk wegen ihres gesunden Sinns, ihrer Weisheit und ihrer christlichen Liebe.

Den Beginn des volkhaften Antisemitismus sieht Heer zu Beginn der Kreuzzüge. Gottfried von Bouillon« zeitweilig oberster Kreuzritter, schwört, »das Blut Christi an Israel zu rächen und nicht einen Juden am Leben zu lassen« -- daß, wenn überhaupt, die Römer den Juden Jesus umgebracht haben, ist seit dem zweiten Jahrhundert immer mehr verdrängt worden. Bernhard von Clairvaux, die gewaltigste Kreuzzugs-Drommete« predigt: »Die Juden sind minderwertiger als Tiere, sie stammen vom Teufel ab, sie sind Mörder von Anbeginn.« Aber Bernhard, das wenigstens doch, ist den von ihm geistig inspirierten Verfolgungen leibhaftig entgegengetreten. Den Juden haben die Christen nur das Zinsgeschäft gelassen, und das macht sie nun auch beim christlichen Niedervolk verhaßt. Im vom Kreuzzugsgeist kranken Europa bricht die Ritualmord-Seuche aus, die bis heute in der Römischen Kirche nicht gänzlich desavouiert worden ist. Juden morden Kinder und schänden Hostien (an denen es nach jüdischem Verständnis nichts zu schänden gibt, da es sich nur um Brotstücke handelt).

Das Lateran-Konzil von 1215 wirft Juden und Ketzer in eins, Juden müssen einen gelben Fleck auf dem Gewand tragen. Die Häretiker und die Juden sind eine ansteckende Krankheit (ein Matthias Walden vergleicht in der »Welt« den Kommunismus ausdrücklich mit einer Krebskrankheit). Papst Innozenz 111. erklärt, die Juden seien zu ewiger Sklaverei verurteilt, da sie den Herrn gekreuzigt hätten. Der Jude trage das Kainszeichen, »damit ihn nicht erschlüge, wer ihn träfe«.

Papst Gregor IX. beklagt 1233 in einem Brief an die deutschen Oberhirten, daß die Juden Deutschlands nicht in jenem Stand vollkommenen Elends lebten, zu dem Gott sie verurteilt habe.

Seit 1400 erscheint in der Kirchen-Kunst die »Judensau« ("Rathenau, die gottverdammte Judensau"), so in Erfurt und Magdeburg: Eine Sau, die Synagoge des Satans, säugt kleine Juden-Unmenschen.

Thomas von Aquin hält die Juden für »nach dem Verdienst ihrer Schuld zu ewiger Knechtschaft den Fürsten zugeteilt«.

König Johann ohne Land, der King der Magna Charta, ließ dem reichen Abraham von Bristol täglich einen Zahn ausreißen, bis der -- nach dem Verlust von sieben Zähnen -- 10 000 Silbermark aufgebracht hatte. Duns Scotus, einer der größten Geister des Mittelalters, schlägt vor, den Juden ihre minderjährigen Kinder wegzunehmen.

König Philipp der Schöne von Frankreich beschlagnahmt den gesamten jüdischen Besitz. Frankreich, immer ein Land mit wenig Juden, wird eine reiche Tradition des intellektuellsten Antisemitismus begründen, freilich ohne das deutsche Ausrottungs- und Insektenvertilgungs-Motiv. Frankreich und England, Länder mit einer Zentralgewalt, verjagen die Juden.

Geschlechtsangst, Weltangst, Sündenangst, Angst vor dem eigenen ungebärdigen und ungebändigten Triebleben: Die Klöster, bis zu Martin Luther, sind Brutstätten des Antisemitismus. Die große Pest (1347 bis 1352) wird dem Volk Israel zur Last gelegt, wie später alle Pesten des 20. Jahrhunderts.

Es kommt zu Juden-Gemetzeln in fast allen deutschen Städten. Der Jude ist nicht nur der Teufel, er steckt hinter jeder Hexerei, die ja auch Teufelswerk ist. Thomas von Aquin glaubt an Teufeiskinder, an succubus und incubus. Papst Innozenz VIII. sanktioniert den Hexenglauben und inspiriert den »Hexen-Hammer« der beiden deutschen Psychopathen Sprenger und Institoris, Dominikaner beide. Der Jude erhält Hörner, Schwanz und Bocksbart, er ist der Mittler zum Teufel, wie Jesus der Mittler zum ewigen Leben, zum Licht, zum Heil.

Der Franziskaner Johannes Kapistran, der in Breslau und anderswo Juden hingerichtet hat, wird von Papst Alexander VIII. heiliggesprochen und gilt noch den Nationalsozialisten als unwiderleglicher Schutzhelfer.

Spanien, Deutschland, Polen und Rußland sind die vier Leidensländer der Juden vor Hitler. Spanischen Kindern wird heute noch, mit dem Imprimatur des Bischofs von Jaén, beigebracht, daß die Juden den siebenjährigen Sankt Domingo de Val gekreuzigt hätten. »Er war fromm, deshalb wollten sie ihn töten.«

Der Juden-Mord der Nazis war eine Erfüllung des großen Gerichts Gottes, postuliert eine 1962 unter dem Pseudonym Maurice Pinay in Madrid gedruckte Schrift, eine Schrift mit dem Titel »Verschwörung gegen die Kirche«. bestimmt für das Zweite Vatikanische Konzil.

Spanien und Portugal werden mit dem Ende des 15. Jahrhunderts frei von Glaubens-Juden, aber die Juden-Christen sind der Inquisition, die 1478 als Instrument der spanischen Könige eingerichtet wird, besonders verdächtig. Hitler, dies ist einer der Stabhochsprünge Friedrich Heers, kommt von der Propaganda Fidel, von der Gegenreformation her.

Columbus, meint Heer, war wohl Jude. Die Angst, entlarvt zu werden, stählte seinen Willen zur Entdeckung neuer Welten.

Nur Ignatius von Loyola hält nichts von der »Reinheit des Blutes«, die während der spanischen Gegenreformation einige Aspekte des hitlerschen Rasse-Wahns vorwegnimmt. Er rettet eine ganze Blüte von Juden-Christen in seinen Orden. Erst 1592, nach dem Tode des Ignatius, bekommt die Gesellschaft Jesu ihren Arier-Paragraphen -- auf den sich Hitler bis zu seinem Tode berufen kann.

Der Erzbischof von Toledo, Erzieher des späteren Philipp II., fordert einen reinen Stammbaum für Kleriker. Das Verbrennen von Ketzern wird mit dem Johannes-Evangelium gerechtfertigt: Vertrocknete Rebenzweige sind vom Weinstock Jesu abzuhauen und zu verbrennen. Eine riesenhafte Organisation des Raubes entsteht, die konfiszierten Judenbesitz verwaltet. Wohl 100 000 Menschen sind allein in Spanien zwischen 1480 und 1834 verbrannt worden, darunter viele Juden-Christen und viele Frauen (es gibt viel höher reichende Schätzungen).

Spaniens Niedergang wird von ernsthaften Historikern auf den wahrhaft hitlerschen Rassen-Fetischismus der Inquisition zurückgeführt. Der Großinquisitor Valladares fordert 1681, neuchristliche Ammen sollten mit ihrer Milch nicht mehr altchristliche Kinder verderben dürfen. Zwei Juden-Christen werden verbrannt, nachdem ihre sechsjährige Tochter, deren Hände man zu versengen drohte, zu der Aussage gebracht worden war, die Eltern hätten das Kruzifix beleidigt.

Juden im Exil, Juden aus Spanien und Portugal übernahmen vielfach gegenüber anderen Juden die Attitüde jener Exklusivität, der ihre Väter zum Opfer gefallen waren (richtiger wohl: Sie erhielten sich ihre uralte Exklusivität). In den Synagogen von London und Amsterdam mußten sich die deutschen Juden auf abgesonderte Bänke setzen. Spinoza, der bedeutendste jüdische Geist neben Sigmund Freud, wird von seiner Synagoge exkommuniziert (Rathenau, der perfekt emanzipierte deutsche Jude, der Freund des Kaisers, nennt die einwandernden Ost-Juden eine »asiatische Horde auf märkischem Sand").

Martin Luther, der psychopathisch Große, habe die Deutschen enthemmt, wie später der ihm unebenbürtige Hitler -- findet Heer. Nachdem Luther eine Reihe von gröbsten Maßregeln, am besten Austreibung der Juden, vorgeschlagen hat, kann er befriedigt sterben: »Ich habe das Meine getan, ich bin entschuldigt!« Luther wagt sich in seinen Gewaltreden bis an die Ausrottung der Juden (Reformator Bullinger an Reformator Bucer: Luthers Juden-Episteln seien »von einem Schweinehirten, nicht von einem Seelenhirten geschrieben").

In Polen und Litauen gibt es 1648 über eine halbe Million Juden. An die 200 000 werden in jenem Jahr ermordet, viele als Sklaven in die Türkei verkauft. Die Kette der -- oft von oben initiierten -- Pogrome reißt bis 1914 nicht mehr ab, zwischen 1881 und 1914 fliehen zwei Millionen Juden aus dem Westen Rußlands.

Am Anfang der Leiden des osteuropäischen Judentums steht der Besuch eines päpstlichen Inquisitors im Jahre 1555. Zehn Jahre später bemängelt Kardinal Commendone, daß man den Juden in Polen »noch nicht die gleiche Verachtung entgegenbringt wie anderswo«.

Heer demonstriert, daß ein Drittel der zahlreichen antisemitischen Pamphlete im Frankreich zwischen 1870 und 1894 von katholischen Klerikern verfaßt wurde. Papst Plus IX. segnet jenen Henri Gougenot, der die christlichen Völker warnt, vor der Verjudung auf der Hut zu sein. »Nieder mit den Juden!« schreit der Monsignore Justin Fèvre.

Als der Antisemit Morès stirbt, der die ersten Schlägertrupps gegen Juden organisiert hat, nimmt der Kardinalerzbischof von Paris in Notre-Dame am Begräbnis teil, es ist der 15. Juli 1896. Papst Leo XIII. segnet das Gebetbuch des Antisemiten Taxil.

Im Zeichen der Dreyfus-Affäre gibt es die heilige Gleichsetzung: Die Armee kann nicht lügen, wie die Kirche nicht lügen kann. Beide können nicht irren. »Civiltà cattolica«, die Halbmonatsschrift der italienischen Jesuiten, kommentiert 1898: »Der Jude ist von Gott geschaffen, um überall als Spion zu dienen, wo ein Verrat sich vorbereitet.«

Der Major Esterhazy, der die Dreyfus belastenden Dokumente zusammengefälscht hat, sagt zu englischen Journalisten: »Ich würde die Juden ohne Haß und Zorn wie Kaninchen erschlagen.« Und: »Ich möchte hundert in einem Zimmer einschließen, und mit einem Knüppel in der Hand möchte ich sie alle totschlagen.«

350 Geistliche spenden für Frau und Kind des Obersten Henry, des Hauptfälschers in der Dreyfus-Affäre, der sich selbst im Armeegefängnis umbrachte (Heer behauptet, er sei vom Generalstab umgebracht worden). Kardinalstaatssekretär Rampolla drückt seine Freude über die Verurteilung von Dreyfus öffentlich aus.

Papst Leo XIII. erregt die Verachtung der französischen Kleriker, als er zur Mäßigung rät. Der Bischof von Nancy erklärt noch 1916, der Glaube an die Unschuld des Hauptmanns Dreyfus sei gleichbedeutend mit Apostasie, mit Abfall vom Glauben der Kirche.

Am 4. März 1882 behauptet »Civiltà cattolica«, jeder rechtgläubige Jude sei verpflichtet, frisches oder getrocknetes Blut eines christlichen Kindes in Speise und Trank zu sich zu nehmen. 1928 wird in Rom die »Gesellschaft der Freunde Israels« vom Papst aufgelöst. 1939 hebt der Pacelli-Papst die kirchliche Verurteilung der antidemokratischen, antisemitischen »action francaise« auf.

Heers Fazit: Die Kirche war »spirituell, geistig, geistlich unfähig in erster und letzter Linie«, auch nur die Juden Roms dem Zugriff der Mörder zu entreißen -- eine schlüssig und lückenlos bewiesene Anklage.

Heer erspart seinen Lesern nicht den Nachweis, daß aktiver Antisemitismus auch nach 1933 in katholischen Zirkeln, in und außerhalb Deutschlands, zu Hause war; daß europäische Regierungen auch ohne unmittelbaren Zwang von Seiten Hitlers Juden unterdrückten und diskriminierten (Polen, Ungarn, Rumänien); daß alle dem Namen nach christlichen Länder die Flucht der Juden verhinderten und erschwerten -- einzig die islamische Türkei nimmt die Juden und die Hauptquartiere ihrer notdürftig organisierten Untergrund-Auswanderung auf.

Die Christenheit, geschult durch 1900 Jahre christlicher Theologie, beruhigt sich bei jener Erkenntnis, der Pater Ludwig von Hertling SJ, emeritierter Kirchengeschichtler der Gregoriana in Rom, noch 1962 in der hochangesehenen deutschen Jesuiten-Zeitschrift »Stimmen der Zeit« Ausdruck verleihen durfte: Die Leiden der Juden seien gewissermaßen als ein Beweis für Gottes Gnade anzusehen.

Über den Papst jener Jahre der wütigsten, der Millionen Juden-Morde, über den Pacelli-Papst, sagt Heer, er sei zeitlebens ein Gefangener seines in München 1919 erlittenen Schocks gewesen, als Räte-Kommunisten ihn, den bayerischen Nuntius, insultierten und bedrängten. Noch Jahrzehnte später habe er in Erinnerungen an dieses Erlebnis nächtens auf gestöhnt (einzige, unsichere Quelle wohl Galeazzi-Lisi, der indiskrete Leibarzt). Mit Hitler hat Pacelli einen »gemeinsamen Feind": den Atheismus. Seine Berater betrachteten Hitlers Panzer-Divisionen »als die rechte Hand Gottes«.

Pacelli, sagt Heer, habe, »wie wohl alle angstneurotisch gebundenen Menschen«, keine innere Entwicklung durchgemacht. Er sei »ganz unschöpferisch« gewesen« »verhemmt": ein »Papst, der sich nicht im Stuhle rückwärts anlehnen kann, der in Gesellschaft keinen Bissen über die Lippen bringt«. Er studiert seine Pose, sein Schauspiel vor der Öffentlichkeit sorgfältig ein. Und ausgerechnet dieser Papst erklärt am 2. November 1954: »Alle Aspekte des Menschen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gehen die Kirche an, unterstehen ihrer Autorität.«

So kommt Heer zu dem Schluß, die deutsche Verantwortlichkeit für Hitlers Verbrechen an den Juden sei nur »eine sekundäre Verantwortlichkeit«. Zustimmend zitiert er den anglikanischen Geistlichen Dr. James Parkes: »Die christliche Kirche ist· verantwortlich für die Ausrottung der sechs Millionen Juden.«

Mir scheint, sie ist nicht primär, sie ist nur mitverantwortlich. Es geht wohl doch nicht an, Hitler als das ausschließliche Produkt christlicher Erziehung und christlicher Traditionen aufzufassen. Schließlich war er auch auf eine spezielle, nur ihm eigene Art konsequent. Schließlich gibt es keinen Papst, der die physische Ausrottung der Juden pauschal zum Gebot erhoben hätte. Schließlich blieb den meisten Juden unter päpstlichem Regime die Chance, ihrem Glauben abzusagen. Wenn die christlichen Kirchen nichts Nennenswertes gegen die Ausrottung der Juden unternommen haben, so doch auch, weil sie ihre eigenen Institutionen »heil« über den Krieg bringen wollten. Physisch heil. Die Kirchenführer scheuten das Märtyrertum.

Freilich, wenn Luigi Maria Carli, Wortführer einer Gruppe des italienischen Episkopats während des Zweiten Vatikanums, im März 1965 behauptet,

> das ganze jüdische Volk in der Zeit Jesu sei für das Verbrechen des Gottesmordes verantwortlich;

> an der Verantwortung für den Gottesmord habe auch der heutige Judaismus objektiv teil, sofern er die freie und freiwillige Fortsetzung des damaligen Judentums darstelle;

> mithin seien auch heutige Juden von Gott verworfen und verflucht:

dann riskiert dieser Bischof, daß der geistige Kampf gegen die Dogmen der Kirche allgemeine Menschenpflicht wird. Man wird ihm dann entgegnen: Der Mensch Jesus war kein Gott, nicht die Juden haben ihn hingerichtet; er war sowenig ein Gott wie Giordano Bruno, den die Römische Kirche nebst einigen anderen hundert, tausend, zehntausend Märtyrern gemordet hat.

Will der österreichische Katholik Friedrich Heer diesen für ihn dornigen Weg gehen oder auch nur weisen? Es scheint ein wenig so. In mitreißendem Entzücken preist er die messianischen Gestalten moderner jüdischer Geist- und-Welt-Durchdringung, Karl Marx, Sigmund Freud, Leo Trotzki, »Leuchtfeuer in der geistigen Geschichte der Menschheit«.

Bei Freud, so meint Heer, tritt der Messianismus in nüchternster, gestähltester, »pessimistischster« Prägung (Gänsefüßchen von Heer) wie ein geläutertes Erz zutage.

Trotzki sieht er »einen leidenschaftlichen Kampf für Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe zum Leben, zur Frau, zu allem Schönen« bestreiten.

Marx »sucht das messianische jüdische Element in sich denkerisch aufzubereiten und wissenschaftlich zu disziplinieren«. Sein Ziel ist das Reich Gottes auf Erden. Das Reich des zu sich selbst befreiten Menschen in der künftigen kommunistischen Gesellschaft. Ich kann hier nur Stichworte geben für das Gestein, das der Vulkan Heer, ohne es zu scheiden, aus sich herausschleudert; die von Heer Illuminierten, Spinoza, Heine, Moses Mendelssohn, Moses Hess, Rathenau, Rahel Varnhagen, Theodor Herzl, muß ich übergehen. Heer preist sie in Zungen.

Dem Christentum rät er eine Selbstanalyse an, die zu dem Menschen Jesus, dem Juden Jesus zurückführen soll. Judentum und Christentum sollen einander »positiv liquidieren«, sollen das »alteigene Potential verflüssigen«.

Die »ewigen Werte« seien nur wahr und wirklich, wenn sie inkarniert würden im Menschen, wenn sie Fleisch würden in der Gesellschaft des Menschen. Heer sieht Jesus als den »frohen, selbstsicheren jungen Juden aus Galiläa«, der »durch die blumenreichen, weinreichen, fischreichen Gefilde des Heiligen Landes zieht und die frohe Botschaft vom nahen Kommen des Reiches Gottes verkündet«.

Die Erwählung Israels (wohl nicht der Staatlichkeit Israels?) besteht in Heers Augen weiter fort. Im Kampf um die Vergottung Jesu, sagt Heer, und dies ist wohl die -- unbewußt-absichtlich -- schwächste Stelle seines Buches, sei man »weit übers Ziel hinausgeschossen«.

Wo, so darf man fragen, liegt Heers Ziel? Entweder war Jesus Gott, oder er war Mensch, einen Gottmenschen konnte man sich wohl nur bis ins Mittelalter vorstellen, und auch nicht recht: Denn plötzlich brauchte man »die Mittlerin« Maria, Jesus war als Himmelskaiser und oberster Richter zu sehr entrückt.

Man kann unschwer voraussehen, daß die Kirche, jede Kirche, sich diesem franziskanischen Aufbruch versagen wird, und, will sie sich nicht überflüssig machen, nicht verflüssigen, nicht liquidieren, auch versagen muß.

Heer geht aufs Ganze, ihn schreckt eine verflüssigte Masse Kirche nicht. Er sieht eine Kirche am Werk, die das Duell und, vor kurzem noch, die Einäscherung verbietet, nicht aber die Auslöschung der des Gottesmordes schuldigen Juden oder gar der ganzen Menschheit; er sieht eine Kirche am Werk, deren Hauptgeschäft es ist, eine immer glatter polierte Einpassung des Individuums in das Funktionieren der Wirtschaftsgesellschaft zu besorgen.

Ob Judenkinder mit vier, vierzehn oder vierzig Jahren ermordet werden, sagt nichts über ihr Seelenheil, für das die Kirche im übrigen nicht zuständig ist. Wenn die Menschheit sich auslöscht, um der Ehre Gottes willen, hat sie die Seelen noch lange nicht verdorben. Das Christentum, so sagt Heer, bereitet seine eigene »Endlösung« vor, namentlich die deutsche »Atombomben-Theologie«.

Heer, auf Differenzierung nicht gerade erpicht, schreibt:« Adolf Eichmann ... ist ein Normalfall. Wie er arbeiten heute Millionen Menschen in Rüstungsbetrieben, die für einen nuklearen Krieg Waffen und Geräte produzieren.«

Was folgt daraus? Soll die Kirche die Herstellung von Atombomben verdammen? Heer sagt: »Ja, unbedingt.«

Ich meine: Das kann sie nicht. Der von der Kirche unabhängige einzelne muß selbst entscheiden, ob er an Atomwaffen mitarbeiten will. Würde

* Statue in San Lorenzo. Auf dem Thron rechts Papst Paul VI.

etwa Israel Atombomben bauen, dürfte Ägypten das dann nicht tun, und umgekehrt? Allenfalls könnte die Kirche jeden, auch den reaktiven Einsatz von Atomwaffen verdammen, aber auch das ist schon problematisch, im übrigen auch ganz unbedeutend (ich wäre schon zufrieden, wenn der Papst, anstatt eucharistischen Tourismus zu entfalten, die organisierte Barbarei der USA in Vietnam verurteilen würde; aber das kann er wieder mal nicht, weil ihm der Kardinal Spellman dann mit seinen Gläubigen davonlief e).

Nein, die Schlußfolgerung aus Friedrich Heers zwischen zwei Buchdeckeln eingebundener Atombombe ist von anderer, für die Autorität der christlichen Kirchen nicht minder gefährlicher Art: Da sie für die entsetzlichsten gesellschaftlichen Mißstände nie ein Heilmittel wußten noch heute wissen, das nicht jedem platterdings vernünftigen Menschen leichter zugänglich wäre als ihren verkrusteten Hierarchien, da sie mit der Diesseits-Durchdringung nicht Ernst machen können, will der Mensch von heute auch hinsichtlich vergleichsweise weniger wichtiger Praktiken, etwa seines Geschlechtslebens, von den Kirchen nicht belehrt und angewiesen, sondern allenfalls brüderlich beraten werden.

Die Kirchen haben der Gesellschaft nichts Nennenswertes mehr zu sagen. Wenn sie nun auch noch zugeben, daß Jesus ein Mensch und kein Gott war, oder, um mit Friedrich Heer zu sprechen, der Bruder des Wurms, der Enkel des Affen, dann ist es aus mit ihnen.

Friedrich Heer stellt seiner Kirche und allen Kirchen die Frage Hamlets.

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