Im kühlen, grauen Vorführraum der Skywalker-Studios in Santa Monica bewegen die jungen Kampagnen-Offiziere von Warner Brothers artig die Hände. Aus den USA, aus Italien, Frankreich und Deutschland sind sie gekommen, um weltweit ein Produkt zu verkaufen, von dem sie bisher nur den Namen kennen: »JFK«. Die Ermordung John F. Kennedys - der Film.
Sie applaudieren, und der Mann, der sich vor ihnen aufgebaut hat, hebt abwehrend die Hände: »Noch nicht«, sagt Oliver Stone. Er lächelt schmal. Seine schwarzen Haare sind wirr. Sein Gesicht hat die Farbe von altem Grießbrei. Sein weißes Hemd wirkt, als habe er es über einen Kampfdrillich gestreift.
Er ist angetreten, um einen Staatsstreich aufzudecken. Er will die Drahtzieher der Verschwörung gegen Kennedy entlarven und damit ein amerikanisches Trauma beenden. Oliver Stone ist Hamlet, der die Mörder seines Vaters überführt. Ein Hamlet mit Muskeln, bereit, auch den schmutzigsten Trick anzuwenden, um ein Verbrechen zu sühnen. Dies ist die erste Vorführung des Films, auf den Tag genau 28 Jahre nach den tödlichen Schüssen von Dallas.
So sieht kein Sieger aus. Eher ein Überlebender. Hinter ihm liegen 79 Drehtage und Monate im Schneideraum, um 120 Stunden Material auf gut drei zu kondensieren. Hinter ihm liegen zwei Jahre an Recherchen und Gesprächen. Mit Experten, CIA-Agenten, Medizinern, Verschwörungs-Freaks.
Vor allem aber liegen die Schlachten mit der Presse hinter ihm. Sein Film wurde schon in der Vorbereitungsphase in Grund und Boden geschossen. Man stahl die Drehbücher und zitierte seitenweise daraus. »Dallas in Wonderland« hießen die Schlagzeilen oder: »The Shooting of JFK«. Die Journalisten warfen Oliver Stone vor, er habe sich mit obskuren Beratern eingelassen, nur um einen spannenden Thriller zu drehen. Er verfälsche die Geschichte.
Stone setzte sich zur Wehr. Für ihn waren die Journalisten »Bastarde«. Seine Reaktionen mochten wahnhaft sein, doch dieser Film wurde, wie alles, was in den USA mit Kennedy zu tun hat, zum heiligen Krieg. »In diesem Land marschiert der Faschismus. Es gibt eine Geheimregierung und ein Pressekartell des Verschweigens.«
Oliver Stones Weltbild ist einfach. Er denkt mit dem Preßlufthammer. Er hat Wut. Er möchte die Welt von dem Bösen erlösen, mit einem einzigen Hieb. Er ist der geborene Attentäter.
Er wuchs auf in den fünfziger Jahren, in einer Kindheitsidylle mit Truthahn und Fahneneid. Ein Junge der Goldwater-Ära, Mittelklasse, gute Schulen. Eine traumatische Erfahrung war die Scheidung seiner Eltern. Er meldete sich freiwillig nach Vietnam, um die Gefahr kennenzulernen und seinem Land zu dienen. Und er kehrte zurück als Konvertit. Seine Antwort auf die Lösung des Elends, das er im Krieg gesehen hatte: »Ich sagte, warum steigen wir nicht aufs nächste Dach und erschießen Nixon?«
Er schoß mit Phantasien, mit Bildern. Er hungerte sich als Drehbuchschreiber durch in New York, er pumpte sich mit Drogen voll, er lebte auf der Schattenseite und assistierte irgendwann bei Scorseses Amokläufer-Film »Taxi Driver«, der ziemlich genau die Hölle schildert, die er inzwischen selbst kennengelernt hatte. Die Junkies, die Nutten, die Engel und der Wunsch nach Reinheit. Travis Bickle, der Filmheld, ist Vietnam-Veteran wie er.
Für das Drehbuch des Drogenthrillers »Midnight Express« erhielt er zu Recht den Oscar. Sein Film »Talk Radio« wurde ein nervenzerrendes Meisterwerk über die Medien, über die Einsamkeit und den Faschismus. Und mit »Wall Street« sprach er das ultimative Urteil über das gierige Reagan-Jahrzehnt.
Stone wurde zum Preisbullen Hollywoods. Sein autobiographischer Vietnam-Film »Platoon« wurde mit Oscars überhäuft. Alle seine Filme sind beliebter beim Publikum als bei der Kritik. Alle seine Filme sind kämpferisch, sind engagiert. Alle Filme, sagen die Kritiker, wollen mit Getöse Türen eintreten, die längst offenstehen.
Als er während der Dreharbeiten zu »Geboren am 4. Juli« - ebenfalls mit Oscars gesegnet - ein Buch in die Hände bekam, das den Titel trug: »Den Attentätern auf der Spur«, hatte er seinen neuen Filmhelden gefunden. Jim Garrison hatte es geschrieben, der Oberstaatsanwalt von New Orleans, der 1967 den Geschäftsmann Clay Shaw der Verschwörung zum Mord an Kennedy angeklagt hatte. Ein einzelner im Kampf gegen das Unrecht. Ein Film nach Stones Geschmack - ein Thriller, den das Leben schrieb.
Oder nicht? Plötzlich schien der Boden zu schwanken. Garrison gilt unter Experten als obskur. Seine Trinkereien, seine Korruptionsafffären waren bekannt. Seinen Prozeß, ein Medienspektakel, hatte er 1969 mit Pauken und Trompeten verloren. Allerdings war Garrison der einzige, der in einem öffentlichen Prozeß die haarsträubenden Befunde der regierungsamtlichen Warren-Kommission angezweifelt hatte, die schon wenige Wochen nach dem Attentat den Ex-Marineinfanteristen Lee Harvey Oswald als Alleintäter ausgemacht hatte.
Wie kann ein Mann mit einem ungenauen Mannlicher-Carcano-Gewehr innerhalb von sechs Sekunden zwei oder gar drei derartig präzise Schüsse abgeben? Und war da nicht noch ein Schuß, der den Präsidenten von vorn traf?
Eigentlich hat der Film, der an diesem Nachmittag vorgeführt wird, keine Chance. Denn der berühmteste Kennedy-Film wurde bereits gedreht. Von einem Amateur namens Abraham Zapruder. Er stand unter den Schaulustigen in Dallas, als die Präsidentenkavalkade an jenem 22. November 1963 in die Elm Street einbog. Kennedy im Fond seiner offenen Limousine, lächelnd, winkend. Plötzlich faßt er sich irritiert an den Hals. Jacqueline beugt sich fragend zu ihm. Sechs quälende Sekunden verstreichen. Dann zuckt der Schädel nach hinten, in einer dunkelroten Explosion.
In dieser dunklen Wolke aus Blut und Knochensplittern versank für viele, auch für Oliver Stone, der Traum von einem besseren Amerika. Der 22. November 1963 als manichäische Zeitgrenze: Davor war Licht. Danach war Dunkelheit. Danach: 58 000 getötete Amerikaner in Vietnam. Die Todesschüsse auf Martin Luther King, auf Robert Kennedy. Die Rassenunruhen. Die Geiseln in Teheran. Watergate, Irangate, Korruptionsskandale, die Machtübernahme der Zyniker und Technokraten.
John F. Kennedy, das war die Jugend, der Aufbruch, der Scheck auf die Zukunft. Von diesem Bild ist Stone infiziert wie alle Amerikaner. Und je gewalttätiger die Gegenwart, desto intensiver der rückwärtsgewandte Kitsch. Der Kitsch, der nichts ist als verdrängte Gewalt, ein umformulierter Attentatswunsch. Kitsch, der nicht minder verheerend ist, weil er eine noch raffiniertere Falle ist.
Der Kennedy-Mythos bedient alle. Für die Schwiegermütter aus dem Mittelwesten waren die Kennedys die Royal Family. Und sie bleiben es in alle Ewigkeit.
Ein häßlicher Vergewaltigungs-Prozeß wie der, in den der Neffe William jetzt in Palm Beach verwickelt war (siehe Seite 196), ändert daran wenig. Und für die Generation Oliver Stones waren die Kennedys eine Frühform des Rock''n''Roll in der Politik. Sex und Drogen im Weißen Haus. Die Spritzen von Dr. Feelgood, Marihuana und jede Menge Groupies. Na und? Nichts, was wir nicht auch gern hätten.
Kennedy, die Lichtgestalt aus Camelot. Was hilft es da, wenn Historiker gegen die kollektive Überbelichtung ankämpfen? Wenn etwa Michael Beschloss über 700 detailversessene, spannende Seiten nachweist, wie riskant und oft dilettantisch Kennedys Manöver am Rande eines dritten Weltkrieges waren*.
Sicher, er hatte die Nerven, die Stabschefs an einer offenen Kuba-Invasion zu hindern. Spätere Präsidenten gingen weniger zimperlich mit fremden Territorien um. Ein antikommunistischer Politmacho, ein Hasardeur blieb er doch: »Die Kuba-Krise«, sagte Kennedy einige Tage nachdem die sowjetischen Schiffe beigedreht hatten, »war eine aufregende Abwechslung, und man hatte den Eindruck, daß etwas passierte.«
Daß die jugendlichen Kennedys keineswegs Idealisten, sondern machtgeile Sechziger-Jahre-Yuppies waren, läßt sich nachlesen. Nachlesen läßt sich, wie sie sich, mit dem Geld und im Auftrag des Sippenfürsten, der sein Vermögen mit geschmuggeltem Whisky in der Prohibitionszeit gemacht hatte, ins Weiße Haus zockten und von den Bürgerrechtsbewegungen zunächst sehr wenig hielten; nachlesen auch, daß der Clan die gefährliche Freundschaft einiger Mafia-Bosse genoß. Kurz und zynisch: Es gab eine ganze Menge Leute, die gute Gründe hatten, auf den Präsidenten zu schießen. Doch die Kennedy-Legende strahlt.
Sie läßt sich auch nicht von der Tatsache verdunkeln, daß die Mehrheit der amerikanischen Historiker JFK für den »meistüberschätzten Präsidenten der amerikanischen Geschichte« hält und daß Richard Walton von dem »vielleicht gefährlichsten kalten Krieger, den wir je hatten«, spricht.
Denn eines bedeutete John F. Kennedy seit den Schüssen in Dallas: die Möglichkeit. Die Möglichkeit, daß alles _(* Michael R. Beschloss: »Powergame«. ) _(Kennedy und Chruschtschow, die ) _(Krisenjahre, 1960 - 1963. Econ-Verlag, ) _(Düsseldorf, 1991; 776 Seiten; 58 Mark. ) hätte anders ausgehen können. Hat er nicht in den Wochen vor dem Attentat darüber nachgedacht, die Militärberater aus Vietnam zurückzurufen? Stand er nicht kurz vor einem Nuklear-Waffenabkommen mit Chruschtschow, stand die Welt nicht kurz vor einem neuen Tauwetter?
Natürlich überstrahlt die Kennedy-Legende, die der Traum des guten, idealistischen Amerika ist, auch Stones »JFK«. Wir sehen unruhig flackernde Schwarzweiß-Bilder. Kennedy bei der Amtseinführung, Kennedy als Redner, Kennedy privat. Amateurfilm-Sequenzen, Fernsehbilder, Tonfetzen im Video-Clip-Tempo. Kennedy in Uniform, in Badehose. Der junge Präsident als Star, umringt von Autogrammjägern, an der Seite seiner attraktiven Präsidentengattin. Und dann, immer wieder, Kennedy im Fond der Limousine, lächelnd, winkend - gleich werden die Bilder verwackeln.
All diese Bilder haben nur eine Botschaft: Mein Gott, sah er gut aus, dieser Präsident. Und er war so jung. Eine machtvollere Lokomotive für einen Kinofilm läßt sich nicht denken. Und der braucht diesen Anschub, denn er ist lang.
In einem Pub in New Orleans läuft die Nachricht vom Anschlag auf den Präsidenten im Fernsehen. Dunkle Wände, dunkles Bier, alte Männer mit Flanellhemden und Schweißtüchern, Billardspieler, und alle schauen gebannt auf den Fernseher. Kevin Costner sitzt unter ihnen. Er spielt den jungen Staatsanwalt Jim Garrison. Er starrt auf den Fernseher. Er sieht die Bilder. Er traut seinen Augen nicht.
Am allerwenigsten aber scheint er Jim Garrison zu trauen, den er spielen soll. Er zeigt keine Figur, sondern ihre Fassade. »Oh no«, läßt er Garrison ohne sichtbare Regung sagen, als er die Nachricht hört.
Und dann setzt Costner schwerfällig seinen Garrison in Bewegung: der sture, verschlossene Conferencier einer Recherche. Er findet heraus, daß sich Oswald im Sommer vor dem Attentat in der rechtsradikalen Exilkubaner-Szene in New Orleans herumgetrieben hat. Er trifft auf den kleinen Gauner David Ferrie, ein nervöses kettenrauchendes Wiesel mit roter Perücke, der ihn auf die Spur des Geschäftsmannes Clay Shaw führt, eines reichen Homosexuellen. Nun jagt Garrison Clay Shaw.
New Orleans ist eine pittoreske Kulisse: der Mardi Gras, schwerer Tropenregen, dunkle Hinterzimmer und Zeugen im Zuchthaus - meistens sitzen zwei Menschen zusammen und unterhalten sich. Oder sie schauen in den Fernseher, wo die ersten Nachrichten aus Vietnam gezeigt werden, oder das Attentat auf Bobby Kennedy.
Garrisons Frau ist Sissy Spacek. Ab und zu kommt sie in sein Arbeitszimmer und sagt: »Du arbeitest zuviel.« Ab und zu weint sie, weil ihr Mann soviel arbeitet. Und Kevin Costner nickt, mit offenem Mund: Eigentlich weiß er auch nicht, was das alles soll. Er glaubt sowenig wie wir an diesen Clay Shaw.
Ein Anruf befreit ihn und uns nach über einer Stunde aus dieser Sackgasse. Ein neuer Informant ist aufgetaucht, und mit ihm eine neue Spur, die in die große Politik führt. Mr. Costner goes to Washington: Dort sitzt er längere Zeit mit dem Informanten, der sich Mr. X nennt und von Mr. Donald Sutherland gegeben wird, auf einer Bank. Mr. X erzählt, von Vietnam, vom Pentagon, von Geheimgruppen der Militärs - nur selten unterbrochen von Costners Phrasen der Machart: »Ich kann einfach nicht glauben, daß sie ihn umbringen wollten, nur weil er Dinge ändern wollte.«
Nun tankt der Film auf. Aus dem lustlosen, sinnlosen New-Orleans-Krimi wird ein dokumentarischer Politthriller. Nun werden die richtigen Fragen gestellt. Wer profitierte von dem Attentat? Warum wurde die Paraderoute in Dallas plötzlich geändert? Warum wurde der obligatorische Eskorten-Schutz reduziert? Warum waren die Fenster nicht geschlossen? Warum wurden die verdächtigen Stadtstreicher nicht erkennungsdienstlich behandelt? Warum verschwand die Telex-Warnung eines bevorstehenden Attentats aus den Polizeiordnern?
Warum war das Militär bei der Autopsie zugegen? Warum verschwand der Bericht? Warum verschwanden wichtige Zeugenaussagen aus Dallas? Warum wurden Zeugen unter Druck gesetzt? Wie kommt es, daß kurz nach dem Attentat 30 Polizeiautos vor einem Kino in der Innenstadt aufkreuzen, nur um einen Mann festzunehmen, der sich keine Karte kaufen wollte? Und welcher Zufall führte Regie, als sich ausgerechnet dieser Mann als Lee Harvey Oswald entpuppte?
Die Antworten auf diese Fragen zeigt Oliver-Stone in Schwarzweiß-Sequenzen, die in den Film eingeschossen sind: Er zeigt die Plotter bei der Arbeit. Die Einsatzbesprechungen, die Positionierung der Scharfschützen, die Manipulationen bei der Autopsie. Für ihn haben die Hypothesen den Rang von Tatsachen - und auch wir messen diesen Szenen, weil wir es von schwarzweißen Bildern so gewohnt sind, dokumentarischen Wahrheitsgehalt bei, zumal sie mit tatsächlichen Dokumentaraufnahmen jener Zeit vermischt sind.
Oliver Stones Antwort: Der Mord an Kennedy war ein Coup d''etat, dirigiert von hochrangigen Militärs, ausgeführt von CIA-Agenten, Exilkubanern, Mafiosi. Ein Meisterstück dieser »faction«, dieser Mischung aus Fakten und Fiktion, ist eine Sequenz über Oswald am Tag des Attentats. Sie beweist die Unsinnigkeit der Befunde im Report der Warren-Kommission. Oswald, so Stone, war nicht völlig unschuldig, wie Garrison meinte, aber seine Rolle war nicht die des Todesschützen. Er wurde zum Tatort befohlen als Sündenbock.
Eingebetttet sind diese Einschübe, Einschüsse, leider in ein endloses Schlußplädoyer, denn der Film endet als Geschworenen-Drama, dort in New Orleans, wo er so mühsam begann. Doch dem Ankläger sitzen hier nicht die Generäle gegenüber, wie etwa am Schluß von Costa-Gavras'' Politthriller »Z«, sondern ein kleiner Seidentuch-Gauner namens Clay Shaw, den Garrison nicht überführen kann.
Wir begreifen den Prozeß gegen Clay Shaw als aufgedonnerte, cineastische Übersprunghandlung, und Costners Garrison marschiert denn auch entschlossen am Angeklagten vorbei ins Vage, in die Rhetorik, in den moralischen Appell. Er zitiert Hitler: »Je größer die Lügen, desto mehr Menschen folgen ihr.« Er fährt schwere Geschütze auf. Er sagt: »Es liegt an euch, die Wahrheit herauszufinden«, und Costner schaut dabei zu den Geschworenen hinüber, ins Publikum, in die Kamera, zu uns, die wir plötzlich in einem Capra-Film der vierziger Jahre sitzen.
Oliver Stones Film ist ein Tier mit drei Köpfen. Da er auf das Gewicht echter Namen und beglaubigter Fakten nicht verzichten will, fehlt ihm die geschlossene Spannung, die spielerische, bösartige Brillanz von Verneuils Kennedy-Thriller »I wie Ikarus«. Für ein Dokudrama andererseits ist die Beweislage nach wie vor dünn. Aber wo, wenn nicht im Kino, darf sich die Behauptung als Tatsache aufspielen?
In all seiner Fragwürdigkeit ist der Film »JFK« ein aufregendes Dokument: Er spiegelt das gegenwärtige Amerika und das der sechziger Jahre. Spiegelt die Sehnsucht Hollywoods, aus der zerrissenen Gegenwart in alte Klischees zu flüchten. Spiegelt die Suche nach dem Guten und Wahren, das sich nicht mehr zusammenbasteln läßt. Er führt ein Trauma vor.
Vor allem aber weist er noch einmal hin auf den Skandal verschleppter Untersuchungen im Falle Kennedy, der auf dem Land lastet wie ein Fluch. Auf die Krake CIA, die nach der Auflösung des KGB den wahrscheinlich mächtigsten Bespitzelungsservice der Welt stellt. Und er weist auf die geheimen Kommandostrukturen im Pentagon hin, die seit jenen Tagen Politik machen. Im Untertitel heißt der Film: »Die Geschichte, die nicht enden will« .
Es muß gespenstisch gewesen sein: ein Regisseur, der 120 Stunden belichteten Film sichtet, der in einem Gebirge aus Zelluloid sitzt und irgendwann entdeckt, daß die Geschichte doch kein Oliver-Stone-Movie ist. Sondern daß sie komplizierter ist und die Helden nicht gerächt und die Schurken nicht bestraft werden können, ja daß gar nicht mal eindeutig auszumachen ist, wer zu den Guten und wer zu den Bösen gehört.
Als der Abspann läuft, erheben sich die Leute von Warner Brothers. Diesmal applaudieren sie nicht. Sie wirken, als seien sie drei Stunden lang von einer Lkw-Kolonne überrollt worden. Wie verkauft man so ein Monstrum?
Am nächsten Abend treffen sich alle zu einer Party im »Celestino« am Beverly Drive, einem extrem mondänen und daher extrem sparsam möblierten Italiener. Kevin Costner trägt seine Haare kurz - er hat seinen ersten Drehtag als Bodyguard hinter sich, den er in einem Film mit Whitney Houston verkörpert.
Oliver Stone hat am Vormittag in San Francisco ein neues Projekt mit Robin Williams besprochen. Das Fließband steht nicht still. Er wirkt wie ein Stahlarbeiter, der zwei Schichten hintereinander absolviert hat. »JFK«, sagt er, »war der Kampf meines Lebens.«
Noch einmal klärt er die Fronten: Die Journalisten, die ihn attackiert haben, sind »bezahlte CIA-Söldner«. Von der Kennedy-Familie, die sich distanziert hat, ist er »maßlos enttäuscht«. Die Botschaft seines Films? »Die Jugend in diesem Lande soll begreifen, daß der Kennedy-Mord ein Staatsstreich war, daß es Putschisten nicht nur in Moskau gibt.«
Er war der erste, der das ganze Attentat noch einmal nachstellte. »Es muß mehrere Schützen gegeben haben. Ich war bei der Infanterie, ich weiß, wovon ich rede - es war ein klassischer Hinterhalt.«
Mit dunkler Faszination erinnert er sich an die Dreharbeiten in Dallas. »Wir standen da oben an den Fenstern und haben hinuntergezielt.« Er schüttelt den Kopf. »Mein Gott, wir haben Kennedy an diesem Tag mindestens 30mal erschossen. Es war ein irres Gefühl. Wie ein Exorzismus.« o
* Michael R. Beschloss: »Powergame«. Kennedy und Chruschtschow, dieKrisenjahre, 1960 - 1963. Econ-Verlag, Düsseldorf, 1991; 776 Seiten;58 Mark.