Zur Ausgabe
Artikel 27 / 48

FERNSEHEN / Telemann DIE TOTEN SEELEN

aus DER SPIEGEL 30/1961

Daß im menschlichen Dasein alles Wichtige »durch Röhren getan« wird, hatte schon Georg Christoph Lichtenberg erkannt. Zum Exempel führte er die Schreibfeder, das Schießgewehr und eine Einzelheit der männlichen Anatomie an. Wir Spätergeborenen dürfen ergänzend zufügen: das Fernsehprogramm.

Welche Bedeutung, ja Lebensnotwendigkeit gerade diesem Röhrenprodukt eignet, läßt sich an den Emotionen derer ablesen, die des Tele-Genusses nur in spärlichem Maße oder in unerwünschter Weise teilhaftig werden.

Da beklagte sich unlängst der Deutsche Hausfrauen-Bund (150 000 Mitglieder) darüber, daß die Hüterin des bundesrepublikanischen Herdes vom Fernsehen »stiefmütterlich behandelt« werde, und forderte die Gründung einer TV-Frauenhochschule, mit den Lehrfächern Babypflege, Kindererziehung, Gymnastik, Körperpflege, Kosmetik, Rechtsfragen des Alltags. Marktforschung und Innenarchitektur.

Da bekundeten 340 von 350 befragten Münchner Hausfrauen, daß die wenigen Sendungen, die sich mit ewigweiblichen, Obliegenheiten befassen, zu jener ungünstigen Stunde (17 bis 18 Uhr) stattfänden, wo es den heimkehrenden Gatten zu begrüßen oder die Schulaufgaben der Kinder zu überwachen gelte.

Und da forderte die Industriegewerkschaft Metall, das Fernsehen solle doch für die 255 000 Eisen- und Stahlarbeiter, die in Wechselschichten schlafen und daher nicht regelmäßig zuschauen können, die wichtigsten Abendsendungen ("Tagesschau«, »wertvolle Kulturprogramme") am folgenden Vormittag zwischen 10.30 und 12.30 Uhr wiederholen. Woraufhin der evangelische Pressedienst »Kirche und Fernsehen« auch der Branchen »Bergbau und Energie«, »Druck und Papier«, des Gaststätten- und Hotelgewerbes, des Verkehrswesens, der Krankenpflege, der Polizei, der Versorgungsbetriebe und schließlich der Theater-Garderobefrauen und Kino-Platzanweiserinnen statistisch gedachte. Endsumme aller, die da geistig brachliegen: 700 000 Seelen.

Noch zaudert die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten, den Vormittag zur Hausschuhzeit zu machen; ungeachtet des Umstands, daß der Deutsche Fernsehfunk (Ost) seit längerem ein »Spätarbeiterprogramm« (10 bis 13 Uhr) gen Äther schickt. Noch jammert sie, daß sie zuwenig Geld und Personal habe. Aber im September soll ja ohnehin das Versuchs-Schulfernsehen anheben, und da wird es ihr auf ein paar Vormittagsstunden nicht mehr ankommen. Zumal doch auch die 250 Peter-von -Zahn-Darbietungen, zu denen sich der Westdeutsche Rundfunk verpflichtet hat, irgendwie untergebracht werden müssen, sollen die Feature -Abteilungen anderer Stationen nicht jahrelang der Muße pflegen.

Noch ein Kurzes mithin, und das ganztägige Fernsehen, wie es in höher zivilisierten Ländern längst der Brauch ist, wird auch bei uns statthaben.

Und das ist gut so. Liegt doch schon genügend Ungerechtigkeit darin, daß der TV-Konsument nicht beide Abendprogramme 'auf einmal wahrnehmen kann oder daß Kinder, die nachmittags schwimmen gehen, die Abenteuer des Hundes »Lassie« versäumen müssen.

Wenn jedoch allerwärts Forderungen erhoben werden, warum nicht noch einen Schritt weiter tun und der vollkommenen, der lückenlosen Television das Wort reden - und zwar zugunsten eines Zuschauerteils, der sich weder gewerkschaftlicher noch kirchlicher Stützung erfreut?

Telemann möchte sich zum Fürsprech jener Minderheit aufschwingen, die an akuten oder chronischen Schlafstörungen (Agrypnie) leidet: Melancholiker, Examenskandidaten, bangende Ehefrauen, Mißbraucher von Genußmitteln, dazu die stattliche Anzahl derer, die zum Abendbrot Schweres gegessen haben.

Sie alle müssen bis heute eingebildete Schafe zählen, Zuckerwasser trinken, feuchte Wadenwickel machen oder, wenn all dies nichts fruchtet; sich schmökernd auf dem Lager wälzen.

Hier könnte das Deutsche Fernsehen leicht Abhilfe schaffen, indem es von 23 Uhr bis, sagen wir, 7 Uhr ein Nichtschläfer-Spätprogramm aussendet. Wobei es sich ungeheuer günstig trifft, daß die IG Metall ja nur die wertvollen und wichtigen TV -Beiträge wiederholt haben möchte.

Die Sendeleitung hätte also, bevor sie nach Hause geht, das Sehenswerte beiseite zu legen und alles übrige, zwecks Wiederausstrahlung, einem Sozialrentner anzuvertrauen, der sich ein bißchen was nebenher verdienen will. Auf solche Weise blieben die Unkosten gering, und es würde endlich auch das weniger wichtige TV-Schaffen gewürdigt werden können.

Ob die Zahl der im Bundesgebiet lebenden Schlaflosen den Aufwand rechtfertigen würde?

Nun, wenn IG Metall und evangelischer Pressedienst rechnerisch unterstellen, daß es nahezu einem Achtel aller Abonnenten jahraus, jahrein am Nötigsten, dem TV -Programm, gebricht (statt sich zu sagen, daß es ja licht immer dieselben 700 000 sind, die da Nachtdienste leisten), und wenn es, um begreifliche Sonderwünsche in himmelschreiende Notstände zu wandeln, nur einiger Statistik bedarf, dann will auch Telemann seiner Forderung Gewicht verleihen:

Nach gewissenhaften Erhebungen beträgt die Zahl seiner schlaflosen Schützlinge je Nacht 1 934 561. Bitte nachzuzählen.

Merke: »Und fuße nicht auf dem, wovon du kein Wissen hast (Koran, 17).

telemann
Zur Ausgabe
Artikel 27 / 48
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren