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Dinos Die Saurier schlagen zurück

aus DER SPIEGEL 35/1993

Ein Insekt sticht ein Tier, saugt mit dem Rüssel dessen Blut, surrt fort, setzt sich auf einen Baum, wird von einem Tropfen Harz getroffen und eingesargt, für die Ewigkeit in Bernstein versiegelt. Das passierte (seien wir nicht kleinlich) vor rund 150 Millionen Jahren, in grauester Vorzeit also, als es noch längst keine Menschen gab, die Müll, Filme, Märchen produzierten und Gene manipulierten.

Jetzt, ein paar Millionen Jahre später, setzen Genforscher einen Bohrer an den erstarrten Tropfen aus der Jura-Zeit, entnehmen das gesaugte Blut, entschlüsseln die DNS-Kette, mixen sie mit Froschgenen und brüten daraus einen Dinosaurier, das ausgestorbenste aller Großtiere, das die Phantasie der Kinder (in jedem Alter bis 87) bevölkert.

So sieht ein Märchen an der Schwelle des Genmanipulation-Zeitalters aus, so macht man aus einer Mücke mehr als nur einen Elefanten, nämlich einen Saurier. Und so lautet die Voraussetzung für Steven Spielbergs »Jurassic Park«, längst schon wieder in den USA der kassenträchtigste Film aller Zeiten, der jetzt die deutschen Kinos erreicht.

Das Märchen von der aus dem genetischen Fingerabdruck rekonstruierten fossilen Riesenechse ist nicht - noch nicht? - wahr. Aber filmische Wirklichkeit ist ein anderes Märchen, ein anderes technisch-wissenschaftliches Wunder: nämlich das der filmischen Reanimation von Brachiosaurus, Dilophosaurus, Tyrannosaurus rex, Velociraptor und Triceratops (wer diese Tiere nicht kennt, sollte Erstkläßler aus seinem Bekanntenkreis um Auskunft angehen).

Das ist das wahre Wunder des Films: daß nämlich, wenn auch insgesamt nur etwa sechs Minuten lang, diese seltsamen Lindwürmer, Urvögel und Drachen aus der menschenleeren Urzeit, dröhnend, Laub fressend oder Tiere und Menschen zerfleischend, auf der Leinwand täuschend echt lebendig werden, sichtbar atmen, krallen, flüchten, ihre menschlichen Rekonstrukteure aus beseelten Augen anblicken.

Es gibt Szenen von äsenden Riesensauriern, die in einem Tal Bäume abfressen; wo känguruhähnliche kleine Saurier (Gallimimus) vor freßgierigen Artgenossen in galoppierenden Herden flüchten, mitten unter ihnen drei Menschen - Szenen, in denen einem schier der Atem stockt, weil die Kamera scheinbar mühelos eine Welt wiederbelebt, die sonst nur in Skeletten in Naturkundemuseen vorhanden ist.

Spielberg, der große Kinozauberer, der Film-Feldherr, der immer neue Phanatasiereiche erobert und erfolgreich ausbeutet, macht's möglich. Sein entscheidender Helfer: Dennis Muren, dessen Computergrafik-Künste den Zauber und bedrohlichen Reiz dieser unheimlichen Begegnung zwischen Mensch und Urzeittier zum Leben erwecken. Wer sich seine Augen nicht durch kulturhochmütige Vorurteile verkleistern ließ, konnte schon in »Terminator 2« Murens schöpferische Kunst an den Metallmenschen und ihren Metamorphosen bewundern. Kino als Werkstatt neuer Mythologien.

So treffen auch Einwände die Lebendigkeit der fossilen Wiedergänger nicht, die da meinen, wir wüßten von den Sauriern viel zuwenig, um sie zu rekonstruieren: Waren sie wirklich grün wie Krokodile, konnten sie ihre massigen Körper nur im Wasser bewegen oder wirklich über Wiesen stampfen, lebten sie allein oder zutraulich in Herden?

Sie leben, wie Spielberg eindrucksvoll beweist, in der kollektiven (Kinder-) Phantasie, die sich aus wissenschaftlichen Spekulationen, Drachensagen und Zoobesuchen speist.

»Jurassic Park« erzählt die Geschichte von einem ehemaligen Flohzirkus-Unternehmer, der sich mit den Riesenechsen einen Kindheitstraum verwirklicht und ihn geschäftlich ausbeuten will (fast ein Selbstporträt Spielbergs also). Er hat Dinos aus Bernstein rekonstruiert und will sie in einem großen »Themen-Park« auf einer Insel Menschen zugänglich machen.

Natürlich leben die großen Viecher hinter Hochspannungsdrähten, natürlich dürfen die Menschen sie nur aus sicheren Fahrzeugen betrachten. Alles wirkt wie eine Mischung aus Naturpark, Disneyworld und Sight-Seeing-Tour durch die Universal-Studios (wo Spielberg ja sein Büro hat und täglich Anschauungsunterricht nehmen kann).

Zu einer ersten Probebesichtigung hat der Saurier-Park-Erfinder zwei Paläontologen (Mann und Frau und ineinander verliebt), seine beiden Enkelkinder und einen skeptischen Chaos-Theoretiker geladen.

Was dann passiert, ist das Chaos, ist die Katastrophe; aus der zoologischen Fahrt in die Vergangenheit wird eine blutige Reise auf einer alptraumartigen Geisterbahn: Die Natur schlägt zurück. Sie schlägt zurück als Unwetter, das die Insel heimsucht. Sie schlägt zurück als menschliche Schurkerei, als das geschäftstüchtig Böse, das alles mißbraucht, was menschlicher Erfindungsgeist sich erdacht hat.

Und auf einmal ist alles ein schreckliches, pures Abenteuer, Mensch und Bestie kämpfen gegeneinander und gegen die entfesselten Naturelemente.

Wer über solchen Trivial-Klimbim die Nase rümpfen möchte, übersieht zwei entscheidende Dinge. Einmal Spielbergs Meisterschaft im Erzeugen des Schreckens und der Spannung.

Spielberg weiß, daß das Grauen am größten ist, wenn es nicht sichtbar ist, sondern sich in der Phantasie des Publikums abspielt. Also setzt er Geräusche ein, läßt durch die Saurier (als ihr schrecklicher Vorbote) die Erde beben, zeigt die entsetzten Gesichter als Spiegel des Schrecklichen. Da wird der Tyrannosaurus rex, ein gräßlicher Fleischfresser, mit einem ganzen Rind gefüttert. Man sieht, wie ein Käfig ins Laubgehege gelassen wird, sieht und hört dann nur noch im Rascheln panische Bewegungen, ahnt, wie das große Rind zerfleischt wird.

Spielberg ist ein Meister der effektiven Verzögerung und des Timings. Er läßt einen knochenausgrabenden Forscher erzählen, auf welch furchtbare Weise eine Art saurischer Raubvögel ihre lebendige Beute krallten und zerfleischten. Als das fast eine Filmstunde später einem Opfer passiert, genügt die Erinnerung an das Erzählte, genügen ein paar schattenhafte Attacken, um blankes Entsetzen zu erzeugen.

Es gibt Kinder, die über einen toten 10 000-Volt-Gitterzaun klettern, während eine ahnungslose Wissenschaftlerin fieberhaft und erfolgreich versucht, den Zaun wieder unter Strom zu setzen - alles Szenen, die Spielberg als Meister des Horror-suspense erweisen.

Aber da ist etwas Zweites, mindestens ebenso Wichtiges: der Horror transportiert eine kollektive Zeitstimmung, mobilisiert die Ängste und die Trauer der Menschen darüber, was sie mit der Natur angerichtet haben. Er zeigt, wie in all unsere Sicherheiten das Chaos einzubrechen droht - wie ein Stromausfall in Manhattan, eine Überschwemmung am regulierten Mississippi, ein Vulkanausbruch auf den Philippinen, ein Erdbeben in San Francisco.

Der Film mobilisiert auch unbewußte und bewußte Vorbehalte gegen Genmanipulationen. Wie, wenn wir Zauberlehrlinge den Besen nicht mehr in die Ecke, den Geist nicht mehr zurück in die Flasche bekommen? Gerüchte über gezüchtete Viren, wie sie nach den ersten Ausbrüchen von Aids in Umlauf kamen, sind dafür ein Indiz.

Natürlich macht er das alles mit der Routine der filmischen Beutelschneiderei. Er beklagt die Geschäftemacherei, die er betreibt. Er konstruiert den Themen-Park, den er anprangert.

Und er setzt in Humphrey-Bogart-Manier (seit »Casablanca« das wirksamste Rezept) darauf, daß Menschen nur Bewährung brauchen, um sich zu beweisen - ein Kampf ums Dasein. Schon werden aus Zynikern Heroen und aus Kinderfeinden Kinderretter; Katastrophen als Feuerproben, als Bewährungshilfe gegen den Egoismus.

Spielberg beherrscht dieses Instrumentarium bis zur Perfektion. Und der Kinderwahrheit über die Grausamkeit der Dinos geht er fanatisch bis ins letzte Detail nach - so realitätsgetreu, daß der Film für die wesentliche Zielgruppe der Vorzwölfjährigen wahrscheinlich unzumutbar ist. Wegen drohender Alpträume danach. Ein filmischer Kinderpark, der wegen Gefahr für Kinder für sie geschlossen bleibt. Y

Hellmuth Karasek
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